Seite schließen  
Download als PDF   Als book on demand bei amazon bestellen

 

"Wir haben keine Heimat mehr...."

 

 

Felix Mendelssohn Bartholdy oder eine

Geschichte kulturellen Antisemitismus im

Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts

 

 

Ein Essay von Rainer Hauptmann

Mit einem Vorwort von Herrn Dr. Gottfried Wagner

 

 


 

Für Gundula, Sandra, Natalie, Uwe, Tina,

Daniel +, Georg, Petra, Paul

und mein liebes Mom,

 

 

Frau Anita Hauptmann, + 2008,

 

 


 

Felix Mendelssohn Bartholdy in der Jetzt-Zeit, die „causa Mendelssohn“ – von der

Aktualität eines verdrängten Komponisten – Gedanken zu Rainer Hauptmanns Essay

Wir haben keine Heimat mehr …“ Felix Mendelssohn Bartholdy oder eine Geschichte

kulturellen Antisemitismus in Deutschland des 19.und 20.Jahrhunderts

 

Der Verbleib von Person und Werk Felix Mendelssohns ist im Bewusstsein des heutigen

Publikums eher fragwürdig, denn man war, wie der hier vorgelegte Essay von Rainer

Hauptmann im Einzelnen darlegt, nach Kräften bemüht ihn und seine Musik zu

verdrängen und zu verfälschen.

 

Die „Causa Mendelssohn „ war die Vernichtung Mendelssohns, die Verdrängung und

Zerstörung des gesamten Oeuvres und Lebens eines einstmals angesehenen

Komponisten. Sie war ein Verbrechen kultureller Art und reiht sich nahtlos in allgemeine

antisemitische Bestrebungen und Geschehnisse ein, welche sich in letzter Konsequenz

bis zur Vollführung des Holocaust entwickeln sollten. Wer sind die Schuldigen an

diesem Verbrechen, wer waren die Täter? Und wo sind die Zeugen?

 

Die Zeugen werden hier der Reihe nach zu Worte kommen, einer nach dem Anderen.

 

Der Name Richard Wagner wird im Verlaufe dieses fiktiven Verfahrens genannt. Viele

fragen sich: Richard Wagner hat doch wundervolle Opern geschrieben und ist doch

somit eine Säule des heutigen Musiklebens. Was hat Richard Wagner mit

Antisemitismus und Felix Mendelssohn zu tun? Wie sich im Verlaufe des fiktiven

Gerichtsverfahrens herausstellen wird, verkörpert die Person Richard Wagners eine

Hauptrolle im Bestreben, Mendelssohn zu vernichten, ja, er muss dabei als ein

Haupttäter gelten.

 

Richard Wagner ist schuldig an einer Stigmatisierung der Person und des Angedenkens

Felix Mendelssohns, seine Schriften stellten eine Art führend wirksame Sprachregelung

im negativen antisemitischen Umgang mit Mendelssohn dar, welche in ihrer

Verunglimpfung, aber auch in ihrer Mechanik, in ihrem Automatismus bis in unsere Zeit

wirksam bleibt. Richard Wagner war ein antisemitischer Titan, dessen Schriften in

Deutschland und in Gesamteuropa und weltweit exzeptionell gelesen wurden. Sein

musikalisches Werk ist in prominenter Art und Weise von antisemitischen, inhumanen

Gedanken und Empfindungen durchzogen. Ungebrochen widmet man ihm bis in unsere

Zeit weihevolle Festspiele, welche von der aktuellen politischen, gesellschaftlichen und

kulturellen Elite zur Selbsterhöhung rauschhaft frequentiert werden.

 

Welches Anrecht hat man sein Werk auf deutschen und europäischen Bühnen

bedenkenlos bis heute aufzuführen, besonders an der Bayreuther Wagner Kultstätte?

Die Bayreuther Festspielbühne müsste Aufführungen der Mendelssohnschen Oratorien

und jene der Opern des, gleichfalls von Wagner bis ins Mark geschädigten jüdischen

Komponisten Giacomo Meyerbeer, erfahren, somit eine Konfrontation von Täter und

Opfer auf gleicher Augenhöhe stattfinden. Ohne eine klare Absage von der

antisemitischen Aura stellen die Aufführungen unkommentierter Opern Wagner eine

Beleidigung jener Opfer dar, welche vom Wagnerschen Antisemitismus unmittelbar oder

im weiteren Verlaufe geschädigt wurde.

Das offene Publikum wird im Verlaufe des fiktiven Verfahrens auf die Schönheit der

Mendelssohnschen Musik aufmerksam und die Anhörung ideeller Zeugen bewirken die

Erkenntnis, dass Wagner Unrecht hatte in seiner Behauptung, die Musik Mendelssohns

habe keinen Wert , denn sie beweist, sagt uns damals wie heute das Gegenteil.

 


 

Ohne Mendelssohn ist die Musikgeschichte des 19.Jahrhunderts undenkbar. Der

vorgelegte Text in Form eines fiktiven Prozesses gegen Verunglimpfung des

Komponisten ist ein mutiges Engagement für Mendelssohn und andere Verfolgte.

Hauptmann zeigt leidenschaftlich den aktuellen Wert, die Zeitlosigkeit der Gefühle und

Bewegungen dieser Musik für uns heute auf.

 

Er gibt so seine ehrliche Erkenntnis über die einzigartige musikgeschichtliche

Bedeutung Mendelssohn weiter. Ich wünsche seinem Essay daher viele sensible Leser

und Leserinnen.

 

Gottfried Wagner, Cerro Maggiore, den 27.Juni 2012

 


 

Inhalt

 

 

Vorrede (S. 1)

 

1. Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne einKünstler würde (S. 3)

 

2. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude (S. 7)

 

Intermezzo I: Laß ihm auch den irdischen Lohn werden! (S. 16)

 

3. Der größte lebende Komponist (S. 17)

 

4. Antisemitismus (S. 19)

 

5. Das Judenthum in der Musik (S. 20)

 

6. Ein antisemitischer Eklektizist (S. 27)

 

7. Eine exzeptionell exclusive Menschen-Race (S. 29)

 

8. Von der Neudeutschen Schule (S. 33)

 

9. Von der musikalischen Wahrheit (S. 36)

 

10. Der letzte Deutsche (S. 43

 

11. Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemerenleben... (S. 49)

 

Intermezzo II: "Felix, thust du nichts?!" (S. 50)

 

12. Von der E-Musik und der U-Musik (S. 51)

 

13. Der schönste Zwischenfall der Deutschen Musik (S. 55)

 

14. Geschmacksgefährliche Lieder und Duette (S. 57)

 

15. Denkmäler (S. 57)

 

16. Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier... (S. 61)

 

17. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut... (S. 61)

 

18. Eine Lanze für Felix Mendelssohn (S. 66)

 

19. Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur (S. 67)

 

Intermezzo III: und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre" im Gewandhaus (S. 69)

 

20. Nur in einem Abstand zu nennen (S. 71)

 

21. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten! (S. 73)

 

22. Eine grosse Lösung (S. 78)

 

23. Auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen (S. 88)

 

24. Alles, alles wurde dem Juden zugesprochen (S. 98)

 

Intermezzo IV: die "Hohe Schule" I: Kulturelle Neuordnung nicht nur fürEuropa, sondern für die Welt (S. 102)

 

25. Das Lexikon der Juden in der Musik (S. 103)

 

26. und das Benehmen Mendelssohns, das er als Director angesehen werdenwolle (S. 105)

 

Intermezzo V: Juden bleiben Juden oder von den Ehetagebüchern des RobertSchumann (S. 106)

 

27. Denkmalspflege; nationalsozialistisch (S. 108)

 

28. Ein nordischer "Sommernachtstraum" (S. 113)

 

29. Von bajuwarischen "Sommernachtsträumen" (S. 123)

 

Intermezzo VI: Die "Hohe Schule" II oder "Musik in Geschichte und Gegenwart" (S. 128)

 

30. Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette... (S. 134)

 

Intermezzo VII: Vom deutschen Hausbuche (S. 141)

 

31. Der Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeitoder vom Ende der "zeitlosen" Zeit (S. 142)

 

Intermezzo VIII: Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind (S. 146)

 

32. Grenzen in der Bedeutung dieser Musik (S. 151)

 

33. Sein Platz nach Beethoven und Brahms ist ehrenvoll genug (S. 152)

 

34. Diese Musik wurde ermordet I (S. 153)

 

35. Das erreichbare Höchstmaß an Glätte und Ausgeglichenheit... (S. 154)

 

36. Philosoph. Musici: vom Gewandhausdirecteur Moses Mendelssohn (S. 155)

 

37. Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei unbestritten (S. 159)

 

38. Wie ist eine derartige Geringschätzung im Umgang mit einem dochbedeutenden Komponisten überhaupt möglich? (S. 160)

 

39./ 40. Diese Musik wurde ermordet II/ Die Mendelssohn-Falle (S. 163/165)

 


 

Vorrede

 

 

Als Felix Mendelssohn Bartholdy im November 1847 unerwartet starb, hielt das

öffentliche Leben in den Musikstädten Europas und der Neuen Welt erschüttert inne.

Der Tod eines grossen zeitgenössischen Meisters wurde als tragischer, unersetzlicher

Verlust empfunden. Nun ist das Lebensgefühl der Menschen, welche vor mehr als 150

Jahren lebten, nicht per se auf die heutige Zeit zu übertragen. Somit muss uns Musik,

welche die Empfindungen unserer Vorfahren aufs trefflichste reflektierte, nicht

zwangsläufig bewegen.

 

Andererseits erhebt sich die Frage: Auch Schubert, Beethoven, Mozart lebten vor 150 –

200 Jahren, und verliehen den Zeitläuften in politischer, kultureller und emotionaler

Hinsicht musikalisch Ausdruck. Auch sie wurden von der Öffentlichkeit oder dem

unmittelbaren persönlichen Wirkungskreis als Herolde zeitnah humanen Empfindens

gewürdigt. Das ist im Falle der letztgenannten auch so geblieben.

 

Im Falle Felix Mendelssohn Bartholdys hingegen muss plädiert werden, muss im

Zweifelsfalle eine Verbindung der 40ziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu unserer Zeit

und unserer Sichtweise nachträglich, quasi synthetisch wiederhergestellt werden. Allein,

die publizistische Darlegung der Gegenwartsrelevanz von Musik, der Musik Felix

Mendelssohns beispielsweise, ist wiederum ein schwieriges, möglicherweise

vergebliches Geschäft. Das Plädoyer sollte auf musikalischem Wege erfolgen.

 

Um aber zum Mindesten Nachweis zu führen, was einstmals unzweifelhaft bestanden,

allzu lange verschüttet und nachhaltiger zurückzugewinnen wäre: die Einschätzung

Mendelssohns als bedeutenden Meisters der europäischen Musikgeschichte, mögen

zu Beginn der Geisteswissenschaftler Hans Mayer und danach der Komponist Robert

Schumann zu Worte kommen:

 

“Mendelssohn hat in einem ganz ungewöhnlichen Sinne alle damals bekannten

Traditionen deutscher Musik verkörpert und in sich zusammengefasst. Er hat sie durch

seine eigenen Schöpfungen und Erkenntnisse erweitert und weitergereicht. (...) Man

kann die Behauptung wagen, daß durch Felix Mendelssohn, gerade in seinem Leipziger

Wirken, nicht nur die Strukturen unseres heutigen Musiklebens festgelegt wurden,

sondern daß es erst durch ihn (...) auch für uns heutige möglich wurde, die Musik und

die musikalische Entwicklung als einen überschaubaren historischen Prozess zu

interpretieren. Auch die Musikgeschichte ist nicht denkbar ohne Leipzig und Johann

Sebastian Bach, ohne Mendelssohn und Philipp Spitta". (Hans Mayer "Der Widerruf"

Frankfurt 1994)

 

Im Juni 1848 musste Franz Liszt im Salon des Hauses Schumann ein deutliches Wort

über sich ergehen lassen:

 

„Meyerbeer ist ein Wicht gegen Mendelssohn, letzterer ein Künstler, der nicht nur in

Leipzig, sondern für die ganze Welt gewirkt hat. Herr, wer sind Sie, daß Sie über einen

Meister wie Mendelssohn so reden dürfen!“ (zitiert nach Walter Dahms, Robert

Schumann)

 

1

 

 


 

In einem Brief an den Weimarer Komponisten legt Schumann im darauf folgenden Jahre

begütigend nach:

 

„Und wahrlich, sie waren doch nicht so übel, die in Leipzig beisammen waren –

Mendelssohn, Hiller, Bennett u. a. – mit den Parisern, Wienern, Berlinern, konnten wir

es ebenfalls auch aufnehmen.“ (zitiert nach Walter Dahms, Robert Schumann)

 

Auch die letzten verbrieften Worte Robert Schumanns, aus Endenich an Clara gerichtet,

bevor er vollends in geistiger Umnachtung verharrte, galten dem toten Leipziger Meister:

 

"Die Zeichnung von Felix Mendelssohn hab ich beigelegt, dass Du sie doch ins Album

legtest. Ein unschätzbares Andenken! Leb wohl. Du Liebe! Dein Robert". (zitiert nach

Walter Dahms, Robert Schumann)

 

Sprachliche Präzision, Schlichtheit des Ausdrucks und feinsinniger Intellekt prägen die

Ausführungen des Geisteswissenschaftlers; Engagement, ja Hingabe die Worte des

Künstlers. Beide kommen jedoch zum gleichen Resümee: Bekenntnis der originären

Stellung Felix Mendelssohn Bartholdys innerhalb der Musik des 19. Jahrhunderts. Den

Musikfreunden unserer Zeit erscheint dieselbe ja sicher auch unzweifelhaft

festgeschrieben, in der eigentlichen musikalischen Wortmeldung aber ist sie abseits

weniger hochpopulärer Zugstücke des klassischen Repertoires bislang eher

schemenhaft wahrzunehmen.

 

Das literarische Engagement Schumanns, Mayers, Heinrich Eduard Jacobs, Georg

Kneplers, Karl-Heinz Köhlers, Eric Werners, Arnd Richters; das explizite Engagement

der Dirigenten Otto Klemperer, Kurt Masur, Peter Gülke u. a. galten auch der

Rückbesinnung auf eine zentrale Epoche der bürgerlichen Musikgeschichte: den Jahren

1835 – 47. In jenen Jahren wirkte Mendelssohn am Gewandhaus als Komponist und

Dirigent und reformierte die deutsche Musik nachhaltig.

 

Mendelssohn etablierte im Gewandhaus zu Leipzig die grosse Philharmonische

Gesellschaft, das eigenständig zelebrierte symphonische Konzert, als wichtigste

Institution wachsenden bürgerlichen Kulturbewusstseins. Darüber hinaus wirkte er

maßgeblich auf gesellschaftliche Akzeptanz des Orchestermusikers als Repräsentanten

neuerstehenden philharmonischen Berufsstandes hin.

 

Er öffnete das Gewandhaus, ästhetischer Vorbehalte eigenen musikalischen

Empfindens gegenüber den Avantgardismen mancher Partitur ungeachtet, den

Komponisten Berlioz, Cherubini, Chopin, David, Gade, Hiller, Liszt, Moscheles, Rossini,

Schumann, Spohr, Wagner und sorgte somit durch Aufbau und Pflege zeitgenössischen

Repertoires für eingehendere Beachtung neuer Musik.

 

Das gewaltige Instrumental-und Sakralwerk des Komponisten und Thomaskantors

Johann Sebastian Bach galt Fachleuten im frühen 19. Jahrhundert als Studienobjekt

musikalischer Formvollendung, aber hoffnungslos antiquiert, "unmelodisch, berechnend,

trocken und unverständlich im Publicum bekannt" (Ludwig Devrient, Meine

Erinnerungen an F. M. B. und seine Briefe an mich, Leipzig 1869); ja als unaufführbar.

 

2

 

 


 

Die Musik Bachs und anderer Meister der Barockzeit und Klassik wurde durch

Mendelssohns Initiative Aufsehen erregender Neueinstudierungen der

"Matthäuspassion" nach beinahe 100 Jahren des Vergessens und "Historischer

Konzerte" im Gewandhaus dem zeitgenössischen Musikleben nachdrücklich ins

Bewusstsein gerufen.

 

Der zeitgenössische Musikbetrieb war vor Mendelssohns Wirken in Leipzig ja vorrangig

auf Präsentation von Neuschöpfungen interpretierender Komponisten ausgerichtet. Die

Wiederaufführungen der Bachschen "Matthäus-Passion" und die "Historischen

Konzerte" fungierten somit als Synonym historischen Gewissens, als Exempel

progressiven Übergangs zu "stetiger Produktion neuer und Reproduktion nicht mehr

"neuer" Musik" (fr. n. Mayer)

 

Felix Mendelssohn engagierte sich beharrlich für das Vorhaben, dem musikalischen

Nachwuchs über traditionelle Angebote von Singschulen und Ratsmusiken hinaus an

einer, den Instituten europäischer Musikzentren vergleichbaren Musikbildungsstätte ein

umfassendes Studium zu ermöglichen. 1843 vermochte er es, unterstützt von

Musikverlegern, Gelehrten und Komponisten, in Leipzig das erste deutsche

Konservatorium im Hochschulrange ins Leben zu rufen. Persönlichkeiten der

Musikgeschichte -darunter die Komponisten Albeniz, Bruch, Delius, Eduard Grieg, Leos

Janacek, Svendsen und Miklos Rozsa -erwarben dort die Grundlagen späteren

Ruhms.

 

Diese Initiative der "Begründung eines neuen (...) gemeinnützigen vaterländischen

Institutes" (Testat Dr. Heinrich Blümners 1839) der Tonkunst lebt fort in der "Hochschule

für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy" in Leipzig, welche weiterhin jungen

Menschen aller Nationalität zum Studium von Musik und darstellender Kunst in Theorie

und Praxis offen steht.

 

1. Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein Künstlerwürde

“Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung

seine Söhne nicht beschneiden lassen und erzieht sie, wie sich´s gehört; es wäre

wirklich einmal eppes Rores (etwas Rares), wenn aus einem Judensohne ein Künstler

würde.” Mit solchen Worten irritierenden Wohlwollens bereitete der Berliner Komponist

Karl Friedrich Zelter den greisen Geheimen Rat Johann Wolfgang von Goethe in

Weimar in seinem Brief vom 26. Oktober 1821 auf den Besuch eines 12 jährigen

musikalischen Wunderkindes aus dem Hause Mendelssohn vor. Die rhetorisch mit allen

Attributen von Aussergewöhnlichkeit beladene, letztendlich aber ergebnislos

verbliebene Gleichung der Konstanten Jude, Taufe, Judensohn und Künstler verrät

nicht, ob es sich um den Ausdruck einer ehrlich empfundenen Hoffnung oder um

Anmaßung handelt.

 

Dessen ungeachtet erlag Zelter jedoch der Versuchung, mit der Feststellung vom

Künstlertum aus jüdischem Hause als einer Causa von wahrhaft eppes rorer Art, die

jüdische Sprechweise dezidiert zu karikieren.

 

3

 

 


 

“Hepp-hepp-hepp! Judenjunge!” rief ein debiles preußisches Fürstenkind den 10jährigen

Felix Mendelssohn und die 14jährige Fanny auf den Strassen Berlins an, bevor er ihm

ins Gesicht spie. „Hepp-Hepp! Judenjung! schrieen Straßenkinder in dem Küstenort

Dobberan an der Ostsee den beiden entgegen, bevor sie sich aufs sie warfen.

Heldenhaft und gleichmütig befreite er die Schwester aus der bedrohlichen Situation;

sicher geleitete er sie heim – erst dort trieben Zorn und Scham ihm die Tränen heraus.

 

Im Jahre 1812 erließ König Friedrich Wilhelm III. von Preussen auf Anraten des

Staatsministers Karl August von Hardenberg ein Emanzipationsgesetz. Es sollte Juden

die preussische Staatsbürgerschaft gewähren und den lediglich vereinzelt an

herausragende Persönlichkeiten öffentlichen Lebens vergebenen würdelosen Status

der “Schutzjudenschaft” ersetzten.

 

“Gelingt es nicht, die Juden zur Taufe zu bewegen, dann bleibt nur eins: sie gewaltsam

auszurotten!” (zitiert nach Arndt Richter, Felix Mendelssohn) empfahl indessen der

Berliner Historiker und Historiograph des Preussischen Staates Friedrich Rühs im Jahre

1814. Er reflektiert so die wahrhaftig vorherrschende öffentliche Meinung gegenüber

gleichgestellten jüdischen Bürgern.

 

Auf volkstümlicherer Ebene erregte zeitgleich die Aufführung der antisemitischen Posse

"Unser Verkehr" auf einer Berliner Bühne Aufsehen, welche die jüdische Lebensweise

zum Gespött zu machen suchte. Die Posse agitierte somit gegen das Hardenbergsche

Unterfangen, Juden zu preußischen Staatsbürgern zu machen. Autor war der Breslauer

Augenarzt Karl Sessa. Die Aufführungen von "Unser Verkehr" lösten Unruhen unter den

Zuschauern aus; als der Berliner Komödiant A. A. Ferdinand Wurm sich auf der Bühne

über die jüdischen Speisegesetze und den jüdischen Widerwillen Schweinefleisch

gegenüber mokierte, wurde das Publikum gar handgreiflich gegen ihn. Flugblätter mit

Aufrufen wie "Dass du in "Unserm Verkehr" die Juden verspottest, die Ursach, sie

begreift sich so leicht: bist du selbst doch ein Schwein" straften Autor und Akteure ab.

 

Dennoch verfehlte die Populär-Komödie nicht ihre Wirkung auf breitere Schichten

"gesunden Volksempfindens". In der Berliner Bevölkerung wurde somit die Forderung

erhoben, jüdischen Freiwilligen im Preußischen Abwehrkampf gegen Napoleon künftig

den Erhalt des Eisernen Kreuzes zu verweigern und ihnen vielmehr ein großes

Geldstück an die Kopfbedeckung zu heften.

 

Nicht zuletzt die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dominante

romantische Bewegung, altdeutschen, ja mittelalterlich paraphrasierten sowie

christlichen Idealen huldigend, zählte zu den erklärten Gegnern staatsbürgerlicher

Judenemanzipation. Berüchtigt in diesem Zusammenhang waren „Christlich-Deutsche“,

oder „Christlich-Germanische-Tischgesellschaften“, welche die hochrangigen Literaten

Achim von Arnim und Clemens Brentano, sowie der Publizist Adam Müller in Berlin

unterhielten.

 

4

 

 


 

Während Rang und Namen gesellschaftlichen Lebens in Berlin, Persönlichkeiten wie

Carl von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte, Savigny, Heinrich von Kleist, der

preussische Staatsrat Sägemann, Karl Friedrich Zelter sowie die Fürsten von

Lichnowsky und Radziwill, den Salon des Hauses von Arnim/ Brentano regulär

frequentierten, war Juden nebst Franzosen und Philistern die Teilnahme an den

"Tischgeselligkeiten" und "deutschen Fressgesellschaften" satzungsgemäß verwehrt....)

 

Die Romantiker lehnten jedwede Bestrebung zur Realisierung moderner Ökonomie strikt

ab und sahen die Juden als treibende Kraft derselben an. Daher standen letztere im

Zentrum übler Satiren und „Judenscherze“ der „Tischgesellschaften“. Bettina von Arnim

schliesslich wandte sich vom Treiben Ihres Bruders und Ehemannes angewidert ab.

 

Allein für den Zeitraum des Jahres 1815 bis 1850 lassen sich 2500 Manifeste, welche

die vermeintliche Judenfrage im Für und Wieder thematisierten, nachweisen.

 

Letztere eröffnen bereits den ganzen Katalog vertrauter antisemitischer Demagogie

des Kaiserreichs und des 20. Jahrhunderts. Das Spektrum reicht von der

Zwangsassimilierung durch christliche Taufe, der „Veredelung“ und Bekehrung mithilfe

religiös-moralischer Vereine, über Seuchen-und Ungeziefermetaphorik, Betrachtungen

hinsichtlich Sexualamputation, Ausweisung, Austreibung, Deportation nach Palästina bis

hin zu Völkermordphantasien.

 

Der seinerzeit viel rezipierte nationalistische Publizist und Dichter Ernst Moritz Arndt,

der im 20. Jahrhundert vom rassebiologisch grundiertem Wahn des deutschen

Nationalsozialismus als dessen "Vordenker" gefeiert wurde, konstatierte im Jahre 1814,

das dass Volk der Deutschen es durch alle Zeiten vermocht habe, nicht zu

"verbastarde(n), keine Mischlinge geworden" zu sein. Über Jahrtausende hinweg sei es

vielmehr auf seiner "Urerde" rassisch "rein" geblieben. Nunmehr allerdings, führt Arndt

des weiteren aus, sei das "germanische Wesen im höchsten Maße durch das

Voranrücken der Franzosen und der Juden bedroht, welche letztere mit dem

Prosperieren von "Ungeziefer" zu vergleichen sei. “Verflucht aber seien die Humanität

und der Kosmopolitismus, womit ihr prahlet! Jener allweltliche Judensinn, den ihr uns

preist als den höchsten Gipfel menschlicher Bildung." schliesst Arndt.

 

Der berühmte Zeitgenosse Freiherr vom Stein attestierte Arndt denn auch eine

"Hühnerhundnase zum Aufwittern des verschiedenen Blutes". Arndt forderte die

Unterbindung der Zuwanderung ausländischer Juden mit allen Mitteln sowie die

Verwehrung des vollen Bürgerrechtes für die deutschen Juden und "getauften

Judengenossen“. Arndt plädiert im Gegenzug vielmehr für das "Aufgehen"

alteingesessener deutscher Juden vermittels vollständiger Aufgabe der jüdischen

Religion und Kultur und Amalgamierung mit der christlich-germanischen Umwelt. Das

Verschwinden des "verdorbenen und entarteten" jüdischen Idioms wäre, Arndt zufolge,

durch Konvertierung zum Christentum nach 3 Generationen somit möglich.

 

Neben Friedrich Rühs trat auch der Heidelberger Philosoph und Professor Jacob

Friedrich Fries als Demagoge antisemitischer Vernichtungsphantasien hervor. In einem

1816 unter dem Titel: „Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der

Deutschen durch die Juden“ veröffentlichten Pamphlet erging sich Fries in

übersteigerten Gewaltmetaphern. In einem 1816 unter dem Titel: „Über die Gefährdung

des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“ veröffentlichten

Pamphlet erging sich Fries in übersteigerten Gewaltmetaphern

 

5

 

 


 

Er und forderte: „Denkt nur an ihr Schicksal in Spanien, wie es dort allem Volke zur

Freude wurde, sie zu tausenden auf den Scheiterhaufen brennen zu sehen, wie sie dort

die Regierung (...) samt und sonders zum Lande hinausjagen musste. Fragt doch

einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber

und Brotdiebe hasst und verflucht“

 

Im Zenit fremdenfeindlich-menschenverachtender Ereiferungen aber stehen die

Gewaltpathologien des Radikaldemagogen Hartwig von Hundt-Radowsky: Im

"Judenspiegel -ein Schand-und Sittengemälde alter und neuer Zeit" aus dem Jahre

1819 regte er u. a. dazu an, die deutschen Juden den Engländern als Arbeitssklaven für

die indischen Kolonien anzudienen. Neben der Zwangsarbeit auf den weitläufigen

Pflanzungen, erböte sich des weitern die Deportation in die Erzminen. Von Natur aus

über „ein herrliches Spürorgan für alle edeln Metalle und Steine“ verfügend, wäre eine

Tätigkeit dort, - sicherheitsverwahrt von „geheimen Polizeispionen" - gewinnträchtig.

 

Die männlichen Juden wären sämtlich zu kastrieren, die Frauen hingegen in „gewisse

weibliche Erziehungsinstitutionen“ genannte Bordelle zu verbringen um dort den

Machthabern gefügig zu sein. Hundt-Radowsky stellt in Schriften wie dem

"Judenspiegel" oder der 1822/23 in der Schweiz erschienen "Judenschule" des weiteren

hanebüchen-menschenverachtende Behauptungen über das Wesen der jüdischen

"Rasse" auf:

 

"Der Teufel ist barmherziger als ein Jude". Von Geburt an eigen sei den Juden auch

"ihr specifischer Geruch, den sie sich durch ihre unnatürlichen Laster, als ein Allen

gemeinschaftliches Erbgut, erworben haben." (...) "Eine...Annäherung oder

Verschmelzung würde für jedes nichtjüdische Volk ein gänzliches physisches und

sittliches Verderben zur Folge haben. (...) Was Grosses, Erhabenes und Göttliches an

seinem (Jesu Christi) Leben und seinen Handlungen war, das können die Juden,

welche ihn verfolgten und kreuzigten, nicht für sich anführen."

 

Des Weiteren ergeht sich Hundt-Radowsky in Gewaltphantasien und -forderungen

hinsichtlich der vollständigen Austreibung und Vernichtung des jüdischen Volkes. Seine

Schriften zählen somit zu den unmittelbaren Anfängen eines eliminatorischen

Antisemitismus und nehmen dabei die deutsche Rassenpolitik und Judenvernichtung im

 

20. Jahrhundert; die Geschehnisse des "III. Reiches" rhetorisch nahezu deckungsgleich

vorweg. Der Historiker Peter Fasel schreibt bzw. zitiert dazu in der Wochenzeitung "Die

Zeit" vom 22. Januar 2004" in seinem Aufsatz "Vordenker des Holocaust":

"Die Juden müssen, daran lässt er keinen Zweifel, vollständig eliminiert werden. (...)

Am besten wäre es jedoch, (anstelle eines Verkaufs an die Engländer, welche Hundt-

Radowsky wenig später als missliebige "weiße Juden" brandmarken sollte, Anmk. d.

Verf.) man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer".

 

Die Juden sollten, das wäre Hund-Radovsky offenbar am liebsten gewesen, nach

Abhaltung eines Tribunals ("ein peinliches Gericht") umgebracht werden. Oder aber,

man verfrachte sie, vollständig enteignet, auf türkisches Gebiet, wo sie in

unausweichlichen Kämpfen mit den Muslimen "vielleicht ganz (...) von der Erde vertilgt

würden", ohne dass man sich selber die Finger schmutzig machen müsse!

 

Durch die in Aarau entstandene Theorie vom "Weißen" Juden (im Gegensatz zum

"echten", "schwarzen" Juden, zu welchem Hundt-Radowsky auch die Zigeuner zählte,

also einem, Hundt-Radowsky und seiner deutschen Leserschaft missliebiger Europäer,

Anm. d. Verf.) wird das antisemitische Wahnsystem komplett."

 

6

 

 


 

Hundt-Radowsky verneint in seinen Schriften vehement die Möglichkeit, die Juden

vermittels Taufe "verbessern" zu können. "Wer einen Juden tauft, der brennt der Sau

nur ein anderes Zeichen auf den Hintern" schreibt der Demagoge. Die jüdischen

"Schädlinge" blieben, Hundt-Radowsky zufolge, ihrem "zutiefst verderbten Charakter ewig

und unwandelbar gleich, was auch passiert, (...) bis sie endlich durch ein

furchtbares Erdbeben von unten auf erschüttert und verschlungen werden". " (zit. n.

Fasel

 

Der Judenspiegel wurde im Herbst des Jahres 1819 in Schwarzburg-Sonderhausen,

einem damaligen thüringischen Kleinstaat, vom Verleger Bernhard Friedrich Voigt

herausgegeben. Anstelle des waren Namens Joachim Hartwig von Hundt-Radowsky

firmierte das Pseudonym Christian Schlagehart als Autor des Werkes. Das Buch erfuhr

innerhalb von 3 Wochen zwei Auflagen von insgesamt 10 000 Exemplaren.

 

Der "Judenspiegel" wurde in Bayern und Preussen mit der Begründung einer Störung

konfessionellen Friedens indiziert; Hundt-Radowsky sah sich als Volksverhetzer

polizeilicher Verfolgung ausgesetzt. In Baden-Württemberg hingegen stand die Presse-

und Meinungsfreiheit konstitutionell über dem Verfassungsrang konfessioneller

Unversehrtheit, so daß die Schriften Hundt-Radowskys dort weiterhin publiziert wurden

und wo der Judenspiegel in Reutlingen, Cannstadt und, gekürzt, in Ulm Neuauflagen

erfuhr. Noch im Jahre 1848 erlebte das Pamphlet eine Wiederauflage unter dem Titel

"Die Naturgeschichte der Juden", welche in Wien herausgebracht wurde.

 

Die 3bändigen Folgeschriften "Die Judenschule oder gründliche Anleitung, in kurzer

Zeit ein vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden", welche mit 1160 Seiten

zu den umfangreichsten antisemitischen Pamphleten überhaupt zählt, erschien im Jahre

1822/23 in Aarau im Schweizer Exil Hundt-Radowskys. Auch dieses Werk erfuhr eine im

Jahre 1830 wiederum in Reutlingen herausgegebene Wiederauflage, welche unter dem

Titel "Die Juden wie sie waren, wie sie sind und wie sie seyn werden" erschien.

 

2. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude

Zahlreiche jüdische Familien in Deutschland konvertierten zu Beginn des 19.

Jahrhunderts zum Christentum. Sie folgten darin einer weithin verbreiteten Interpretation

von Lehren der Aufklärer Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, religiöse

Fragen dem Prinzip der reinen Vernunft; die Orthodoxie der Vorstellung eines

konfessionsübergreifenden Deismus anheimzugeben und erklärten sich somit bereit, an

der bestehenden christlichen Mehrheitsgesellschaft teilzunehmen.

 

(Dieser zeitgenössischen Interpretation der Schriften Moses Mendelssohns entgegen,

weigerte sich der Philosoph entschieden, selbst zum Christentum zu konvertieren und

wandte sich öffentlich gegen eine derartige Auslegung seiner Lehren, Anmk. d. Verf.)

 

Andere entschlossen sich zu diesem Schritt, um sich vor den bedrohlichen

Folgeerscheinungen eines National-Fanatismus, zu schützen, den der Kantschüler

Johann Gottlieb Fichte ab etwa 1790 propagierte.

 

7

 

 


 

“Germanomanie”; eine Philosophie elaborierten Nationalbewusstseins. Diese griff, in

Ermangelung der Realität geeinter deutscher Nation auf Elemente wie “teutsches

Volkstum” und “germanisches Christentum” als alleingültige Fundamente imaginierten

deutschen Vaterlandes zurück. Die Hepp-Hepp-Unruhen, (nach der populären

Strassen-und Gewaltparole "Hepp! Hepp!! Hepp!!! Aller Juden Tod und Verderben! Ihr

müsst fliehen oder sterben!", Anmk. d. Verf.) welche im Jahre 1819, von der

fränkischen Residenzstadt Würzburg ausgehend, in Deutschland und europäischen

Nachbarstaaten Gewaltakte gegen jüdische Ansiedlungen und Bürger bedingten,

nahmen zahlreiche jüdische Familienvorstände denn auch als eindringliche Warnung

auf.

 

“Man kann einer gedrückten, verfolgten Religion getreu bleiben; man kann sie seinen

Kindern als eine Anwartschaft auf ein sich das Leben hindurch verlängerndes Martyrium

aufzwingen -solange man sie für die Alleinseligmachende hält. Aber sowie man dies

nicht mehr glaubt, ist es eine Barbarei. -Ich würde rathen, daß Du den Namen

Mendelssohn Bartholdy zur Unterscheidung von den übrigen Mendelssohns annimmst.”

 

Die Worte Jacob Salomons, Felix Onkel väterlicherseits, bestärkten die Eltern in dem

Schritt, ihre Kinder Fanny und Rebekka, Felix und Paul im Jahre 1816 protestantisch

taufen zu lassen. Lea und Abraham Mendelssohn folgten den Kindern erst im Jahre

1822 darin.

 

Im Jahre 1830 gemahnte der Vater, welcher sich hellsichtig gegenüber eines

zunehmend judenfeindlichen gesellschaftlichen Klimas, nurmehr Abraham M. Bartholdy

nannte, eindringlichst:

 

„Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heißen. Du musst Dich also Felix

Bartholdy nennen. Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig wie einen jüdischen

Konfuzius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude, und das taugt Dir nicht,

schon allein, weil es nicht wahr ist.“

 

Der bereits zu Berühmtheit gelangte Felix folgte dem Rat Abrahams dennoch nicht. Der

Sohn, dem Vater in allem übrigen ehrerbietig gehorsam, widersetze sich dies eine Mal.

 

Obgleich ein tiefgläubiger Protestant, war es ihm ausgeschlossen, die familiäre

Tradition und Identität zu negieren. Es kam schliesslich zu der Übereinkunft, künftig

beide Namen, parallel, gleichberechtigt einander gegenüberstehend; unverbunden zu

nennen. Als Synonym einerseits für das familiäre Erbe und den Schritt in die von

Abraham imaginierte Gewissheit potentieller bourgeoiser Geborgenheit andererseits. Im

übrigen hatten die gepflegte Diffamie Carl Friedrich Zelters, dass Hepp-Hepp-

Judenjung! -Geschrei, welches Felix und Fanny allenthalben entgegenschlug, also die

beharrliche Ansprache eines Stigmas jüdischer Geburt Felix hinlänglich bewiesen: die

bürgerlich-christliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beabsichtigte keineswegs,

Juden, ob getauft oder nicht, dauerhaft und gleichrangig in Ihre Reihen aufzunehmen.

 

Die falsche Schreibweise Felix Mendelssohn-Bartholdy bezeugt somit die

Ahnungslosigkeit oder gar Bedenkenlosigkeit bezüglich diffiziler jüdisch-deutscher

Befindlichkeiten. Oder schlimmer noch: es verbürgt das allgemein gepflogene

antisemitisch bedingte Bestreben, den Schritt der Mendelssohns in die protestantisch

geprägte Bürgerlichkeit nachhaltig zu negieren. Oder vielmehr, einen auch nicht durch

den Versuch der Namensangleichung überbrückbaren Makel jüdischer Geburt, die

Zugehörigkeit Mendelssohns zur jüdischen "Rasse" als untilgbares Stigma ein für

allemal festzuschreiben.

 

8

 

 


 

Dennoch bekannte sich Felix Mendelssohn Bartholdy uneingeschränkt zu den

kulturellen und historischen Traditionen, der anthropologischen Bewusstheit seines

deutschen Heimatlandes.

 

Abraham Mendelssohn ließ seine Kinder durchaus im Geiste kosmopolitischer Bildung

erziehen und gestattete dem musikalisch bewunderten Jüngling Felix ausgedehnte

Bildungsreisen durch die Kulturnationen Europas. Dieser ging, nachdem Cherubini am

Conservatoire de Paris die Begabung des Jungen geprüft und dem Vater die unbedingte

Befähigung zu zukünftiger musikalischer Profession attestierte, daran, zu prüfen, ob ihm

die europäischen Kulturzentren möglicherweise ebenfalls eine musikalische Heimat zu

finden ermöglichten.

 

Das Ergebnis stand im Jahre 1832 endgültig fest. Noch aus Paris teilt er es zu

Jahresbeginn seinem Mentor Carl-Friedrich Zelter mit:

 

"Wenn ich...nur von den Hauptpuncten meiner Reise Ihnen hätte schreiben wollen, so

hätte ich es eigentlich aus Deutschland thun müssen. Denn wie ich jetzt nach alle den

Schönheiten, die ich in Italien und der Schweiz genossen hatte,...wieder nach

Deutschland kam, und namentlich bei der Reise über Stuttgart, Heidelberg, Frankfurt,

den Rhein herunter nach Düsseldorf, da merkte ich, daß ich ein Deutscher sey und in

Deutschland wohnen wolle...."

 

Einerseits beharrte er auf seinem jüdischen Geburtsnamen und der Bewusstheit seines

jüdischen Großvaters, andererseits aber registrierte er die allgemein um sich greifende

Verketzerung staatsbürgerlicher Habilitation deutscher Juden wachsam.

 

Somit erfüllte ihn das Bekenntnis zu diesem seinem Heimatlande unausgesetzt mit

Befürchtungen. Und so schliesst besagtes Schreiben mit der Erwägung, zukünftig ja

immer noch von den Möglichkeiten europäischer Musikzentren Gebrauch machen zu

können, wenn denn: „die Leute mich einmal in Deutschland nirgend mehr haben wollen,

dann bleibt mir die Fremde immer noch, wo es dem Fremden leichter wird, aber ich

hoffe, ich werde es nicht brauchen.“

 

Dieser Wunsch zumindest wurde Felix Mendelssohn in Persona erfüllt. Wie es mit der

Verankerung des Felix Mendelssohn Bartholdy in Heimat und Fremde insgesamt; der

Ein-oder Ausbürgerung des „historischen Augenblicks“ Felix Mendelssohn (Hans

Mayer) bestellt bliebe, an dieser Stelle zu resümieren, hieße vorzugreifen.

 

Bereits zu Lebzeiten fiel der Komponist und spätere Gewandhauskapellmeister Kritik

anheim, welche sich nicht an der musikalischen Leistung, sondern an der jüdischen

Abstammung Mendelssohns entzündete.

 

Als im Jahre 1833 nach dem Tode Carl Friedrich Zelters die Nachfolge in der Leitung

der Berliner Singakademie zur Wahl stand, votierten 152 Mitglieder für den musikalisch

als farblos überlieferten Kandidaten Carl Friedrich Rungenhagen und 88 für den

Kandidaten Felix Mendelssohn. Obgleich dieser im Jahre 1829 die Akademie mit der

Wiederaufführung der Matthäuspassion zu einem Musikereignis höchsten Ranges

führte, erhoben sich innerhalb derselben Rumor wie: "...die Singakademie sei, durch

ihre fast ausschließliche Beschäftigung mit geistlicher Musik, ein christliches Institut, es

sei darum unerhört, daß man ihr einen Judenjungen zum Director aufreden wolle".

(zitiert nach Eduard Devrient) "Sie wollten ihn halt nicht haben, den Judenjungen!"

konstatiert Hans Mayer im Rückblick auf die Vorgänge der Berliner Chorwahl und

Mendelssohns Demission vom Amte des Musikdirektors der Stadt Düsseldorf.

 

9

 

 


 

Das Votum gegen einen Chordirektor Felix Mendelssohn kann auch als gezielter, sublim

antisemitisch motivierter Affront gegen die Familie Mendelssohn interpretiert werden.

Diese war personell innerhalb des Chores zahlreich vertreten und trat darüber hinaus

als Mäzen der Akademie auf; nach der Brüskierung Felix zogen sich die Mendelssohns

vollständig von der Singakademie zurück.

 

Manfred Blumner, der Direktor späterer Jahre, führt hingegen zur Rechtfertigung des

damaligen Wahlgeschehens heran: "...daß es vielen, namentlich älteren Mitgliedern

Bedenken erregen musste, einem 23 jährigen Jünglinge an eine soviel persönliches

Ansehen erfordernde Stelle (...) zu berufen" und "ahnten doch viele noch nicht seine

ganze nachhaltige Größe und Bedeutung." (Berlin 1891) Auch von Intrigen, einer

"unappetitlichen Rolle" der "raffgierigen" Doris Zelter (die Tochter Carl-Friedrich Zelters)

und erheblichen Kabalen um die Direktionsnachfolge ist die Rede.

 

In Rückerinnerung an die Tage sensationell wiedererweckter Matthäuspassion im

Frühjahr des Jahres 1829 berichtet Devrient weiter, das Felix nächtens mitten auf dem

Opernplatz stehen bleibend, übermütig rief "daß es ein Komödiant und ein Judenjunge

sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen!"

 

Es verweist auf die immens zutagetretende Fähigkeit des Jünglings, sowohl die

unausgesetzt diffuse staatsbürgerliche und soziale Situation als auch das vertraut-

inkriminierende „Judenjungen! Attribut zeitweilig ironisch zu kommentieren.

 

Die literarisch-politisch agierende "Jungdeutsche Bewegung" der 30ssiger und 40ziger

Jahre des 19. Jahrhunderts; dieser gehörten u. a. die Literaten Heinrich Laube, Georg

Büchner, Karl Gutzkow, Theodor Mundt, Ludwig Börne und Heinrich Heine an,

kultivierte neben liberalen, föderalistischen und revolutionären Forderungen auch

erhebliche antisemitische Ressentiments. So sahen sich studentische und publizistische

Aktivisten in den eigenen Reihen wie die Konvertiten Heinrich Heine und Ludwig Börne

stetiger Diffamierung ausgesetzt; wurden beispielsweise als „jungpalästinensich“

verhöhnt.

 

In den Jahren 1835 und 1841 wurde die Familie Mendelssohn zum unmittelbaren Objekt

antisemitisch intendierter Intrigen. Diese hätten in der Folgewirkung beinahe zu

Handgreiflichkeiten Felix Mendelssohns gegen den nachrangigen, den Kreisen der

Zelter-Familie zugehörigen Publizisten Riemer, und somit zu einem Eklat geführt.

 

Prof. Friedrich Wilhelm Riemer, ein Studienrat und Adept Johann Wolfgang von

Goethes veröffentlichte im Jahre 1841 Reminiszenzen an den Dichterfürsten unter dem

Titel: „Mitteilungen über Goethe“. Als Herausgeber des Goetheschen Nachlasses

provozierte Riemer aber bereits im Jahre 1835 mit der indiskreten Publikation der

unzensierten, die Belange zahlreicher lebender Personen wie die Mendelssohns

nunmehr der Öffentlichkeit preisgebenden Korrespondenz des Goethe-Altersfreundes

Zelter.

 

Darunter befand sich auch jenes berüchtigte, bereits Eingangs zitierte Schreiben vom

Judensohne und den Künstlern. Fanny und Felix Mendelssohn brachen, quasi als sie

erfuhren, wie Zelter in Wahrheit über die Mendelssohns, die Juden oder beides im

Zusammenhang dachte, daraufhin auch in der Erinnerung mit dem einstmals verehrten

und geliebten Lehrer. Die innerfamiliäre Erregung angesichts der Affäre,

Beschuldigungen hinsichtlich semitischer Machenschaften, mit welchen Riemer das

Haus Mendelssohn überzog, führten möglicherweise zum unerwarteten Tod Abraham

Mendelssohns durch einen Schlaganfall am 19. November 1835.

 

10

 

 


 

Doris Zelter, die einstmals unter der Protektion Abraham Mendelssohns stehende

Tochter C. F. Zelters, wurde als intrigant, altjüngferlich und verbittert überliefert. Als Co-

Initiatorin der Publikation des Goethe-Zelterschen Nachlasses, kommentierte sie den

Vorgang in einem an Riemer gerichteten Schreiben verständnislos, aber mit abfälligem

Unterton:

 

„Was nun die Persönlichkeit Zelters anbetrifft, so habe ich mir die ganze Synagoge auf

den Hals geladen, und ich glaube kaum, daß der alte Tempel das Klagegeschrei und

Gequatsche aushält (...) Mendelssohns benehmen sich wunderlich genug“

 

In seinen nunmehr im Jahre 1841 herausgegebenen „Mitteilungen über Goethe“ nutzte

Riemer indes das potentielle öffentliche Interesse am Sujet offenkundig zur Rhetorik in

eigener Sache sowie zu aggressiver antijudaischer Agitation. In Kapiteln wie jenem,

„Juden“ übertitelten, sind Ausfälle gegen assimilierte ehemalige Juden wie Abraham,

Fanny und Felix Mendelssohn zu lesen:

 

"Das Prinzip, aus dem die ganze (jüdische) Nation hervorgegangen, aus dem sie

gehandelt hat...ist indelibel; man denke also nicht Mohren Weiß zu waschen, auch dank

der christlichen Taufe nicht, wie man etwa im Mittelalter den foetor judaicus (den

Judengestank) dadurch zu tilgen glaubte...“

 

Des Weiteren griff Riemer demonstrativ auch die Abraham-Mendelssohn-Affäre des

Jahres 1835 wieder auf. Eingangs verhöhnte er das Angedenken des Verstorbenen mit

Phrasen, welche im Geiste dezidierter persönlicher Entwürdigung auf den Assimilierten-

Status anspielten:

 

"Möge indessen der gute Schwiegerpapa (d. i.: Abraham Mendelssohn) sich durch das,

was Börne und Heine (sic!) über Goethe vor den Augen des ganzen Deutschlands

ausgegossen, zu seiner Satisfaktion mitgerächt, oder, wie man sagt, mitgerochen

haben!“

 

Schwerwiegender erwiesen sich die erneut vorgebrachten Vorwürfe semitischer

Zensurbestrebungen seitens der Familie Mendelssohn. Riemer behauptete in den

„Mitteilungen“ Abraham Mendelssohn habe ihn seinerzeit als Herausgeber der Zelter-

Goetheschen Korrespondenz vermittels anonymen Schreibens unter Druck setzen

wollen, unvorteilhafte Äußerungen des Dichterfürsten über die künstlerischen

Fähigkeiten Wilhelm Hensels; Fannys Bräutigam, zu unterschlagen.

 

Wie wir aus einem Schreiben des Komponisten vom 3. Juli 1841 an den Bruder Paul

Mendelssohn wissen, erregte sich Felix Mendelssohn über „eine so lieblose, mich

empörende Weise“, in welcher Riemer „über Vater gespöttelt und hergezogen“ sei in

hohem Maße.

 

Er erwog allem Anschein nach ernstlich, dem Angedenken des Vaters durch einen

öffentlichkeitswirksamen Ohrfeigenauftritt Riemer gegenüber, Genugtuung zu

verschaffen. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Gewandhauskonzerte, Conrad

Schleinitz, brachte den bereits zu hohem Ruhme und Ansehen gelangten Kapellmeister

seines Hauses aber „ernstlich und besorgt“ von diesem Unterfangen ab.

 

11

 

 


 

Mendelssohn schrieb dem Bruder des Weiteren:

 

„Lies übrigens das ganze Capitel „Juden“ aus, um den Mann gehörig kennen zu lernen.

Ich weiss wohl, dass der selige Vater mirs zum Gesetz gemacht hat, in keiner Weise

von gedruckten Angriffen Notiz zu nehmen...aber dass einer den Namen unseres

verstorbenen Vaters und unserer Ahnen auf so elende Art missbraucht, daß kann und

darf ich nicht ungeahndet lassen.“

 

In einer Rezension der Ballade Ahasver des Dresdner Dramatikers Julius Mosen (dieser

hatte sich vor allem durch ein Rienzi-Drama namhaft gemacht, welches parallel zur 5aktigen

Erfolgsoper Richard Wagners entstand) aus dem Jahre 1838 dozierte Karl

Gutzkow u. a. über vermeintlich semitische Grundwesenszüge der Titelfigur. Des

Weiteren sprach er sich vehement gegen Bestrebungen staatsbürgerlicher Habilitation

von Juden aus:

 

„Ahasver ist der Jude in seinem nichtigen Materialismus (...), ist der Jude in alledem,

was ihn von dem Berufe, an der Geschichte teilzunehmen, ausgeschlossen hat, der

Jude gerade in seiner Missionsunfähigkeit. Er ist das Schlechte am Judentum, das

Lieblose, Parteiische, Hämische, Zersetzende, er ist gerade alles das, was noch immer

die Emanzipation am meisten verhindert.“

 

Im gleichen Zeitraum artikulierte sich erhebliches antisemitisches Ressentiment seitens

junghegelianischer Philosophen und Frühsozialisten. Letztere vor allem stellten die

Juden ins Zentrum radikalökonomischer Kapitalismuskritik und bezogen sich dabei auf

das tradierte Klischee des Schacherers. Wortführer sozialistischen Antisemitismus

waren Bruno Bauer, Arnold Ruge und Karl Marx. In der Publikation Judenfrage stellt

Bruno Bauer im Jahre 1842 dem Programm staatsbürgerlicher Habilitation die

Forderung entgegen, das die Juden sich vor dem Vollzug bürgerlicher Emanzipation

erst zu „Menschen“ zu emanzipieren, also ihr konfessionelles Bekenntnis aufzugeben

hätten. Karl Marx paraphrasierte die Bauerschen Thesen im Herbst des Jahres 1843

bereits im Titel des Essays "Zur Judenfrage" und wiederholt darin sowohl die

einschlägigen Stereotypen des berechnenden Finanz-und Machtjuden als auch die

frühsozialistische These der Emanzipation, der Erlösung des Menschen aller

Konfessionen von der Macht und Faszination des Geldes. Marx schrieb also:

 

„Welches ist der weltliche Grund des Judentums: (...) der "Eigennutz". Welches ist der

weltliche Kultus des Juden ? Der "Schacher". (...) sein weltlicher Gott? Das "Geld". (...)

Die Emanzipation vom "Schacher "und vom "Geld", also vom praktischen, realen

Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. (...) Die "Judenemanzipation" in

ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation des Menschen vom "Judentum".

 

Eine Gegnerschaft ganz eigener Art erwuchs den Mendelssohns indes in der Person

und Lehre des in jenen Tagen im Pariser Exil lebenden und wirkenden Dichters

Heinrich Heine. Jener, welcher bereits im Jahre 1825 vom Judentum zum Christentum

konvertiert war; sich somit das „Entréebilllet“ zu der, den Juden seinerzeit

verschlossenen europäischen Kultur verschaffte hatte, bereute diesen Schritt ein Leben

lang, gab sich somit zwiespältigen, zwischen Judentum und Christentum

widerstreitenden Empfindungen und allgemeinen Vorwürfen hin.

 

12

 

 


 

Umso schärfer als er selbst unter diesem Zustande leiden sollte, beobachtete er von

Paris aus das Walten und Gebaren anderer Konvertiten wie Ludwig Börne und Felix

Mendelssohn. Eifersüchtig gewahrte er die erklärte, ihm selbst verwehrte, vollgültige

Hingabe und Hinwendung Mendelssohns zum protestantischen Glauben. In einem Akt

von Selbsthass beargwöhnte Heine dabei eine, Mendelssohn unterstellte,

hyperkritische evangelische Christianisierung des Konvertiten, welche sich auch beredt

im Werk (Vertonung biblischer Texte und Psalmen) Ausdruck verschaffte.

 

In jener episch-satirischen Dichtung, welche Heine dem verlorenen, aus politischen

Gründen zwangsweise gemiedenen Vaterlande widmete und welche eben darum

„Deutschland – ein Wintermärchen“ heißt, führt Heine einen deftigen, spöttischen

Seitenhieb auf den gefeierten, zeitgenössischen Komponisten, Es heißt also darum in

Caput XVI, Vers21-24: „

 

„Der Abraham hat mit Lea erzeugt; ein Bübchen, Felix heißt er, er hatte es weit im

Christentum, Ist schon Kapellmeister...“

 

Im Jahre 1842 schreibt Heinrich Heine über Mendelssohn und beschwört einen Konflikt

heraus zwischen dem praktisch-musikalisch angewandten Christentum von Felix

Mendelssohn und jenes Giaccino Rossinis, welche sich doch bei einem Treffen in

Frankfurt am Main im Jahre 1836 persönlich, sehr gut verstanden hatten. Dabei

vergleicht Heine das in der „Stabat Mater“ zum Ausdruck gebrachte Christentum

Rossinis als symbolisches, machtvolles Apeninnengebirge mit jenem in Mendelssohn

Oratorium „Paulus“, welches lediglich die Ausmaße eines kümmerlichen Hügels bei

Berlin annähme.

 

Und so steht in der Pariser Zeitschrift „Lutetia“, erschienen in der Mitte des Monats

April 1842: (Erstveröffentlichung in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, in englisch

zitiert in dem und entnommen dem Aufsatz „1848, anti-Semitism, and the Mendelssohn

Reception“ von Donald Mintz) anlässlich einer religiösen Prozession in dem Ort Sète

südlich von Montpellier:

 

Accordingly, the greatest artists in music as in painting have sought to decorate the

overhelming horrors of the Passion with as many flowers as possible and to ameliorate

the bloody seriousness with playfull tenderness – and this is what Rossini did, when he

composed his “Stabat Mater”. (...) I find the „Stabat „ by Rossini more truly Christian

than „St. Paul“, the Oratorio by Felix Mendelssohn-Bartholdy that is praised by Rossinis

opponents as a model of Christianity. (...) I wish to civil about the christianity of the

aforementioned oratorio, because Felix Mendelssohn-Bartholdy is by birth a Jew. But I

cannot avoid indicating that at the age at wich Herr Mendelssohn adopted Christianity –

he was baptised in his thirteenth year – Rossini had already left it and had plunged into

the Secularity of the operatic world. (...) In the same series of concerts we heard the „St.

Paul” of Herr Felix Mendelssohn-Bartholdy, who by this propinquity drew our attention to

him and himself called forth the comparison with Rossini. In the view of the great public,

this comparison in no way come out to the advantage of our young countryman. It is as

if compared the Apennines with the Templower Hill in Berlin. (..)

 

Dabei behauptet Heine hartnäckig, dass Felix Mendelssohn im 13. Lebensjahre

evangelisch getauft wurde. In Wahrheit fand die Taufe Felix Mendelssohns bereits im

Jahre 1816, also in einem Alter von 7 Jahren statt.

 

13

 

 


 

In der Zeitung “Lutetia”, im Anhang: Musikalische Saison von 1844 – Erster Bericht;

Paris, vom 25. April 1844 referiert Heine über Mendelssohns Stil und seine Ästhetik,

spricht dem Komponisten aber die Fähigkeit zu dramatischer Komposition und zu

musikalischer Ergriffenheit durch sein Wirken vollständig ab. Dies Vorurteil sollte in

wenigen späteren Jahren wieder aufgegriffen und publiziert werden. Heinrich Heine

nimmt also eine Vorreiterfunktion der später um sich greifenden Mendelssohn-Ächtung

an.

 

Es steht also in der „Lutetia, 1844“:

 

“Mendelssohn always offers us the occasion to consider the highest Problems of

aesthetics, that is, he always brings up the great question: What is the difference art and

falsehood? In the case of this master, we admire especially his great talent for forms, for

stylistics, his talent for making the most extraordinary his own, his charmingly beautiful

writing, his tenderly filing horns and his serious – I might almost say passionate –

indifference. If we look for a parallel phenomena in a sister art we shall find it in literature

and it is called Ludwig Tieck. This master too knew how to reproduce the most

advantageous qualities, whether in writing or declaiming, and he even understood how

to manufacture the naive; yet he never produced anything that moved the masses and

remained lively in their hearts. The more talented Mendelssohn would more likely

succeed in creating something lasting, but not on the territory where truth, in spite of his

most intense wishes never brought off a real dramatic contribution”.

 

In der Ausgabe der "Neuen Zeitung für Musik" ("NZfM") in Leipzig vom 1. März 1846

agitierte die Meissner Schriftstellerin Louise Otto (1819-95) in einem Artikel namens

"Parteien -Cliquen" gegen den Gewandhausdirektor und Komponisten Felix

Mendelssohn. Ohne ihn namentlich zu nennen, stellte sie in anspielungsreicher

Beschreibung dessen umfangreiches lokales und überregionales Musikengagement als

reaktionäre Egomanen-, Cliquen-und Adeptenwirtschaft dar. Obgleich sich Louise Otto

in der Attacke auf Felix Mendelssohn offenkundiger judenfeindlichen Attribute enthielt,

umriss sie beispielhaft einen zentralen Aspekt antisemitischen Demagogie. Es sollte

wenig später ganz unmittelbar zum Ausdruck kommen und bis in die rassenbiologisch

ausgeprägte Rhetorik des Nationalsozialismus unverändert gebräuchlich sein: der

vermeintliche Hang und die Fähigkeit "des Juden", sich vermittels Cliquenwesens

Vorteile, Einfluss, Beherrschung und Vormacht gar in Kultur und Gesellschaft zu

verschaffen. In der "NZfM" behauptet Luise Otto also:

 

" (...) die einen halten eigensinnig fest an dem Bestehenden, und möchten, daß immer

Alles so bliebe, wie es gerade ist -so stehen sie in der Mitte zwischen denen, welche

nur am Vergangenen sich erfreuen...und denen, welche das Dagewesene nur als

Grundlage wollen gelten lassen, darauf das Neue aufzubauen, dem die Zukunft gehören

soll. (...)

 

Da ist z. B. ein berühmter Componist, ein Kapellmeister, der organisiert sich aus den

Mitgliedern der Kapelle ein förmliches Hülfschor, um nicht nur seine Kompositionen,

sondern auch seinen Ruf und Namen hinausklingen zu lassen in alle Welt, und nur was

diesem Zwecke dient, darf von der Kapelle geschehen. (...)

 

Die jüngeren Talente finden dann weder Anerkennung noch Ermunterung, es sei denn,

daß sie eifrige Bewunderer des Meisters sind und in seinen Fußstapfen ihm nachtreten,

ohne sich je beikommen zu lassen, einen anderen Weg zu gehen (...)

 

14

 

 


 

Untergeordneten Talenten bleibt vielleicht...gar nichts anderes übrig, als irgend einer

solchen machthabenden Persönlichkeit sich zu unterwerfen und nach deren Gutdünken

sich brauchen zu lassen. Solche und ähnliche Vereinigungen sind Cliquen und keine

Parteien. (...)

 

Der somit als eigensüchtig und reaktionär dargestellten "Clique" stellt die Autorin in der

Folge die Idealvereinigung einer "Partei" hochherzig Gleichgesinnter gegenüber. In

eindeutiger Bezugnahme auf Mendelssohns Bemühungen um nachhaltigen Rückgewinn

des Bachschen Werkes umreißt sie vorab die Entwicklung eines zielstrebig geschürten

"Parteienstreites". Dieser sollte wenige Jahre darauf zum Ausbruch kommen und die

deutsche Musikwelt bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges bewegen. Wie sich noch zu

zeigen wird, hatte die "Neue Zeitung für Musik" im Benehmen eines maßgeblich tätigen

publizistischen Aggressors an den künftigen Geschehnissen erheblich Anteil und

bereitete demselben in Pamphleten wie diesem offenkundig die ideologische Grundlage.

 

Luise Otto führt also des Weiteren aus:

 

"Diejenigen, welche dem neueren Zeitbewusstsein huldigen, welche an den Fortschritt,

an die nothwendige Weiterbildung der Kunst glauben, welche nicht in die Redensart der

Kurzsichtigen einstimmen, als sei Alles, was zu erreichen möglich ist, erreicht durch die

grossen Leistungen der alten Meister(...)“

 

Alle diejenigen sollten sich durch festeres Zusammenhalten mit den Gleichgesinnten

sich gewissermaßen als Fortschrittspartei organisieren, "um so leichter der ungleich

stärkeren Schar derer entgegenzutreten, welche von keinem Vorwärts etwas wissen

wollen (...) Diese Leute, welche nie von der Stelle wegzubringen sind, (...) halten (...),

weil sie an gar kein Weitergehen denken, also auch keine verschiedenen Wege

einschlagen können, weit einmüthiger zusammen, als die Freunde des Fortschritts, da

es viele Wege gibt, welche weiterführen".

 

Im November des Jahres 1846 unterstellte das "Leipziger Tagblatt" Mendelssohn als

Uraufführungsdirigenten von Robert Schumanns 2. Symphony in einer anonym

verfassten Rezension diffuse ”mosaische” Interessen. Er habe im Verlaufe des

Premierenkonzertes -dem begeisterten Drängen des Publikums nachgebend -seine

fulminante Interpretation der vorangestellten Rossini-Ouvertüre "Wilhelm-Tell"

demonstrativ wiederholt, bestrebt, die Uraufführung des Werkes eines deutschen

Komponisten zu diskreditieren.

 

Der Anwurf verleugnet gezielt 2 wesentliche Umstände: die gängige zeitgenössische

Konzertpraxis: d. h. Wiederholung von Darbietungen auf Akklamation hin; des weiteren

die freundschaftlich kollegiale Beziehung zwischen Schumann und Mendelssohn.

 

Wenige Abhandlungen Schumanns/ Mendelssohns erwähnen diese anonym

veröffentlichte, mit antisemitischem Affekt aufgeladene Rezension im Leipziger

Tagblatt. Er findet sich mehr oder weniger ausführlich dargestellt lediglich bei Eric

Werner, Walter Dahms und dem neuen Clara & Robert Schumann-Buch von Wolfgang

Held.

 

Die Zielgenauigkeit solcherart Infamie, beweist die heftige Erregtheit Mendelssohns in

Kenntnisnahme des Anwurfs. Er verweigerte inständig die musikalische Leitung der B-

Premiere des Werkes und künftig jedweder Aufführung einer Schumann-Komposition.

 

15

 

 


 

Nur dem gütlichen Einwirken Cécile Mendelssohns und der als Gast im Hause

Mendelssohn weilenden Clara Schumann war es geschuldet, daß das B-Konzert am

16.11.1846 planmäßig durchgeführt wurde.

 

Genannter Anwurf bezeugt vielmehr nachhaltigen publizistischen Einfluss

Jungdeutscher Aktivisten im Vorfeld der Revolution von 1848. Studentische

Männerbünde als maßgebliche Träger des Revolutionsgedanken, geschult an Fichte,

von Hetzschriften Constantin Frantz und des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn

angeleitet, formierten das Nationalideal zunehmend in fanatischer Abgrenzung allem

vermeintlich undeutschem Einfluss gegenüber. Aber nicht die Präsenz europäischer

Nachbarstaaten, des romanischen oder slawischen Kulturraums etwa stand im Zentrum

„germanomanischen“ Eifers: er konzentrierte sich auf das vermeidlich Fremde im

eigenen Lande: den Juden.

 

Hochrangige Persönlichkeiten des öffentliche Lebens – exemplarisch für das

Hardenbergsche Ideal vollendeter staatsbürgerlicher Judenemanzipation stehend –

gezielt als „mosaisch“ herabzusetzen, galt demnach als das nationale Gebot.

 

Im Todesjahr Felix Mendelssohns beschwor der Literat Heinrich Laube in einer von

Konkurrenzneid motivierten Polemik gegen Giacomo Meyerbeer und dessen

vermeintliche „Berliner Juden-und Cliquenwirtschaft“ eine Gefahr kultureller

„Überjudung“ Deutschlands herauf. Im Vorwort der Erstauflage seines auf der Bühne

erfolglos gebliebenen Dramas "Struensee" argumentierte er folgendermaßen:

 

"Ein fremdes Element dringt neuerer Zeit überall in unsere Bahnen, auch in die der

Literatur. Dies ist das jüdische Element. Ich nenne es mit Betonung ein fremdes; denn

die Juden sind eine von uns total verschiedene orientalische Nation heute noch, wie sie

es vor zweitausend Jahren waren (...). Ein solches Etwas des fremden Judentums liegt

hier vor und schiebt sich zudringlich in die deutsche literarische Welt, wie denn jeder

Schriftsteller (...) mit Leichtigkeit (...) nachweisen könnte und (...) nachweisen sollte,

da(ß) der Überdrang des jüdischen Moments bedenklich wird für unsere nationalen

Eigenschaften. Dies Etwas ist hier eine bereits tief verzweigte Maxime des Berliner

Judentums (...) aus diesem Elemente des (...) Berliner Judentums im Besonderen

stammt die Taktik Herrn Meyerbeers.“

 

Die Parallelen zu der wenige Jahre später einsetzenden Debatte um eine

vermeintliche semitische Dominanz Mendelssohnscher und Meyerbeerscher

Kompositionen innerhalb der deutschen Musik sind unübersehbar. Der Zeitgeist

zunehmender Propaganda nachhaltiger Entfernung „semitischer Elaborate“ aus dem

kulturellen Kontext, der Bereinigung desselben vom Fremdelement wohnt den Worten

Laubes exemplarisch inne.

 

Intermezzo I: Laß ihm auch den irdischen Lohn werden!

 

Wenige Stunden vor Mendelssohns Tod, schrieb Ignaz Moscheles am Morgen des 4.

November 1847 im Hause Mendelssohn folgende Zeilen und lässt uns somit an einem

meditativen Moment intimster, gleichwohl vergeblicher Betrachtungen teilnehmen:

 

"Dir, o Schöpfer, ist es bewusst, warum Du in dieser Seele des Gemüts angehäuft hast,

die die zarte Hülle seines Körpers nur eine beschränkte Zeit zu tragen fähig ist (...). Kann

unser Flehen nicht diesen Menschen uns erhalten? - Dein Werk ist vollbracht. (...)

 

16

 

 


 

-Keiner ist Dir näher gekommen als er, für dessen Dasein wir zittern. -Laß ihm auch

den irdischen Lohn werden! Laß ihn die Liebe zu seiner Lebensgefährtin, die

Entwicklung seiner Kinder, die Bande der Freundschaft, die Verehrung der Welt

genießen!"

 

3. Der größte, lebende Komponist

Die New York Tribune vermeldete am 13. Dezember 1847 der musikinteressierten

Öffentlichkeit: "Am 4. November verschied Dr. Felix Mendelssohn Bartholdy – der

größte lebende Komponist – in seinem 38. Lebensjahr; (...) Dieser vorzeitige Tod, der

für die ganze musikalische Welt ein nicht wieder gut zu machender Verlust ist, wurde

durch eine Gehirnerkrankung verursacht und ohne Zweifel durch schwere geistige

Arbeit herbeigeführt. Seit 1835 lebte er in Leipzig, wo er (...) ein so lebhaftes und

vornehmes Verhalten in sich vereinigte, daß er die Herzen aller gewann... Wahrlich – in

ihm war ein hervorragender Geist...“

 

In jenen Zeiten war der Telegraph gerade erst erfunden, beschränkte sich dessen

Anwendung noch auf Kurzstreckenverbindungen von Landeshauptstädten.

Interkontinentale Informationen konnten also ausschließlich auf dem Seewege

weitervermittelt werden; so nahm der Postweg London – Neu Delhi noch 30 Tage in

Anspruch. Somit zeugt die Veröffentlichung eines Nachrufes auf Felix Mendelssohn

Bartholdy in einem führenden amerikanischen Presseorgan, nur 5 Wochen nach dessen

Tode veröffentlicht, von der grossen Wertschätzung des Genannten auch in den

Städten der Neuen Welt.

 

Eigentümlich im Vergleich dazu bzw. geradezu medioker nahmen sich die Umstände

aus, unter welchen die „Neue Zeitung für Musik“ ihre Leserschaft vom Tode des

Komponisten in Kenntnis setzte. Im Jahre 1835 von der Davidsbündlerschaft Robert

Schumanns in Leipzig gegründet, hatte sich diese über das Ausscheiden des Initiators

aus der Redaktion hinaus, zu einem führenden Organ des deutschen Musiklebens

entwickelt.

 

Die „NZFM“ erschien aktualitätsnah etwa alle 4 Tage und wurde den deutschlandweit

zeichnenden Abonnenten über örtliche Buchhändler zugestellt. Obwohl örtlich

unmittelbar präsent, schwieg sich das Musikorgan über 2 Nummern – die Ausgaben Nr.

38 vom 8.11.1847 und 39 vom 11.11.1847 -hinweg über den Verlust eines

hochrangigen zeitgenössischen Tonschöpfers aus. Erst 11 Tage später, nunmehr in der

Ausgabe Nr. 40 vom 15.11.1847 vermeldete die „NZFM“ den Tod Mendelssohn

Bartholdys unter Vermischtes.

 

Der etwa 1-spältige Artikel wird mit der lakonischen Verweis eingeleitet, daß ja: „der

grosse Verlust, den Leipzig und die Tonkunst der Gegenwart betroffen hat, (...) schon

allgemein bekannt geworden“ sei. Ohne sich -in welcher Weise auch immer -ästhetisch

wertend auf das Lebenswerk des Verstorbenen einzulassen, erschöpft sich die Meldung

in penibel vorgenommener Darstellung der Todesumstände und des

Leichenbegängnisses. Offenkundig am Gegenstande desinteressiert klingt der Artikel

folgendermaßen aus: Was die Kunst an ihm verloren, das brauchen wir hier, die wir ihm

stets mit wahrhaftem Interesse gefolgt sind, nicht auseinanderzusetzen.“

 

Ernst Kossacks Nachruf auf Mendelssohn – erschienen in der Neuen Berliner

Musikzeitung 1/45 (1847) listet befremdlicherweise die "Sommernachtstraum -Musik",

die Bühnenmusik für Antigone, und die Oratorien Paulus und Elias als Mendelssohns

bedeutsamste Werke auf.

 

17

 

 


 

Dese Listung als Vorrangigste Meisterwerke des Komponisten trägt der Bedeutung als

notwendige Gebrauchswerke jener tage Rechnung. Die beiden Schauspielmusiken

exklusive der "Sommernachtstraum"-Ouverture entstanden gar auf Bestellung also im

Auftrag des königlichen Preussischen Hofes. (Mendelssohns Bühnenmusiken und

Oratorien waren zu jener zeit bei Bühnen und den zahllosen Liebhaberchören der

Liedertafeln sehr begehrt. Das Publikum in der Mitte des 19. Jahrhunderts indes

betrachtete die Oper als höchste musikalische Kunstform. Kossack bezieht sich auf jene

Tatsache, indem er bedauernd schreibt, dass Mendelssohn nur gerade an seinem

Lebensende in der „höchsten Kunstform, der grossen tragischen Oper“ begonnen habe

zu wirken.

 

In den Nummern 45, 47 und 49 des Bandes 27 der „Neuen Zeitschrift für Musik“ aus

Leipzig vom Dezember des Jahres 1847 verübte Dr. Eduard Krüger einen

publizistischen Anschlag auf Mendelssohns Oratorium „Elias“ (Der Herausgeber des

Organs, Franz Brendel sah sich dabei genötigt, anhänglich sein bedauern darüber zum

Ausdruck zu bringen, dass jene Attacken so nahe am Tode des Komponisten geführt

wurden.) Krüger setzt sich dabei verbissen mit der originär-kritisch einhergehenden

Spekulation darüber auseinander, dass das Libretto indifferent in der dramaturgischen

Entwicklung sei Des Weiteren gibt der Publizist seine Behauptung zu bedenken, dass

die musikalische Charakterisierung es nicht ermögliche, zu erkennen, ob man jeweils

einem Engel, Propheten, König, einer Königin, Witwe, einem Baals-Chor oder einem

Fischer Gehör schenkt.

 

Wenige Monate nach Mendelssohns Tode bereits nahm die Wertschätzung des

Komponisten unter den musikalisch gebildeten Bürgern Leipzigs rapide ab, schwand der

öffentliche Zuspruch an Darbietungen seiner Musik im Gewandhause nachweislich.

 

Am 3. Februar 1848, zur Wiederkehr von Mendelssohns 39. Geburtstage, fand

daselbst – nunmehr unter Gades Leitung -die Leipziger Erstaufführung von

Mendelssohns letztem grossen vollendeten Vokalwerk, des Oratoriums "Elias" statt. In

Birmingham erlebte das Werk am 26. August 1846 die Uraufführung unter begeisterter

Anteilnahme von 2000 Zuhörern. Anders als in Gedächtniskonzerten des Werkes,

welche dem Gewandhausmemorial zeitgleich unter würdigeren Bedingungen in Berlin

stattfanden, stieß das Werk in der sächsischen Musikstadt auf vergleichsweise wenig

Interesse und Verständnis. Die örtliche Presse, ja bereits mehrfach im Benehmen

hervorgetreten, eine Abkehr öffentlicher Wertschätzung Mendelssohns herbeizuführen,

nahm den Vorgang sogleich als Bestätigung einer publizistisch konstatierter

Überschätzung und folgerichtiger allgemeiner Abkehr des Publikums vom ehemaligen

musikalischen Idol auf. Mendelssohns Freund, Weggenosse und Nachfolger in

Konservatoriumsdiensten, der Komponist Ignaz Moscheles berichtet darüber:

 

"Das Konzert, zum Besten des Pensionsfonds gegeben, konnte sich

unbegreiflicherweise nur eines zwei Drittel gefüllten Saales rühmen, die ehrfurchtsvolle

Stille, mit der das Werk aufgenommen wurde, ließ einige Blätter behaupten, das

Publikum sei nicht davon ergriffen gewesen. Die ganze Sache rief bei uns und einigen

Gleichgesinnten viel Entrüstung hervor".

 

Es ist schwer, die Ursachen des rapid vonstattengehenden, noch zu anderer

Gelegenheit ersichtlichen Desinteresses der Leipziger Bildungsbürgerschaft zu

räsonieren, ohne gleichsam in Spekulation zu verfallen. Immerhin erwies dieselbe dem

Verstorbenen gerade 3 Monate zuvor beim Hochamt und Leichenzug noch zu

tausenden posthume Reverenz.

 

18

 

 


 

Hatte der zunehmend aggressive Stil, welchen die „NZFM“ im Bestreben dezidierter

Propaganda musikalischer Avantgarde an den Tag legte, das unter den Musikfreunden

Leipzigs vorherrschende Klima mittlerweile vollständig zugunsten aktueller deutscher

Komponisten wie Schumann, Liszt und Wagner beeinflusst?

 

Diese wirkten seinerzeit ja alle dominant in einem, von den Musikzentren Dresden,

Leipzig und Weimar gebildeten, sächsischen Kulturgrossraum.

 

Angemerkt sei, daß, unausgesetzter persönlicher Bewunderung Mendelssohns durch

Schumann zum Trotze, in Mendelssohns letzten Lebensjahre die Beziehungen

zwischen den genannten, mehr noch: zwischen deren Anhängerschaften von

„Mendelssohnianern“ und „Schumannianern“ merklich abkühlten. Irritationen unter den

„Schumannianern“, welche um die Uraufführung der 2 C-Dur Symphonie herum

entstanden, teilweise von der Presse gezielt lanciert wurde, konnten durch den Einsatz

Clara Schumanns und Cecile Mendelssohns ja noch bereinigt werden. Mendelssohn

wiederum erklärte ein halbes Jahr später unmissverständlich im Freundeskreis, daß er,

verbittert über nicht näher überlieferte, unerträgliche, abfällige Bemerkungen des

Kollegen, mit Schumann und seiner Musik endgültig nichts mehr zu schaffen haben

wünsche.

 

Hans von Bülow, von ihm an anderer Stelle mehr, kam im Jahre 1851 in dem Essay

"Das musikalische Leipzig in seinem Verhalten zu Richard Wagner" im Rückblick auf die

Wesensarten kulturellen Leipziger Lebens der späten 40ziger Jahre denn auch zu

folgendem unrühmlichen Ergebnis:

 

"Das musikalische Leipzig hatte sich indessen nach Mendelssohns Tode in

verschiedene Fraktionen gespalten. Schumann ward der Abgott der Einen und bestieg

den durch seines Vorgängers Tod erledigten Thron. Wir sind weit entfernt, dies nicht in

der Ordnung zu finden,; doch wurde diese Erhebung von einer mindestens sehr

überflüssigen Herabsetzung der Verdienste Mendelssohns begleitet., welche dem

Leipziger Lokalpatriotismus , der wie schon den periodisch Abwesenden (wir erinnern

an Gade) , in noch höherem Grade den auf immer Entfernten, den Todten, Unrecht

gibt."

 

Die im März des Jahres 1848 ausbrechenden Revolutionsunruhen bedingten möglicherweise

die Abkehr eines Großteils bildungsbürgerlicher Bevölkerungsschichten von

Überkommenem und deren Zuwendung zu radikalen Positionen auch in den Künsten.

 

4. Antisemitismus

Die unmittelbaren Revolutionsjahre 1848/49 brachten erneut judenfeindliche Exzesse

hervor, welche von nahezu allen ins Revolutionsgeschehen eingebundenen

Gesellschaftsschichten ausgingen. So sind Plünderungen, Misshandlungen,

Enteignungen und Erpressungen aus den Deutschlanden Baden, Bayern, Hessen,

Württemberg, Schlesien und Westpreußen sowie den Städten Berlin, Köln und Wien

dokumentiert.

 

Ungeachtet des jeweiligen Standpunktes, wurden die Juden als verantwortlich für den

Ausbruch der Unruhen, die gesellschaftlichen Umwälzungen, das Gedeihen oder

Scheitern von Revolution und Demokratie betrachtet. Die Progressive beschuldigte die

Juden, als Großbürger und Finanziers das Feudalsystem zu unterstützen oder als

Polizeiagenten und –spitzel einer Rothschildschen Weltverschwörung zuzuarbeiten.

 

19

 

 


 

Die Konservative wiederum sah die Revolution als Werk „rothe(r) jüdische(r) Wühlerei“

und der „Judenverschwörung“ an. Das Kleinbürgertum und die Landstände sahen die

Juden hingegen als revolutionäre Förderer und Urheber, bestrebt, der gemeinhin

verhaßten staatsbürgerlichen Judenemanzipation endgültig zum Durchbruch zu

verhelfen. Das publizistische Zentrum des revolutionären Antisemitismus befand sich in

den Städten Wien und Berlin. Während die Agitatoren der in Berlin publizierten

judenfeindlichen Pamphlete einen vergleichsweise gemäßigten Ton anschlugen, gaben

sich die Publizisten Wiens zunehmend einschlägigen rhetorischen Vernichtungsorgien

hin.

 

Der Korrespondent Paul Eduard Müller-Tellering gelobte in der Broschüre: "Freiheit

und Juden", sich „wie jeder Volks-und Freiheitsmann“ über die „Mittel“ und den „Zweck

(...) Vernichtung des Judentums – in Österreich (...) ohne Schädeleinschlagen“ zu

bedenken und gemahnte des revolutionären Auftrags, das Deutschlands Freiheit nicht

nur den Sturz der 34 Throne“, sondern vielmehr die Beseitigung des Judentums

voraussetzte, denn: „die Tyrannei steckt im Gelde und das Geld gehört den Juden".

 

Flugblätter, wie jenes nachfolgend zitierte anonym publizierte oder letzteres von

„Schmidt“ autorisierte, suchten im Wien des Jahres 1848 hingegen, unmittelbaren

„Volkszorn gegen die Juden“ zu entfesseln. Der Anonymus prophezeite in "Die Juden,

wie sie waren, sind – und bleiben werden":

 

„Judenblut wird in Strömen fließen“ und verdeutlichte somit den potentiellen Opfern,

daß ihre Hoffnung hinsichtlich „völliger Gleichstellung der Confessionen“ auf

„Jahrhunderte weit hinaus gerückt werden“ würde.

 

„Schmidt“ indessen verstieg sich in der „Bittschrift“ unverhohlen zu

Genozidvorstellungen: "Wenn das Christenvolk kein Christenthum und kein Geld mehr

hat", und beides durch eure unablässige Bemühung so gekommen ist, dann, ihr Juden!

lasst euch eiserne Schädel machen, mit den "beinernen" werdet ihr die Geschichte nicht

überleben!“

 

Das erste demokratisch konstituierte Parlament Deutschlands, welches in den Jahren

1848/49 in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusammentrat, sah erklärte

Antisemiten wie den fanatischen Männerbündler und Chauvinisten Friedrich Ludwig

Jahn in den Reihen der Abgeordneten.

 

5. Das Judenthum in der Musik

Im Januar 1850 erkannte auch die musikalische Rezension Mendelssohns erstmals

dezidiert auf einen vermeintlich semitischen Aspekt in dessen Musik. Dr. Eduard Krüger

bemängelte in der "Neuen Berliner Musikzeitung" (NBMZ) in seiner Beurteilung der

aktuell herausgegebenen Drei Psalmen Op. 78, Nr. 6 posthum „sangreiche(n)

Weiberstimmen" welche in Mendelssohns Vokalwerk "rabbinisch belehrend unisonieren"

bzw. eine "in allen M´schen Werken wie eine Phrase hindurchziehende stumpfe

Rhythmik, die unwiderstehlich an die Naivität rabbinischer Rezitation erinnert" („NBMZ“

 

v. 2.1.1850). Der zeitgenössisch-musikalischen Resonanz der Psalmen und Oratorien

biblischen Charakters Mendelssohns ungeachtet, spricht Krüger des Weiteren dem

Komponisten die Berechtigung zu sakralem Schaffen generell ab. Die pauschale

Herabsetzung der Kirchenmusik Mendelssohns ging Meinungen zahlreicher

Musikpublizisten jener Tage konform.

20

 

 


 

Diese erregten sich u. a. bereits über die „Judaisierung“ christlichen Kulturgutes oder die

Dreistigkeit der Autorisierung einer Reformationssymphony durch den Enkel des

ursprünglich ja Mausche-ni Dessau gerufenen Moses Mendelssohn.

 

Am 5. Februar des gleichen Jahres erschien in der „NZfM“ der erste Beitrag polemischer

Auseinandersetzungen um Werk und musikalische Ästhetik des bedeutenden

zeitgenössischen Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer. Für die Artikel, insgesamt

den neuesten grossen Bühnenerfolg des Komponisten "Der Prophet" thematisierend,

zeichnete stets der Musiker und Publizist Theodor Uhlig verantwortlich.

 

Hervorstechendstes Merkmal der partiell in Rezensionsform vorgebrachten Pamphlete

ist eine Begrifflichkeit, welche wenig darauf den Basiswortschatz jener, das Werk Felix

Mendelssohns als spezifisch jüdisch und somit pauschal wertloses Musikschaffen,

indizierenden Publizistik darstellte.

 

In dem genannten Beitrag "Der Prophet von Meyerbeer" verweist Uhlig in

mehrdeutigen Worten auf mögliche Ursachen vermeintlicher rhythmischer und

harmonischer "Eigenthümlichkeiten" in der Opernpartitur, deren "Ursache" er weder

offen zu legen noch anhand des vorgegebenen Material musikdramaturgisch zu

verdeutlichen bereit ist.

 

"(...) Der Marsch nämlich, der sich sonst - wie sich von selbst versteht -in der schönsten

Symmetrie 4-und 2-tactiger Rhythmen fortbewegt, beginnt mit folgendem Fünfer: (es

folgt ein 5-taktiges Notenbeispiel vom Beginn des "Krönungsmarsches")

 

Der Demonstration eines Casus Lapsus folgt lediglich der Verweis auf eine kryptisch

anmutende Ursächlichkeit absonderlicher Meyerbeerscher Tonsprache:

 

"Ohne sich in eigene Untersuchungen über eine Erscheinung einzulassen, die wie

jede andere Ungewöhnlichkeit bei Meyerbeer zuverlässig eine tiefe Bedeutung hat,

glaubte der Beurtheiler den Nachahmern des alleinseligmachenden Operncomponisten

das vorliegende rhythmische Rätsel mit der nahe liegenden Aufforderung zur Lösung

nicht vorenthalten zu dürfen."

 

Für sich genommen könnte das Beispiel als ironische Abstrafung angemuteter Wirrheit

im musikalischen Entwurf eines missliebigen Zeitgenossen gelten. Im Zusammenhang

mit den Folgeartikeln und ähnlichen, einmal mehr, einmal weniger zweideutig

vorgebrachten Charakterisierungen besehen, erschließt sich angesichts von Begriffen

wie "tiefer Bedeutung", "Rätsel" und "Lösung" die Perfidität sublim vorgenommener

antisemitisch-dramaturgischer Steigerung in der publizistischen Inszenierung eines

fatalen Niederganges der Musik jüdischer Komponisten.

 

Im weiteren Verlaufe des Artikels verlagert sich das demonstrativ geäußerte Unbehagen

eines deutschen Rezensenten an der Musik Meyerbeers immer offenkundiger auf eine

Schiene amusikalischer Mediokrität. So mit dem ominös vorgebrachten Hinweis auf eine

"natürliche Erklärung" des monierten Sachverhaltes.

 

Im weiteren Verlaufe dieser Serie von Polemiken gegen Meyerbeers „Le Prophete“

verdichtete Uhlig in der „NZFM“ sein Ressentiment gegen das Werk auf ein als das

zentrale Problem anzusehende Argument von „ Gesangsweisen.“ welche „(...) einem

guten Christen im besten Falle gesucht, übertrieben, unnatürlich raffiniert erscheinen“

und erkannte auf eine „(...) mit solchen Mitteln betriebenen Propaganda des

hebräischen Kunstgeschmacks“.

 

21

 

 


 

Er pauschalisiert des Weiteren hinsichtlich „ (...) der Musik vieler jüdischer Komponisten“

welche „alle nichtjüdischen Musiker (...) mit Bezugnahme auf die allgemein bekannte

jüdische Sprechweise (...) als ein Gemauschele“ empfinden.

 

Hans von Bülow, in späteren Jahren ein Dirigent von Weltruf, begann den von

gravierenden Wechselwirkungen gezeichneten künstlerischen Lebensweg als

jugendlicher Musikrezensent Berliner und Leipziger Publikationen.

 

Nicht von ungefähr sekundierte er im gleichen Monat in der Berliner „Abendpost,

democratische Zeitung“ den Bestrebungen Krügers und Uhligs. Er übertraf dieselben

noch in einem signifikanten Akt entschiedenen vorgenommener publizistischer

Demontage des Komponisten Felix Mendelssohn .

 

In der Besprechung der „Zweiten Symphonischen Soiree der königl. Kapelle im Saale

der Singakademie“ vom 23. Februar 1850 ist also anlässlich einer Darbietung der ADur-

Symphony zu lesen:

 

„Man hat Mendelssohn in seinem Leben überschätzt; keinem Künstler ist je alles so

von Statten gegangen; keiner hat je bei seinen Lebzeiten so viel Zeichen der Verehrung

und des Enthusiasmusses von allen Seiten erhalten (...) und er hat seinen Namen

(Felix) im Superlativ getragen.

 

(...) Mendelssohn war kein Mann der Zukunft, er schuf für seine Zeit, für die Gegenwart;

(...) (er) hat nie dem herrschenden Modegeschmack Concessionen gemacht, er hat ihn

sogar geläutert und erhoben.

 

Mendelssohn war aber kein Genie, sondern nur ein außerordentliches Talent, dem

Geschick und scharfer, praktischer Verstand, welches beides den Leuten seines

Stammes in hohem Grade eigen ist, bedeutend zu Hülfe kamen. Der Unterschied

zwischen Talent und Genie liegt (...) darin, daß (...) Talent stets bei seinem Auftreten

mehr Beifall und wirkliche Sympathie antreffen (wird), als das Genie, das zuweilen

abstößt und befremdet. (...)

 

Dafür ist aber dem Genie auch die Unsterblichkeit, d. h. die Popularität gewiss. Doch

diese Entwicklung würde uns zu weit führen, und wir wollen nur noch bemerken, daß die

genannte Symphonie von Mendelssohn (...) weniger Anklang im Publikum zu finden

vermochte, als wir ihr gewünscht hätten (...); im letzten Satze ist jenes neckische,

elfenhafte Element vorherrschend, in welchem die hauptsächlichste Originalität

Mendelssohns besteht."

 

Von Bülow komprimiert somit zweifelsohne kursierende zeitgenössische Vorurteile

gegen Erfolgsautoren, Privilegierte und Erfolgsjuden erstmalig zu einem analytisch

präzise umrissenen Bild des zur Kunst letztlich unberufenen, sich die Kunst lediglich

vermittels diverser biographisch bedingter Privilegien anmaßenden Compositeurs.

 

Er legt gleichsam in Teilen den Katalog einschlägiger, stereotyp referierter

Subjektivismen einer, in der Musikgeschichte wohl einzigartig bestehenden, rein

biografisch hergeleiteten, rhetorischen Zersetzung der Substanz und Intention von

Musik, der Musik Felix Mendelssohns vor. Weitere Publikationen, welche den Katalog

entwertender Mendelssohn-Invektiven abrundeten und vervollkommneten sollten

zeitnah folgen.

 

Da dieser Katalog sich über 150 Jahre hinweg bis in unsere Zeit hinein als wirksam

erweisen und in Publikationen jüngeren, stellenweise jüngsten Datums ihren

Niederschlag finden, seien hier die wesentlichen Stereotypen zusammengefasst:

 

22

 

 


 

Felix = Glück; lebenslanger Erfolg, einziger Siegeszug, lebenslange Sorgenlosigkeit,

grosser Reichtum des Vaters, familiäre Geborgenheit, allseits geliebt, Jude, musikalisch

empfindungslos und artfremd, Glätte, Kälte, perfektionistische Formelhaftigkeit,

mangelnde Dramatik und Verweichlichung, Sentimentalität in der Musik.

 

Das die Polemik Uhligs in der „NZfM“ gegen eine vermeintlich vorherrschende

„musikalische Judenschule“ und „Judenmusik“ von Anbeginn auch eine Relativierung

der Musik Felix Mendelssohns intendierte, offenbarte sich wenig später. Uhlig

konstatierte, das das semitisch-musikalische Idiom sich durchaus in unterschiedlicher

Intensität artikuliere, „je nachdem in dieser Musik hier der Charakter des Edlen, dort des

Gemeinen überwiegt“ oder „Eigentümlichkeiten (...) der metrischen Gestaltung, (...) in

einzelnen melodischen Tonfällen der musikalischen Phrase (...) hier nur ganz wenig,

dort ganz auffallend (...), bei Mendelssohn sehr gelind, bei Meyerbeer dagegen in

höchster Schärfe, namentlich in seinen Hugenotten, nicht minder auch in seinem

Propheten“ zum Tragen kämen.

 

Die Rezension schliesst mit dem Verweis: „...Ebenso wenig wie die Ihnen analogen

Sprechweisen (...) diese Tonweisen schön oder nur erträglich da finden zu können, wo

sie (...) ganz unmittelbar an das erinnern, was ich nicht anders, denn als „Judenschule“

zu bezeichnen weiss.“

 

Uhlig ließ es nicht dabei bewenden, Felix Mendelssohn lediglich im Anhang einer

Diffamierung Giacomo Meyerbeers pauschal herabzusetzen. In einer Rezension der im

Jahre 1843 in Berlin uraufgeführten „Sommernachtstraum“-Schauspielmusik stellt er

bereits die dramatische Wirksamkeit und musikalische Qualität des Werkes dezidiert in

Frage: „(Mendelssohn) mutet dem Zuhörer nicht zu, aus einer Dichtung die

Hauptwesenheiten herauszulesen...Als Mendelssohn die übrige Musik zum

Sommernachtstraum noch nicht geschrieben hatte, wussten die kunstverständigen

Leute bloß für das eine Tonbild der Ouvertüre die allerdings nahe liegende Erklärung

aufzufinden und gaben die Musik desselben für „Elfengeflüster aus. Der Komponist hat

diese Annahme später sanktioniert, zugleich aber auch gezeigt, was alles er in diesem

Tonstücke gewollt und – nicht gekonnt hat...“ (Th. Uhlig, Musikalische Schriften,

Regensburg 1913; da der Autor bereits im Jahre 1853 im Alter von nur 30 Jahren an

einer Lungenentzündung verstarb, handelt es sich wahrscheinlich um eine

zeitgenössisch liegende Rezension der Schauspielmusik).

 

Die Autoren Dr. Eduard Krüger, Theodor Uhlig und Hans von Bülow betätigten sich

neben der Erfüllung ihrer publizistischen Verpflichtungen in Berlin und Dresden in den

Jahren 1850ff auch maßgeblich als Polemiker in der „NzfM“ in Leipzig. Sie zeigten sich

somit dem Umkreis der Weimarer Liszt-„Schule“ und den daraus erwachsenden

Fanatismen zugehörig. Dies lässt folgende Vermutung als legitim erscheinen: Die

Publikation aggressiv oder verhalten antisemitisch agitierender Texte, zum Auftakt einer

Pressekampagne gegen herausragende zeitgenössische Komponisten nahezu

zeitgleich in mehreren Städten und Presseorganen erfolgend, war womöglich das

Ergebnis einer konzertierten, auf Absprachen beruhenden Aktion.

 

Die Kampagne der „NZfM“ gipfelte im September des Jahres 1850 schliesslich in der

Veröffentlichung eines halbwissenschaftlich aufbereiteten Aufsatzes, welcher die

bislang vereinzelt ausgestreuten Polemiken unter der Losung "Das Judenthum in der

Musik" zusammenfasste.

 

23

 

 


 

Der Name Karl Freigedank unterzeichnete diesen, der Name eines der damaligenÖffentlichkeit bislang völlig unbekannten Autors freilich. Im Jahre 1869 sollte er sich als

Pseudonym eines aufstrebenden Musikers erweisen, welcher seinerzeit möglichem

Imageverlust vorzubeugen beabsichtigte.

 

Das Pamphlet verbreitet u. a. folgende Thesen:

 

1. Alle Kunst hat ihre besten und stärksten Wurzeln im Volkstum; die künstlerische

Leistung ist abhängig von der völkischen Verbundenheit des Künstlers.

2. Im Bemühen, sich in der harten, zischenden Sprechweise seines Volkes des Idioms

deutscher Sprache zu bedienen, könne der Jude als Fremder lediglich Abstoßendes

und Lächerliches hervorbringen. Vollends unerträglich sei der Versuch im

Gesangsvortrag deutscher Sprache durch einen Juden. Der Artikulation im Idiom der

Landessprache nicht befähigt, habe sich der Jude somit der Frage zu stellen, ob er in

diesem Lande überhaupt kunstberechtigt sei.

3. Der Jude sei von unangenehm fremdartiger Erscheinung und erfülle daher den

Europäer mit instinktivem Widerwillen gegen das jüdische Wesen. Daher habe sich der

Jude, als Individuum sowie allgemeinhin seiner Gattung nach, als Objekt künstlerischer

Darstellung in Malerei, der Musik und auf der Bühne von jeher als ungeeignet erwiesen.

Wer es aber innerhalb der deutschen Kunst niemals zu objektiver Relevanz gebracht

habe; also der künstlerischen Darstellung enthoben blieb, dem könne man

diesbezüglich auch keine subjektive Einbindung zugestehen; ist also zu kompetenter

künstlerischer Betätigung nicht befähigt.

 

4. Der Jude suche sich vermittels Imitation in Kleidung, Bildung und Sprache der

abendländischen Kultur zu amalgamieren. Der wahren Identität dennoch stets

eingedenk, sei er somit von der nationalen Beseligung des Gastlandes ausgeschlossen.

Daher seien ihm die Menschen des Gastlandes, auch im Versuch künstlerischer

Artikulation, emotional nicht erreichbar. Der Rückschluss auf formal perfekte, aber von

seelischer Kälte erfüllte Kopien der Muster nationaler Vorbilder läge somit auf der Hand.

5. Der Jude habe niemals autonom Kunst betrieben, daher stünde dem jüdischen

Tonsetzer einzig das Idiom synagogaler Vokalisen zu Gebote. Dies habe sich

ursprünglichen Adels, Reinheit und Erhabenheit längst enthoben und sei auf den

Zeitgenossen nurmehr in allerwiderwärtigster Trübung überkommen. Daher bediene

sich der Jude bevorzugt jener Elemente musikalischer Diaspora, welche er dem

vertrauten Synagogenton missverständlich als verwandt erachte. Sich von jeher im

Oberflächenbereich abendländischer Musik bewegend, zur Unkenntnis innerster

Beseligung des deutschen Kunstwesens nahezu verdammt, nähme der Jude gewissegefälligste Äußerlichkeiten der Musik als deren Wesen hin und versuche sich nunmehr

in vollendeter Kopie funkelnder Äußerlichkeiten des Originals. Die musikalischen

Reproduktionen aus der Hand des jüdischen Tonsetzers erschienen dem

abendländischen Hörer zweifelsohne fremdartig, kalt, gleichgültig, unnatürlich und

verdreht.

Der Autor beließ es natürlich nicht bei allgemeingefasster Darstellung des

heraufbeschworenen jüdisch-musikalischen Dilemmas.

 

24

 

 


 

Er befleißigt sich vielmehr, es am konkreten, fassbaren, nahe liegenden „Objekt“ zu

veranschaulichen. Daher lesen wir am Ende des Traktates vom „Judenthum in der

Musik" eine Einschätzung von Person und Musik Felix Mendelssohns, welche sich als

folgenschwer herausstellen sollte.

 

Hier im Wortlaut: “An welcher Erscheinung wird uns dies alles klarer, ja an welcher

konnten wir es einzig fast inne werden, als an den Werken eines Musikers jüdischer

Abkunft, der von der Natur mit einer spezifischen musikalischen Begabung ausgestattet

war, wie nur wenige Musiker (...) vor ihm? Alles, was sich bei der Erforschung unserer

Antipathie gegen jüdisches Wesen der Betrachtung darbot, (...) alle Unfähigkeit

desselben, außerhalb unsres Bodens stehend, dennoch auf diesem Boden mit uns

verkehren (...) zu wollen, steigern sich zu einem völlig tragischen Konflikt in der Natur,

dem Leben und Kunstwirken des frühe verschiedenen Felix Mendelssohn-Bartholdy.

 

Dieser hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die

feinste mannigfachste Bildung, das gesteigertste (...) Ehrgefühl besitzen kann, ohne es

(...) je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele

ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir (...) der Kunst (...) fähig

wissen, weil wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein Heros unserer

Kunst sozusagen nur den Mund auftat”.

 

Freigedank bemüht sich, eine naturgegebene musikalische Apathie des Juden

Mendelssohn aus dessen Werken, genauer, deren spezifischen musikalischen Idioms

heraus zu präzisieren.

 

Er konstatiert daher gemeinverbindlich eine diffuse allgemeine Empfindung von

Oberflächlichkeit beim Anhören Mendelssohnscher, also dezidiert "jüdischer" Werke und

sucht dabei den Rückhalt analytischen Sachverstandes bei "Kritikern vom Fach", ohne

freilich solche konkreter benennen zu können:

 

"Kritikern von Fach, welche hierüber zu gleichem Bewusstsein mit uns gelangt sein

sollten, möge es überlassen sein, diese zweifellos gewisse Erscheinung aus den

Einzelheiten der Mendelssohnschen Kunstproduktion nachweislich zu bestätigen: uns

genüge es hier, zur Verdeutlichung unserer allgemeinen Empfindung uns zu

gegenwärtigen, daß beim Anhören eines Tonstückes dieses Komponisten wir uns nur

dann gefesselt fühlen konnten, wenn nichts anderes als unsre, mehr oder weniger nur

unterhaltungssüchtige Phantasie, durch Vorführung, Reihung, und Verschlingung der

feinsten, glättesten und kunstfertigsten Figuren, wie im wechselnden Farben-und

Formenreize des Kaleidoskopes, vorgeführt wurden , - nie aber da, wo diese Figuren die

Gestalt tiefer und markiger menschlicher Herzensempfindungen anzunehmen bestimmt

waren (...) Für diesen letzteren Fall hörte für Mendelssohn selbst alles formelle

Produktionsvermögen auf, weshalb er denn namentlich da, wo er sich, wie im

Oratorium, zum Drama anlässt, ganz offen nach jeder Einzelheit, welche diesem oder

jenem zum Stilmuster gewählten Vorgänger als individuell charakteristisches Merkmal

besonders zu eigen war, greifen musste. Bei diesem Verfahren ist es noch

bezeichnend, dass der Komponist für seine ausdrucksunfähige moderne Sprache

besonders unseren alten Meister Bach als nachzuahmendes Vorbild sich erwählte.“.

 

Nicht allein, daß Freigedank mit den Schlagworten "unterhaltungssüchtige Phantasie auf

Seiten des Publikums" sowie "Vorführung, Reihung von feinsten, glättesten und

kunstfertigsten Figuren zum Erlebnis eines Farb-und Formenreizes eines Kaleidoskops

vergleichbar"

 

25

 

 


 

die Musik Mendelssohns und anderer Komponisten jüdischer Abstammung

unmissverständlich zu Elaboraten kunstgewerblicher Manufaktur deklariert, ja dieselben

quasi dem Bereich der Jahrmarktsattraktionen zuordnet. Im Zusammenhang mit der im

allgemeintheoretischen Part des Traktates getroffenen, nachfolgend wiedergegebenen,

Charakterisierung allgemeinjüdischer Kulturproduktion betrachtet, legte Freigedank

somit eine folgenschwere Systematik negativer Schlagworte vor. Diese schlugen sich

vor allem in Begriffen wie perfektionistischer Glätte, Kälte, seelenloser Formenhaftigkeit

der vermeintlich in Kopie von Stil und Kompositionsmustern nationaler Vorbilder

entstandenen Werke, mangelnder emotionaler Tiefe aber auch jenem übermäßig

trivialer Sentimentalität mendelssohnscher Musik.

 

Diese sollte – wie sich noch erweisen wird -in schematischer und wortwörtlicher

Repetition die publizistische Rezeption des Gesamtbildes mendelssohnscher Musik bis

in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts dominieren. Die entsprechenden

Invektive sind leicht erkenntlich: "Was so der Vornahme der Juden, Kunst zu machen,

entspricht, muss daher notwendig die Eigenschaft der Kälte, der Gleichgültigkeit, bis zur

Trivialität und Lächerlichkeit an sich haben".

 

Wulf Konold brachte das – kulturhistorisch wohl einzigartig dastehende – Phänomen

im Jahre 1984 mit der Einschätzung treffenst zu Punkte, daß die Rede vom Judenthum

in der Musik für einschlägig gesinnte Musikpublizisten, „aber auch Autoren, die den

Verdacht jeglichen Antisemitismus zu Recht von sich gewiesen hätten...eine Art

„Sprachregelung“ hinsichtlich musikgeschichtlicher Mendelssohnrezeption vorgab

 

Als Resultat vorgeblich objektiv, detailliert vorgenommener analytischer Betrachtung der

semitischen Persönlichkeit und Musiksprache Mendelssohns referiert Freigedank seine

Erkenntnis auf vollständige künstlerische Impotenz des Komponisten; genauer, auf

konstant bestehenden Grenzen „alle(n) formelle(n) Produktionsvermögen(s)“ im

Mendelssohnschen Oeuvre. Er trachtet, dem Hörer stets die Unfähigkeit des

Komponisten, literarisch-dramatischen Figuren „die Gestalt tiefer, menschlicher und

markiger menschlicher Herzensempfindungen“ zu verleihen, überdeutlich vor zu führen.

 

Freigedank definiert die, das Mendelssohnsche Werk prägende „ausdruckslose

moderne Sprache“ demzufolge als Resultat und zugleich Vorbild eines „neu-jüdischen

Systems“. Dies sei, auf diese Eigenschaft (dramatischen Unvermögens, Anmk. d. Verf.)

Mendelssohnscher Musik, wie zur Rechtfertigung dieser künstlerischen Verkommenheit

entworfen worden. Freigedank stellt die „ausdruckslose moderne Sprache“

Mendelssohns in unmittelbaren Bezug zum nurmehr historistisch zu rezipierenden

Formalismus des Bachschen Musikidioms. Dies müsse zweifellos als „formell,

pedantisch“ empfunden werden und sei nur durch das übergroße Genie Bachs „eben

erst zum Durchbruche“ zu „rein menschlichem Ausdruck“ hin gebracht worden.

Übergroßem musikalischen Genie also, welches einem Mendelssohn demzufolge

keinesfalls gegeben sei.

 

Die Konstatierung eines von Mendelssohn in den Bereich der deutschen Musik

implizierten und von seinen Nachfolgern perfektionierten „neu-jüdischen Systems“,

schliesst den Kreis zum ersten Teil Freigedankscher Allgemeinbetrachtung

„musikalischen Judentums.“

 

Dort war ja von verzerrter, oberflächlicher Wahrnehmung zeitgenössischen

Musikschaffens aufgrund fragmentarisch im Bewusstsein verbliebenen Idioms der

 

26

 

 


 

Synagogenmusik, von Resultaten jüdischen Komponierens, welche „fremdartig, kalt,

sonderlich, gleichgültig, unnatürlich“ erscheinen, die „Eigenschaft der Kälte,

Gleichgültigkeit“ und „Trivialität“ aufweisen würden, die Rede.

 

Im Zusammenhang betrachtet, bedeutet die Konstatierung des, auf vermeintlich

vorväterlich überlieferter semitischer Unkenntnis und Unfähigkeit zur Artikulation im

Idiom europäischer Musiktraditionen beruhenden „neu-jüdischen Systems“ in der Musik

wohl schlichtweg folgendes:

 

Freigedank unterstellt Mendelssohn und seinen semitischen Mitstreitern Moscheles,

Joachim, David etc. die zielstrebige Zersetzung völkisch-kultureller Basis vermittels

„ausdruckslos“(er), also emotional kraftloser, musik-dramatisch uninspirierter „moderner

Sprache“. Also letztendlich den Versuch der, die Schwächung der Lebenskraft des

deutschen Volkes bedingenden Verseuchung kulturellen Erbes mit dem semitischen

Bazillus substanzieller künstlerischer Impotenz.

 

6. Ein antisemitischer Eklektizist

Damit war das Thesenpapier eines auf der hochrangigen Ebene vermeintlicher

kulturwissenschaftlicher Erkenntnis rezipierten Antisemitismus gestellt.

 

Genauere Betrachtung freilich deckt auf, wie konstruiert sich der Thesengang

Freigedanks insgesamt darstellt. Wie stark er, en Detail besehen, auf mangelnde oder

verdrängte Sachkenntnis oder reine Spekulation verweisend, ex kathedra verkündeten,

aber unbelegten Behauptungen geschuldet ist.

 

Allein die Haupttheorie von der angeblich naturgegebenen Unfähigkeit des Juden zur

Kunst ist auch nach damaligem kulturwissenschaftlichen Kenntnisstand nicht haltbar.

Als Freigedank im Judentraktat dieselbe exponierte, fortentwickelte und ultimativ

festschrieb bewegte er sich vielmehr – ob in Kenntnis der Vorgänger oder unbeeinflußt,

sei dahingestellt – in der Tradition berüchtigter antisemitischer Demagogen. So

behauptete der bereits genannte Hartwig von Hundt-Radowski im "Judenspiegel" aus

dem Jahre 1819 schlichtweg:

 

"Allein zu den schönen und bildenden Künsten, welche den Geist veredeln und das

Auge erfreuen, hat kein Mauschel Talent....Selbst schaffen können die Juden, als

Künstler vollends nichts, denn so stark auch ihre physische Zeugungskraft ist, so sehr

fehlt es ihnen an aller geistigen Schöpfungskraft. Als Gott sein herrliches Bild, den

Menschen schuf, wollte der Teufel ein Epigramm darauf machen, und fabrizierte einen

Juden. Die Kinder Israel können nur nachäffen und nachahmen, allein ihre

Nachäffungen sind, gleich Ihnen, gemeine widerliche Karikaturen.“

 

Auch Karl-Friedrich Grattenauer, von ihm sei an anderer Stelle noch ausführlicher die

Rede, erging sich bereits im Jahre 1803 in einer „Erklärung an das Publicum über meine

Schrift "Wider die Juden“ in Betrachtungen hinsichtlich Judentum und Kunst: „

 

„Grattenauer schreibt also: „Sind sie nicht in der Regel so wenig Produzenten als

Künstler, und plündern sie dennoch nicht beide durch ihren Handel und Wucher?“

 

27

 

 


 

Der kirchliche Publizist und Verleger Johann Gottfried Herder schliesslich erkannte im

Jahre zuvor in dem Essay "Bekehrung der Juden" in der "Anthologie Adrastea", Bd. 4,

Leipzig 1802 auf eine Diskrepanz zwischen jüdischer Existenz im Speziellen und

künstlerischer und ökonomischer Produktivität im Allgemeinen:

 

Es heißt bei Herder unter anderem: „ „Wären sie Seehelden, Künstler, Landcolone; bei

den Reichtümern, die sie besaßen...hätten sie längst etwas Außerordentliches zu

Stande gebracht, in Ländern und Zeiten, wo sie nichts hinderte, in jeder Kunst die

Ersten zu werden! Die Kunst, worin sie die Ersten wurden, zeigen sie fortwährend.“

 

Die pauschal ausgegebene Behauptung kreativen und besonders musikalischen

Mangels des Judentums aufgrund originär tonloser jüdischer Sprechweise wiederum

findet sich bereits in Werken des 18. Jahrhunderts und Zeiten zuvor. Vor allem in einer

im Jahre 1788 von Johann Nikolaus Forkel in Leipzig herausgegebenen Allgemeinen

Musikgeschichte erlangte der Aspekt im Kapitel "Musik der (alttestamentarischen)

Hebräer" umfassende, abwertende Erörterung. Dennoch vergibt es sich der Autor

keineswegs, von der frühgeschichtlichen Mediokrität rituellen hebräischen Vokalisierens

zur adäquat unbefriedigenden Situation unmittelbarer Gegenwart des Jahres 1788

überzuleiten, wenn er schreibt:

 

„In den Synagogen selbst ist die heutige jüdische Musik nichts, als entweder ein

musikalisches Beten, welches in einerlei Ton entweder gleichsam gebrummt oder

gemurmelt wird, oder (wenn der Chor einfällt) ein fürchterliches Geschrei.

 

Wenn diese Art des Gesangs ein Überbleibsel aus alten Davidschen Zeiten ist, und sich

bis auf uns (...) fortgepflanzt hat, so muss es um die Musik der Hebräer eine erbärmliche

Sache gewesen sein".

 

Da Forkels Allgemeine Musikgeschichte musikalisch Professionellen auch in der ersten

Hälfte des 19. Jahrhunderts als Standardwerk galt, Riemanns Lexikon der Tonkunst und

der Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart" in unseren Tagen vergleichbar,

könnte es möglicherweise, im Gegensatz zu den verstreut publizierten Schriften

politischer Antisemiten, der Recherche zum "Judenthum in der Musik" gedient haben.

 

Das von Herder, Grattenauer, Hundt-Radowsky und Karl Freigedank gleichlautend

gefällte Urteil gründet sich vornehmlich auf ein christlich-überhebliches Unvermögen,

sich mit der spezifischen Relation jüdischer Konfession und Kultur in der Diaspora zu

den musischen Künsten auseinanderzusetzen.

 

Oder besser gesagt: die Genannten überheben sich, im vollen Bewusstsein, die

Traditionen jüdischer Kultur nicht zu kennen und auch nicht zur Kenntnis nehmen zu

wollen, dennoch zu verallgemeinernder Abrede jüdischer Kreativität. Die überkommene

Relevanz jüdischer Musik zu Konfession und Ritus, das auch im arabischen Raum

bestehende Verbot der Abbildung menschlichen Konterfeis, die grosse Tradition im

literarischen Bereich der Mythen und Sagen, deren erstes und nachhaltigstes Werk

sicher bereits in der Vorlage des alten Testamentes zu definieren wäre. All diese

anthropologischen Faktoren blieben der christlich-chauvinistisch vorgenommenen

Analyse der Frage, dass das Judentum in der Diaspora zeitweilig keine Kunstwerke im

strenggefassten abendländischen Sinne hervorbrachte, schlichtweg außen vor.

 

28

 

 


 

Im Rückblick auf eine nunmehr 200jährige Geschichte demagogischen Publizierens

gegen das Judentum in Politik, Kultur und bürgerlicher Gesellschaft offenbart sich eine

fatale Gepflogenheit, eine Tradition, welche allen diesen Demagogen gemeinsam ist,

deren Schrifttum wie ein Leitfaden durchzieht:

 

Vom Ressentiment gegen das jüdisch-fremde angeleitet, übernahmen die Autoren

pauschale diffamierende Resümees von Vorgängerpublikationen, gaben

anthropologische Theorien und vermeintliche historische Fakten bereitwillig und

ungeprüft wieder, wenn dieselben sich der eigenen inkriminierenden Sichtweise

einfügten.

 

Wie wir noch sehen werden, gaben zahlreiche Musikkundler des Wilhelminismus und

des 20. Jahrhunderts die rhetorischen Negationen Mendelssohn Bartholdys Hugo

Riemanns u. a. in wortwörtlicher Anlehnung wider, schrieben die Rassenfanatiker und

Kulturwissenschaftler des Nationalsozialismus satzweise aus Freigedanks Pamphlet ab.

 

Damit stellt sich auch die Frage, ob die selbsternannten Experten des Fachgebiets

kultureller Traditionen innerhalb des Judentums, die beurteilte Materie jemals

authentisch erfuhren. Ob Forkel und Freigedank beispielsweise im Verlaufe eines

Synagogenbesuches den rituellen Kantus eigenständig erlebten oder sich

musiktheoretisch mit demselben auseinandersetzten. Die ersichtliche Häme

karikierender Darstellungen jüdischer Sprache und Gesangs lassen eher auf lustvoll

transportierte und überzeichnete Aversionen schließen, welche sich seit Beginn der

Neuzeit längst im Bewusstsein deutscher Kultur und Lebensweise festgeschrieben

hatten.

 

Anbetrachts konkreter Vorleistungen Theodor Uhligs, Hans von Bülows und Dr. Krügers;

in Kenntnis rückwärtigen Katalogs antisemitischer Rhetorik, welcher sich dem Zeitgeist

der Jahre 1848 – 50 andiente; lässt sich nunmehr mit grosser Sicherheit annehmen:

Freigedank erwies sich auf dem Gebiete kulturanthropologischen Antisemitismus als

genau das, was er „dem Juden“ auf dem Gebiete der Kunst und vor allem der Musik per

se vorwarf. Als Eklektizist!

 

Das Pamphlet vom „Judenthum in der Musik“ animierte wiederum zu weiteren

einschlägigen Polemiken und verschärfter Propaganda von Kunst als nationaler Frage

und Ersatzreligion eines erstarkenden Ideals deutscher Vereinigung im Geiste Fichtes.

 

7. Eine exceptionell exclusive Menschen-Race

Dr. Krüger, der – aus dem Umfeld der „NZfM“ in der Ära Robert Schumann

hervorgegangen -nunmehr als Pionier publizistisch-antisemitischer Analyse von

Mendelssohnscher Musik gelten muss, ließ Freigedanks "Judenthum" denn auch

"Gedankengänge über Judentümliches" folgen. Er begrüßte zu Anfang die

„wiedergewonnene Preßfreiheit, denn 1846-48 war es zwar sehr leicht, Schriften gegen

das Christentum (...) zu bringen, aber sehr schwer, ein offenes Wort über die Juden zu

sprechen.“ Er beklagt des weiteren, daß das deutsche Volk „den Eindringlingen nicht

wehrt, (...) Tagesgötzen bejubelt, die es selber verachtet (...) ihm (...) das Mark der

Väter verloren gegangen, vor dem die moderne Windbeutelei nicht bestanden hätte“.

(„NZfM“ vom 1.10.1850)

 

29

 

 


 

Eduard Bernsdorf hingegen entlarvt am 15.10.1850 wiederum in der „NZFM“ eklatante

Schwächen in Freigedanks analytischer Beweisführung und erhebt infolgedessen den

Vorwurf mangelnder anthropologischer Seriosität und der Demagogie.

 

„Der grosse Gelehrte Freigedank (...) spricht“ (Mendelssohn) „in der Tat künstlerische

Fähigkeit und Bildung nicht ab (...); aber die Wirkung, die unsere Kunstheroen auf ihn

hervorgebracht haben, hat er beim Anhören seiner Sachen nicht finden können (....) Wie

aber dieser Mangel an Wärme (...) mit seinem jüdischen Ursprunge im Zusammenhang

stehen soll, das hat uns der Verfasser durchaus nicht bewiesen. Er spricht...nicht über

den jüdischen Komponisten (...) bei ihm hat er nichts jargonierendes nachgewiesen, ihm

wirft er die Synagoge nicht vor, nur den Meister Bach...“

 

Schwerwiegender noch ist der am 25.1.1851 in der "Illustrierten Zeitung" (Leipzig)

erhobene Verweis des Musikers und Musiktheoretikers Johann Christian Lobe auf

einen wesentlichen protorassistischen Aspekt der in der „NZfM“ begonnen Debatte:

 

„Daß die christliche Taufe dem Juden nichts hilft, zeigt Freigedank ja dadurch, daß er

Mendelssohn stets als einen Juden behandelt, der doch als Christ geboren, getauft,

erzogen und begraben worden ist.“

 

Judentum musste sich, Freigedank zufolge, demnach letztendlich durch andere

Aspekte als jenem „mosaischen" Bekenntnisses definieren. Durch die geburtsmässige

Zugehörigkeit zu einem fremden, nichteuropäischen Volk oder vielmehr:

geburtsmässige Zugehörigkeit zu einer fremden, nichteuropäischen Rasse!

 

Freigedank argumentiert dabei in der Tradition des Urhebers der im frühen 19.

Jahrhundert verkündeten Gewalt-und Vernichtungsmetaphorik, Karl Wilhelm Friedrich

Grattenauer.

 

Dieser publizierte bereits im Jahre 1791, also dem Beginn der germanomanischen

Kampagne Fichtes zeitlich konform gehend, Vertreibungsdemagogie in der Studie:

"Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, Stimme eines

Kosmopoliten, Germanien 1791". (Das Buch wurde in Leipzig verlegt.) Im Jahre 1803

konstatierte er in der Schrift: "Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere

christlichen Mitbürger" erstmalig: „Daß die Juden eine ganz besondere Menschen-Race

sind, kann von keinem Geschichtsforscher und Anthropologen bestritten werden.“

 

In unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum "Judenthum in der Musik" erörterte ein A.

Escherich "Die Judenemancipationsfrage vom naturhistorischen Standpunkte aus"

besehen in der renommierten "Deutsche(n) Vierteljahresschrift", Heft 4 von Oktober des

Jahres 1848. Auch Escherich kommt darin zu dem Schluß, daß „Die Juden...eine

exceptionelle Bevölkerung (bilden) und zwar nicht als (...) Varität einer bestimmten

Race, sondern mit exceptionellen, exclusiven Eigenschaften unter allen Racen. Und

diese auszeichnenden Eigenschaften sind (...) constant durch alle Jahrhunderte und

Klimate, charakterisieren...Stamm und (...) Individuum, (...) erstrecken sich auf die

Naturgeschichte dieses Volkes, (...) seine körperliche Gestalt, seine Fruchtbarkeit, (...)

seine Lebensdauer, (...) seinen geistigen und moralischen Charakter.“

 

Des Weiteren stellt Escherich dann auch die Frage nach der künstlerischen Berufung

dieser "exceptionell exclusiven Race" im Allgemeinen und besonderen.

 

30

 

 


 

Während die Juden üblicherweise als eifrige und geschickte Sammler und Eklektizisten

in Erscheinung träten, welche sich des Fundus kulturellen Erbes des Abendlandes

zugunsten eigenen Elaborierens zielstrebig bedienten, sei Mendelssohn Bartholdy im

Besonderen als der bedeutendste Komponist des Jahrhunderts anzusehen. Allerdings

sei er als grosse Ausnahmeerscheinung aufzufassen, sein Wirken hinsichtlich

mosaischen Irrens in künstlerischen Gefilden vollkommen atypisch.

 

Die von Freigedank zum Ausdruck gebrachte protorassistische Tendenz war bis dato

gemeinhin ungebräuchlich, die Pamphlete Grattenauers und Escherichs stellten

Ausnahmen in den von konfessionellen oder ökonomischen Standpunkten dominierten

antisemitischen Publikationen dar. Lobe interpretierte daher die Metapher von der

„Erlösung Ahasvers“ durch „den Untergang“ des "Juden" am Ende des Traktates "Das

Judenthum in der Musik" bereits ironisch als Aufforderung zum Judenmord:

 

„Also weg mit allen Juden. Wenn dann. (..) die Juden alle erschlagen vor uns liegen,

und wir übrig gebliebenen Christen als triumphierende Mörder mit blutigen Fäusten

dastehen, dann sind wir wahrhafte Menschen und (...) „einig und untrennbar verbunden

 

– untereinander und mit den Juden.“

Im Juli 1851 resümiert der damalige Herausgeber der „NZfM“, Franz Brendel den

„wahren Sturm“ in der zeitgenössischen Medienwelt, welchen die Veröffentlichung der

Freigedankschen Thesen in der hauseigenen Zeitschrift hervorgerufen habe.

 

Um den Ruf der „NZfM“ scheinbar doch etwas besorgt, impliziert er der Publikation

nachträglich eine Relativierung bezüglich gebildeter und ungebildeter Juden; letztere vor

allem wären doch der Gegenstand Freigedankschen Theoretisierens gewesen. Im Text

des „musikalischen Judenthums“ hingegen findet sich dafür allerdings keinerlei

Anhaltspunkt, da ausschließlich „der Jude“ veranschaulicht; von „den Juden“

gesprochen wird.

 

Obgleich sich die unmittelbaren publizistischen Reaktionen, welche das Pamphlet

hervorrief, Mitte des Jahres 1851 scheinbar legten, war die These gestreut. War die in

einer der renommiertesten Publikationen zeitgenössischen deutschen Kulturlebens

vertretene antisemitische Kulturtheorie nunmehr salonfähig, unter gebildeten Kreisen

diskussionswürdig.

 

So erkennt beispielsweise Wilhelm von Lentz, Beethovenkapaziät und Staatsrat des

russischen Zaren im Jahre 1852 auf ein „hebräisches Element, das in den Gedanken

Mendelssohns erkennbar ist, (das) ihn hindern wird, die ganze Welt ohne Unterschied

von Zeit und Ort zu erobern.“ Ferner rücken erneut „die psalmodierenden Gesänge der

Synagoge“ als „Typus, der in der Musik Mendelssohns nachklingt, wie in seinem

Denken der jüdische Geist eine Rolle spielt“ ins Zentrum von Betrachtungen. (v. Lentz,

Beethoven und seine 3 Stile, 1852, Kassel 1855).

 

Da der Traktat auch massiv kontroverse Reaktionen provozierte (vergl. Johann Christian

Lobe), verlegte sich die „NZfM“ wieder vermehrt in die Unverbindlichkeit "objektiv"musikalisch

betriebener Agitation gegen den Opernfürsten Giacomo Meyerbeer.

 

Nichts desto Trotz streute die Publikation auch in den Folgejahren unausgesetzt

Ressentiments gegen Felix Mendelssohn aus, so in den oftmals in lakonischen Tonfall

vorgenommenen Rezensionen der posthum veröffentlichten Werke.

 

31

 

 


 

Was beabsichtigten die Initiatoren einer lancierten öffentlichen Semitismus-Debatte im

Musikbereich?

 

Es war ihnen um eine Verschiebung der realen Machtverhältnisse im

zeitgenössischen Musikbetrieb zu tun. Musikalische Avantgardisten suchten quasi auf

gewaltsamen Wege, mit publizistischen Mitteln, Einfluss innerhalb der musikalische

Hemisphäre zu erlangen. Was die avantgardistisch-musikalische Wortmeldung allein

nicht bewirkte, sollte schleichende Erschütterung des Fundamentes bewirken, auf

welchem das Ansehen der Erfolgsmusiker Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo

Meyerbeer beruhten.

 

Die Synthetik in der Konzeption des, hinsichtlich Ursache und Wirkung vollendet

konstruierten, aber vor allem spekulativ untermauerten Medienunterfangens "Das

Judenthum in der Musik"; die Schizophrenie der auf Ebenen öffentlicher und intimer

Subjektivität vielfach aufgespalteten Urheber lässt ein Schreiben des hinter dem

Pseudonym Karl Freigedank verborgenen Komponisten Richard Wagner an Felix

Mendelssohn vom 6./7 .Juni des Jahres 1843 erkennen. Wagner versichert sich darin

dem Komponisten gegenüber u. a. des Stolzes darüber: „...der gleichen Nation

anzugehören, die Sie und Ihren Paulus hervorgebracht hat.“

 

Meyerbeer, musikalisch im fernen Paris residierend, war den nihilistischen

Bestrebungen nahezu entzogen.

 

In der zeitgenössischen Rezeption des vermeintlichen Antipoden im eigenen, deutschen

Bannkreis, schlug sich der publizistische Gewaltakt hingegen nachhaltig nieder.

Erheblich bestärkt durch ein diffuses Klima feudaler Restauration, postrevolutionär

germanomanischen Einheitsfanatismus und traditionell kultiviertem Antisemitismus einer

Generation opportunistisch-neokonservativer Leistungseliten aus dem Umfeld ehedem

jungdeutscher Männerbünde. Das europäische Ausland kommentierte die den Ruf Felix

Mendelssohn Bartholdys beschädigenden publizistischen Invektive befremdet. So

resümiert der englische Kritiker Henry Fothergill Chorley im Jahre 1853 -also nur

sechs Jahre nach Mendelssohns Tod:

 

”Traurig, aber wahr ist's dennoch, daß seine Landsleute ihrer Reputation für Ehrlichkeit,

Treue und Verehrung von Genie und Tugend keine Ehre gemacht haben; denn in der

Zwischenzeit haben sie ihre Haltung (...) geändert, einem Mann gegenüber, den sie zu

seinen Lebzeiten geehrt und umschmeichelt hatten....”

 

Und Donald Tovey merkt in seinem phänomenalen, bedeutsamen Mendelssohn-Artikel

in der gewichtigen Enzyklopaedia Britannica, 1911 verfasst, trocken an:

 

And in the early Wagner-Liszt reign of terror his was the first reputation to be

assassinated. That of the too modest and gentle „Romantic“ pioneer soon followed; but

as being more embarrassing to irreverence and conceit, it remains a subject of

controversy. Meanwhile, Mendelssohn’s reputation, except as the composer of a few

inexplicably beautiful and original orchestral pieces, has vanished.“

Sir Donald F Tovey §“Mendelssohn“ the encyclopaedia britannica 11th edition

Cambridge 1911, XVIII.p 124

 

32

 

 


 

8. Von der Neudeutschen Schule

“Zum einen ist das Mendelssohn-Bild...geprägt durch eine Bewertung, deren Basis nicht

kompositionstechnische Einwände gegen seine Musik oder sich wandelnder

Geschmack ausmachen, sondern in der der musikalische Parteienstreit der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts mit mehr oder weniger verhüllt vorgetragenen

antisemitischen Vorurteilen vermengt ist.(...)

 

Eine Aufarbeitung der Mendelssohn Rezeption hat zugleich eine quasi aufklärerische

Aufgabe: zu zeigen, wie sehr sich (...), knapp vierzig Jahre nach dem Ende des Dritten

Reiches, in dem die schon zuvor betriebene Verteufelung Mendelssohns ihren

Höhepunkt fand, die Urteile auf sachfremde “Argumente” stützen” schreibt Wulf Konold

in seiner Studie "Felix Mendelssohn und seine Zeit" aus dem Jahre 1984.

 

Was heißt das im Einzelnen:

Das Werk Mendelssohns verfiel einer eklatanten musikalischen Fehde, die sich ab 1850

zwischen "Neudeutschen Musikern" und "Traditionalisten" entwickelte. Die

"Neudeutschen Musiker", welche sich in Weimar um die Komponisten Franz Liszt und

Richard Wagner sammelten, forderten die Radikalität des musikalischen Ausdrucks

entgegen formalistisch akademischen Beschränkungen ein. Die "Traditionalisten" um

Robert Schumann und Johannes Brahms, propagierten hingegen die Bewahrung, aber

stetige Reformierung überkommener musikalischer Formen von Symphonie, Quartett,

Oratorium etc.

 

Unter Federführung des Musikkritikers und Redakteurs Franz Brendel -dieser

übernahm im Jahre 1845 die Redaktion der renommierten "Neue Zeitung für Musik" von

Robert Schumann -zog ein chauvinistischer Geist in das bislang unabhängige Organ

imaginärer Davidsbündler ein.

 

Während sich Schumann als Musikpublizist auf die Erörterung musiktheoretischer

Fakten beschränkte, ohne die ästhetische Reserviertheit gegenüber Kompositionen der

"Neudeutschen" zu verhehlen und Mendelssohn es generell ablehnte, sich Presse

zunutze zu machen, öffnete Brendel die Musikzeitung führenden Polemikern wie Karl

Freigedank, Theodor Uhlig, Hans von Bülow und Felix Draeseke.

 

In einem Editorial, zum Ende des Jahrgangs 1852 verfasst, verlieh Brendel dem Ziel,

welchem sich die "NZfM" fürderhin gänzlich widmen sollte, unmissverständlich

Ausdruck: "Diese Blätter haben fortan die Aufgabe, die Umgestaltung, welche der Kunst

bevorsteht, nach allen Seiten entschieden zu vertreten.“ (...)

 

Theodor Uhlig, geboren im Jahre 1821, wirkte ursprünglich als Violinist im Dresdner

Hofopernorchester. Dort machte er die Bekanntschaft mit dem von Februar des Jahres

1844 – bis Mai 1849 als Dresdner Hofkapellmeister agierenden Richard Wagner,

dessen Intimus er vor allem in den Jahren nach 1849 wurde. In der Zeit des Schweizer

Exils des in die Dresdner Maiaufstände verwickelten Komponisten war Uhlig somit ein

wertvoller Kontaktmann Richard Wagners zu den Musikzentren Dresden, Leipzig und

Weimar. Da Uhlig fest in den Freundes-und Wirkungskreis des Hofoperndirigenten

Wagner eingebunden war, trat er ab 1849/ 50, neben Franz Liszt und Hans von Bülow,

verstärkt als Publizist und Propagandist Wagners und der "Neudeutschen" hervor.

 

33

 

 


 

Herausgeber Franz Brendel, geboren im Jahre 1811, gestorben im Jahre 1868, war von

Hause aus Philosoph und widmete sich erst ab 1840 musikalischen und

musiktheoretischen Fragen. Als nahezu fanatischer Verfechter der Prinzipien

musikalischer Fortentwicklung und Moderne, erhob er den obligaten Verzicht auf die

Errungenschaften der Barockzeit, der Klassik oder Romantik eines Mendelssohn oder

Schumann zum Dogma.

 

Er ernannte, der Funktion eines Chefideologen der Neudeutschen Schule

entsprechend, die „romantischen Realisten“ (Robert Gutman) Franz Liszt, Hector Berlioz

und Richard Wagner zu deren Leitfiguren. Brendel übertraf somit die progressiven

Forderungen Schumanns und der in den Jahren 1833 bis 1844 versammelten

"Davidsbündler" bei weitem. Diese agitierten seinerzeit vordringlich gegen die

Seichtigkeit musikalischer Tagesware und die Schludrigkeit eines Konzertbetriebes, der

vor allem planlos zusammen gestellte Potpourri-Konzerte nach dem Prinzip des PrimaVista-

Musizierens hervorbrachte. Die von Brendel 1859 im Verlaufe einer

Tonkünstlerversammlung im Leipziger Schützenhof initiierte Gründung einer

"Neudeutsche Schule" verhalf dem Musiknihilismus schliesslich zu bedeutsamem

institutionellen Rang.

 

Im Jahre 1852 gab der Komponist Richard Wagner; somit eine Schlüsselfigur des

neudeutschen musikalischen Dogmas, die Denkschrift „Zum Vortrag Beethovens“

heraus, in welcher er Felix Mendelssohn, als Dirigenten besehen, jedwede innere

Anteilnahme bei der Interpretation Beethovenscher Kompositionen absprach.

 

Es heißt dort: „Mendelssohns Ausführung Beethovenscher Werke bezog sich stets auf

die nur rein musikalische Essenz derselben, nie aber auf deren dichterischen Gehalt,

den er gar nicht fassen konnte – sonst hätte er ja auch selbst etwas ganz anderes

zutage bringen müssen. Mich hat Mendelssohns Direktion, trotz seiner grossen

technischen Feinheit, immer in der Hauptsache unbefriedigt gelassen, es war mir

immer, als ob er sich nicht getraute, das sagen zu lassen, was Beethoven sagen wollte,

weil er selbst mit sich nicht im reinen darüber war, ob da eigentlich etwas gesagt sei,

und was? So hielt er sich immer mit dem feinsten musikalischen Witze an den

Buchstaben, und glich darin unseren Philologen bei ihrer Auslegung der griechischen

Dichter, an denen diese immer nur den Buchstaben, die Partikeln, die Lesarten usw.

auszudeuten haben, nie aber dem Gehalt.“

 

Wagner sah sich selbst in Überhöhung der Tatsachen in der Rolle als Beethovens

einziger und wahrer Dirigent und Interpret und konnte somit einen jüdisch-stämmigen

Konkurrenten, gleichwohl jener ja nicht einmal mehr unter den Lebenden weilte, nicht

neben sich dulden. Er zerstörte somit zielstrebig den herausragend Ruf den sich

Mendelssohn zu Lebzeiten als Leiter der Gewandhauskonzerte und Symphonischen

Interpreten erworben hatte auf rhetorischen und publizistischem Wege. Inhaltlich knüpft

er dabei an die in „Das Judentum in der Musik“ konstatierten Thesen von der

vermeintlichen Unmündigkeit der Juden, den wahrsten innersten Wert urdeutschen

Erbes, sei es als Autor, sei es als Interpret, zu erfassen an.

 

Was auch Wunder: bei Karl Freigedank und Richard Wagner handelte es sich doch

um ein und dieselbe Person. Erst später, erst im Jahre 1869 sollte Wagner den Mut

finden sich, als Autor jener umstrittenen Judenschrift öffentlich zu zeigen.

 

Anfangs des Jahres 1852 äußerte sich auch der Publizist G. A. Keferstein in der Neuen

Berliner Musikzeitung kontrovers in Sachen Mendelssohn-Rezeption.

 

34

 

 


 

Er bezog sich dabei unter anderem auf die Musik zu „Ödipus in Kolonos“, die Rezitative

und Chöre des unvollendeten Oratoriums „Christus“ und das Finale der gleichsam

unvollendeten Oper „Loreley“. Keferstein blickt dabei auf sein zehn-bis zwölfjährige

Bemühen eines permanenten Verweises darauf zurück, das mendelssohn letztendlich

überschatzt würde

 

Nichts desto Trotz gibt der Autor den Tatbestand zu Erkennen, dass „the excellent

services of a man, who in every thing in art that a fortunate talent can learn and achieve

through iron dilegence stands honorably beside the best of recent times (zitiert nach

Donald Mintz.) und nähert sich damit dem Gesichtspunkte Heinrich Heines vom

elaboriert zu Werke gehenden und dadurch fruchttragenden Talente anstelle des

produktiven spontanen Genies, an, welchen dieser 1844 in der Zeitschrift Lutetia

niedergelegt hatte, an.

 

Keferstein verweist darin unter anderem auf den spekulativen Umstand, dass das

Libretto des Christus-Fragmentes elaboriert, ohne innere organischer Notwendigkeiten

zusammengestellt worden sei und damit jenem des Paulus gleiche. Schliesslich giebt

der Publizist immerhin zu bedenken, dass „a great deal can be learned from the study of

Mendelssohn’s works whatever posterity´s final Judgement would be. (Mintz)“

 

In den Jahren 1848 bis 1852 legt Brendel das Wollen und die Zielrichtung der, von der

Revolution des Jahres 1848 beflügelten, neudeutschen Welle in mehreren Aufsätzen,

welche in der Neuen Zeitung für Musik erschienen, fest Er bezieht sich darin explizit auf

die Notwendigkeit eines Nationalen-neudeutschen Erwachens der Musik und der

Komponisten und wendet sich erklärtermaßen gegen „Kosmopolitische Deutschfranzösisch-

italienische Komponisten wie Meyerbeer. Damit legt Brendel die Zielrichtung

der musikalischen Expression vor, welche die zweite Hälfte des Jahrhunderts

dominieren sollte.. „Tastes and interests had turned toward the issues of expression and

characterization as the second half of the century understood them. For these Tastes,

much of Mendelssohn’s Music was simply irrelevant. Despite the growth of the historical

repertory, this irrelevanz was fatal”. Mintz verweist dabei auf das beethovensche

Musikalische Erbe und stellt dabei fest, das jenes durch die jeweilige Re-Interepretation

und Neu-Interpretation späterer Generationen modern geblieben sei. Aber jene

Zeitgenossen Brendels standen vor der scheinbaren Unmöglichkeit, Musik zu

reinterpretieren, deren Ausdrucksformen obsolet geworden sei. So stellten die Zeit-und

Weggenossen Brendels die von mendelssohn oft gebrauchte Form des Chorals in der

Kirchenmusik vollständig in Frage. Es waren die Zeiten um 1850 herum, in denen

Wagners Theorien, Schriften und Kompositionen erheblich an Einfluss gewannen. Es ist

ein Kuriosum der Geschichte, das Wagners Judentumpamphlet erst mit der um 1848

erkämpften Pressefreiheit zu publizieren möglich war. Mintz schliesst seine

Betrachtungen zu Mendelsohns Rezeptionsgeschichte mit der Feststellung, das

Mendelssohns oftmals in Formen und Genres gegossen war, in Musik, welche von der

musikalischen Revolution überholt und erledigt worden wäre. Because this is so, the

Mendelssohn Reception mirrors the conflicts and trends at mid-Century: questions about

the future and utility of the established musical-genres to be sure , but also about the

nature and direction of religion and its role in life. And behind varying views about this

matter there are great complexes of social attitudes for which the religous arguments in

part a surrogate. To this mix we need to add German and general European anti-

Semitism, a sentiment that grew to a movement and culminated in the Holocaust.

 

35

 

 


 

Mendelssohn’s reputation was tosses about by these currents and counter currents,

perhaps more than that of any of his significant contemporaries, and so it is not

surprising that his reputation declined so rapidly in the eyes of the advanced public soon

after his death.

 

1860 machte sich der Musikhistoriker August Wilhelm Ambros Gedanken um den

Zwiespalt zwischen aktuellem neudeutschen Fortschrittsstreben hin zum musikalischen

Drama auf der einen und einer Position konservativer Verharrung in den

mendelssohnschen Idealen der absolut verstandenen Tonkunst auf der anderen Seite.

 

Er fragt sich dabei also: „ob die Richtung Wagner-Liszt zu der Bedeutung gelangt

wäre und soviel Terrain gewonnen hätte, als sie tatsächlich gewonnen hat, wenn nicht

Mendelssohn in der Blüte seiner Kraft und seines Wirkens der Welt durch einen

plötzlichen Tod entrissen worden wäre. Mendelssohns Wirken, Streben und Schaffen

lässt annehmen, dass er als ganz entschiedener Gegner aufgetreten wäre.“

 

9. Von der musikalischen Wahrheit

Der Musikwissenschaftler und Publizist Adolph Bernhard Marx wiederum agitierte im

Zeichen einer schwerlich zu fassenden musikalischen “Wahrheit” nachhaltig gegen

“Verweichlicher” der Musik, ”Nachbildner” und ” unwahre Komponisten”. Marx war seit

dem Jahre 1830 als Dozent für Musikgeschichte an der Universität Berlin und später als

Herausgeber der "Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung" tätig, in welcher Dr.

Eduard Krüger im Jahre 1850 die Kampagne dezidiert antisemitisch intendierter

Musikrezeption eröffnete. Marx war einstmals ein enger Jugendfreund Felix

Mendelssohns mit eigener, aber glücklos verbleibender kompositorischer Ambition. Da

Marx sich dem Komponisten durch eine zunehmend abstrahierend musikphilosophische

anstelle einer angewandten Beschäftigung mit der Tonkunst entfremdete; diesen des

Weiteren um Geld und musikalische Protektion bedrängte, zerbrach die Freundschaft im

Jahre 1839. Marx vernichtete daraufhin die gesamte in seinem Besitz befindliche

Mendelssohn-Korrespondenz. Inwiefern sich eine etwa 10 Jahre später massiv

bezogene Position des „nachkantischen Ästheten“ (Werner) gegen das Oeuvre Felix

Mendelssohns auch der enttäuschten Freundschaft verdankt, ist nicht geklärt.

 

In Publikationen wie "Die Musik des 19. Jahrhunderts", im Jahre 1855 in Leipzig

herausgegeben, stellte Marx Mendelssohn nun als Prototyp solcherart „Verweichlicher“

etc. der Musik heraus. In genannter Musikgeschichte konstatiert Marx u. a. das diesem:

„(...) die eigentliche Macht und Höhe des Dramas nicht gegeben (...); ja, seinem fein

zurückhaltenden, mehr anempfindenden als ursprünglich schöpferischen Wesen im

Grunde widersprechend (war.)

 

Er führt weiterhin aus, daß – „im wahren Gegensatze“ zum Genie ein Talent wie

Mendelssohn „den (meist beglücktern) Beruf (habe), auszubilden und nachzubilden,

auch einseitig zu verbessern und zu verschönen oder annehmlicher zu machen, (also)

den dämonisch hochaufgerichteten Gedanken des Genius mit der Schwäche und Furcht

der Welt durch vermittelnde Zwischengestalten, die Nachbildungen sind,

auszugleichen.“ . Folgerichtig reüssiere Mendelssohn vornehmlich im "glücklichen

Salonwort" der "Lieder ohne Worte", in dem "ein mädchenhafter Hang (...) jedes kleine

Gefühlchen" musikalisch transponiere.

 

36

 

 


 

Auch hier wird ein später so folgewirksamer Titanen-& Heroenanspruch an Kunst

bedeutungsvoll vorformuliert. Freigedank spekulierte in seinen Ausführungen

schlichtweg auf diesen Anspruch und Mendelssohns naturgegebene Unfähigkeit,

demselben gerecht werden zu können.

 

Marx indessen versucht, keineswegs frei von polemisierendem Tonfall, den seinerseits

vorgenommenen Abgleich von heroischem Anspruch und konkreter musikalischer

Wirklichkeit zu Mendelssohns Ungunsten, ästhetisch und psychologisch, also

wissenschaftlich methodisch nachzuweisen. Marx muss also als Autor einer

Mendelssohn-Demagogie von musikwissenschaftlich-spätromantischem Gesichtspunkte

aus gelten. Diese sollte sich spätestens Mitte der 60ziger Jahre bis zur Unkenntlichkeit

der einzelnen Komponenten mit der dezidiert antisemitisch intendierten Mendelssohn-

Rezeption der Neudeutschen vermengen. Das der erste Protagonist letztgenannter

Argumentationsweise, Dr. Krüger, ein Autor der von Marx editierten Berliner

Allgemeinen musikalischen Zeitung war, ist dabei ein Detail von Interesse und

Pikanterie.

 

Des Weiteren gibt Marx den Stereotyp des schwächlichen, feinnervigen, emotional

überregbaren Musikers Mendelssohn vor, welchen zahllose Musikhistoriker und

Publizisten bis in die 80ziger Jahre des 20. Jahrhunderts als verfestigtes Klischee

kolportieren sollten.

 

Die Erkenntnis vom Drama, welches nicht in erster Linie für Mendelssohns Schaffen

prägend war, ist faktisch korrekt, verkennt aber vollständig die Motivation dieser

Zurückhaltung dramatisch-musikalischen Affektes gegenüber. Während Marx die

Gründe in der vermeintlich schwächlichen Ausprägung des Charakters und der

Unfähigkeit dramatischen Empfindens sucht, stand Mendelssohn in Wahrheit der

dramatischen Entäußerung in der Kunst mit ästhetischem Vorbehalt gegenüber.

 

Mendelssohn war durch die strenge, stetig zu Fleiß, Pflichterfüllung, sittlicher

Läuterung und Contenance anhaltende Erziehung im Elternhause vollständig vom

verinnerlichten und dem grossen Vorbilde Johann Wolfgang von Goethe vorgegebenen

humanistisch-klassizistischen Ideal menschlicher und gesellschaftlicher Erhebung durch

erhellendes, läuterndes kulturelles Gut durchdrungen,

 

Dies ließ Mendelssohn die Komposition von Erregtheit, dramatischer Entäußerung,

romantischer Zerrissenheit, Nachtseiten der Seele und expliziter emotionaler Abgründe

letztendlich suspekt, möglicherweise unanständig erscheinen. Dramatik vollzieht sich in

Mendelssohns Kompositionen stets anschaulich, wenn das, ethischen Belangen

verpflichtete musikalische Sujet seinerseits einen dramatischen Verlauf nimmt, wie im

alttestamentarischen Epos "Elias" vorliegend.

 

Gleichsam regte das Erlebnis der Naturgewalten, geschichtlicher Orte und Augenblicke

wie im Falle Schottlands und der gleichnamigen Symphony; oder diese der Dichtung

und dem Volksmärchen implizite Spannung, welcher wir beispielsweise die Ouvertüre

von der Schönen Melusine verdanken Mendelssohn zu hochrangiger dramatisch-

musikalischen Äußerungen an. Andererseits ließ Mendelssohn einer dramatischen

Entwicklung freien Lauf, wenn sich das musikalische Material absolut aufgefasster

Kompositionen in der Durchführung zu höchster formaler und emotionaler

Binnenspannung verdichtete.

 

37

 

 


 

Diese vollzieht sich dann allerdings aus Momenten höchster geistiger und musikalischer

Konzentration und ist oftmals -vorausgesetzt, Meisterdirigenten und Pianisten

vermochten es, dem hohen musikalischen Gehalt Mendelssohnscher Werke vollends zu

entsprechen -daher in ihrer Spannung fast nicht erträglich.

 

Man mag diese humanistische Haltung zu Fragen der Musik und der Kunst , den ideal

verstandenen Anspruch ästhetischer Zucht und Selbstzucht teilen und kultivieren. Man

mag ihn subjektiv ablehnen und anderen Ansprüchen und Erfahrungen innerhalb der

vielfältigen Möglichkeiten musikalischer Artikulation nachgehen.

 

Mendelssohns Auffassung vom Ziel musikalischen Wirkens ist zweifellos genauso wenig

„wahr“, wie es die von den "Neudeutschen" erstrebte Symbiose von Musik und Drama

oder die spezielle absolute musikalische Wahrheit Bernhard Adolph Marx jemals war

und ist. Als intimer Jugendfreund noch aus den Tagen der bei Carl Friedrich Zelter

genossenen Singschule trug Marx mit dramaturgischem Rat maßgeblich zur Konzeption

der immerhin als genial apostrophierten "Sommernachtstraum-Ouvertüre bei. Im

Gegensatze zu manch nachgeborenem, inkognito urteilendem Kollegen, hätte er

zumindest die authentischen Ursachen einer spezifisch Mendelssohnschen Verhaltung

gegenüber einer Relation von Musik und Drama besser kennen müssen.

 

Eine bemerkenswerte Abhandlung der Problematik adäquater Mendelssohn-

Nachbereitung vollzog die „Berliner Feuerspritze“ im Jahre 1855 in ihrer Rezension vom

 

12. November einer Festaufführung des Oratoriums „Elias“, welche der Sternsche

Gesangverein Berlin Mendelssohn zum Gedenken ausrichtete. Hans von Bülow

zeichnet dafür wiederum als Verfasser. Kunstfertig entledigte er sich dabei einer

offenkundig ungeliebten Aufgabe in einzigartig glückreichem Vollzug des Paradoxons

einer Quadratur des Kreises. Genauer: der repräsentativen Würdigung eines

Komponisten und seines Werkes zu akklamieren und des Weiteren den Anlass zur

Herabsetzung des musikästhetischen Spektrums aus der Neudeutschen Sicht einer

Musikdramatiker -Partei desselben zu missbrauchen.

Von Bülow Schreibt also:

"Die Tonkunst sollte ihren eigenen Festtagskalender haben. Die schöne und würdige

Feier. welche der Sternsche Gesangverein dem Gedächtnisse Felix Mendelssohns und

sich selbst zu Ehren durch die Aufführung des "Elias" am 8. November veranstaltete,

erweckt den Wunsch, auch andere grosse Tondichter der Vergangenheit in ähnlicher

Weise gefeiert zu sehen. Merkwürdig, dass sogar ein Institut, dem der genannte

Meister, oder vielmehr sehr bewusst absichtlich sich ferne hielt, dass das Königl.

Opernhaus durch eine Vorstellung des "Sommernachtstraumes" einer solennen

Anspielung ganz ausnahmsweise sich -unschuldig machte. Es war kein Zufall, dass

Felix Mendelssohn in seines Genius` Irrtum von diesem durch den Tod entrissen wurde,

als er dem - Irrtum der modernen "Oper" sich zuzuwenden begriffen war.

 

Was hätte Mendelssohn, -von dessen specifisch musikalischer Begabung auch der

Gegner zugeben muss, dass er der nächste ist nach Mozart, -in dem musikalischen

Drama Vollendeteres leisten können, als Mozart im "Don Juan" schon geleistet? Einem

solchen, immerhin nur genialen Reproduzieren würde aber eine ästhetisch-historische

Berechtigung im höheren Sinne gefehlt haben".

 

38

 

 


 

Schließlich begibt sich von Bülow gar in die Rolle des Propheten und verkündet dem

zeitgenössischen Auditorium in allwissender Vorausschau, das auch ein in den Jahren

gereifter Komponisten niemals substantielles, dem Anspruch neudeutschen

„Fortschrittsprinzips“ gemäßes , zu vollbringen fähig gewesen wäre:

 

"Diese flüchtige Andeutung soll nur der in der posthumen Verehrerschaft des grossen

Musikers ziemlich verbreiteten sentimentalen Ansicht entgegen, als ob Mendelssohn,

wenn ihn nicht ein frühes Ende erreicht, noch Höheres, Unvergänglicheres geleistet

haben würde, als wir von ihm besitzen. Diese Ansicht steht auf einer Stufe mit der

bekannten Aufgabe, welche ein Pensionsvorsteher seinen Zöglingen stellte: "Würde

Egmont Klärchen geheiratet haben, falls er nicht hingerichtet worden wäre?"

 

Wir glauben dem Genius weit freier und begeisterter zu huldigen, wenn wir

aussprechen: "Der Elias ist das den hohen Geist seines Schöpfers am umfassendsten

und resümierendsten darlegende Werk, in welchem er seine Mission erfüllt und

vollendet hat".

 

Zunehmende Öffentlichkeitswirksamkeit und Publikumserfolge der Werke

"neudeutscher" Tonsprache (vor allem der Bühnenwerke Richard Wagners und der

Oratorien und symphonische Rhapsodien Liszts) bewogen die Ideologen der

"Neudeutschen Schule", ihren Kreuzzug gegen alles dem Fortschrittsprinzip vermeintlich

im Wege stehende zu verschärfen. Nachdem man Felix Mendelssohn als vormalige

Leitfigur bekämpfter traditionalistischer Ästhetik plangemäß „erledigt“ hatte und

Meyerbeers Bühnenwerke sich bis auf weiteres resistent gegen das Unterfangen

rhetorischer Unterhöhlung erwies, rückten nun die „konservativen“ Romantiker Robert

Schumann und Johannes Brahms ins Blickfeld neudeutschen Interesses. Mitte der

50ziger Jahre des 19. Jahrhunderts bemühte man sich intensiv, Schumann der

Neudeutschen Idee einzuverleiben; ja ihn neben Opernreformer Richard Wagner

gleichsam zu einer neudeutschen Leitfigur des symphonischen Sektors aufzubauen.

 

Hans von Bülow stellte Schumann im November 1853 noch ganz selbstverständlich als

Repräsentanten einer „neuen(n) romantischen Schule“ Wagner und Berlioz gleich

(„NZfM“ 11/12/1853), Franz Liszt propagierte von Weimar aus Schumanns

Vorkämpfertum „musikalischen Fortschritts“. Im Jahre 1860 richtete die Neudeutsche

Schule ein Schumann-Fest in Zwickau aus.

 

Clara Schumann, im Vernehmen, es mit einer Propagandaveranstaltung zu tun zu

haben, auf der das Angedenken Ihres Mannes zu ideologischen Zwecken missbraucht

würde, lehnte eine Teilnahme als Pianistin und Ehrengast ab.

 

„Ich kann doch nicht dahin gehen, um ein solches Fest mit den Menschen zu

begehen, die ich aus tiefster Seele (als Musiker) verachte“. Joseph Joachim bestärkte

sie in dem Entschluss, indem er ihr eindringlich mögliche publizistische Folgewirkungen

einer Teilnahme der Witwe Schumanns vor Augen hielt. Er gemahnte, es könne im

Nachhinein als Beweis dessen herangeführt werden, „dass Schumann mit den neuesten

Fortschritten zur Unmusik gemeinsame Sache gemacht habe".

 

Nachdem Reflektionen der Neudeutschen auf Robert Schumann im Jahre 1860 im Eklat

endeten, schlug die publizistische Stimmung seitens der "Neudeutschen" schlagartig

um. Führende Repräsentanten der Schule wie Hans von Bülow und Felix Draeseke

bedachten das musikalische Angedenken Schumanns mit offenkundiger Häme.

 

39

 

 


 

Es überrascht wohl kaum noch, daß die biographische und musikalische Relevanz zu

Person und Werk Felix Mendelssohns als Leitfaden und Begründung musikalischer

Mittelmäßigkeit des Schumannschen Oeuvres herangeführt wurde. Bereits im Jahre

1856 schloss ein im Berliner Echo veröffentlichter Nachruf, daß mit dem Tode Robert

Schumanns ein „Ausläufer der Mendelssohnschen Richtung“ zum Ende gelangt sei.

„Vorwiegend Eklektiker und scharf kritisch sichtender Verstandesmensch, konnte man

ihn (Schumann) mit Recht den musikalischen Lessing nennen.“ resümiert der Nekrolog

des Weiteren.

 

Geflügelte Worte brachte die neudeutsche Publizistik in die Schumann-Rezeption ein.

So verdankt dieselbe Felix Draeseke jenes viel strapazierte Verdikt: „Schumann hat als

Genie angefangen und als Talent aufgehört.“ Hans von Bülow wiederum prägte die

signifikante Metapher des Felixschülers Robert Schumann heraus und streicht somit

den von Felix Mendelssohn ausgeübten Einfluss vermeintlicher klassizistischer

Stagnation hervor, in dessen Leipziger Fangstricken sich Schumann zeitlebens

verfangen habe, schlimmer noch: welcher Schumann „verdorben“ habe. Bülow

konstatierte im Jahre 1860 also resignativ: „War der Mensch genial, bevor er bei Felix in

die Schule ging, Leipziger Kaufleute zu hüten.

 

Des Weiteren geißelte von Bülow die „Schumannsche Intervallheulerei“ als unerträglich

und verkündete demonstrativ, jedwede „Halbdillettantenmusik lieber als eine

Schumannsche Symphonie (aufzuführen), deren bloße Lektüre ihm eine Tortur (sei)“.

Bülow kündigte des weiteren einen grossen Schlag, die Veröffentlichung einer

Broschüre an, welche die gegen Berlioz agitierende „Instrumentationsleere“ der

verhaßten Schumannianer-Partei ins Lächerliche ziehen und daher „die Form einer

kleinen Handgranate“ erhalten solle. Walter Dahms zufolge, ließ sich Hans von Bülow,

seinem Vorbild Richard Wagner dabei nicht unähnlich, von emotionalen Wallungen

oftmals zu Pauschalmeinungen hinreisend. Und nur so erklären sich Aussagen und

Zeugnisse, welche sich in Bewunderung und Zuneigung einerseits, scharfer Ablehnung

und Diffamie andererseits zeitweilig vollständig widersprechen. Was einmal in

Zynismus und Häme abgetan, findet zu anderer Gelegenheit wiederum zu Worten

warmherziger Verehrung. Neben den Faust und Genoveva–Kompositionen Robert

Schumanns, sowie dessen frühen Klavierwerken beispielsweise Musik und Wirken Felix

Mendelssohns!

 

Man kann sagen, daß sich im Falle Robert Schumanns eine rezeptionsgeschichtliche

Entwicklung anbahnte, welche derjenigen Felix Mendelssohns zeitweilig ähnelte.

 

Nicht in der gleichen Intensität und Nachhaltigkeit; da der entscheidende Aspekt

fremdenfeindlichen Ressentiments im Falle Schumanns nicht zur Verfügung stand.

 

Dennoch prägten sich in jener Zeit Fehlrezeptionen seines Werkes heraus, welche

sich im musikalischen Bewusstsein und musikgeschichtlich allgemeingültig verfestigten

und noch heute um Schumanns Oeuvre herum irrlichtern. In der Hauptsache prägte

sich seinerzeit das unsinnige, spekulative Argument heraus, dieser „habe nicht

instrumentieren können“, die Symphonien „seien schlecht, intransparent und zählebig

instrumentiert“.

 

Überhaupt habe Schumann ja am originärsten fürs Piano geschrieben, habe sich dem

symphonischen Satz vom Pianistischen her genähert und für die Symphonik kein

rechtes Empfinden aufgebracht.

 

Diese Stereotypisierungen fanden zu einiger musiktheoretischer Erörterung, an

Versuchen, die Symphonien durch nachträgliche Retuschen (Mahler) zu „korrigieren“

 

40

 

 


 

und somit für das Repertoire zu „retten“, fehlte es nicht. Angesichts synonymer Abfolge

rezeptionsgeschichtlicher, Parallelitäten, von Intention und Argumentation, Ursache und

Wirkung traditionalistischer Musiker wie Mendelssohn und Schumann, stellt sich nun die

Frage, warum es das Werk des einen zu „retten“ galt, während dasselbe des anderen

brachlag. Die Gründe dafür dürften wohl kaum im Bereich des Musikalischen zu suchen

sein!

 

Dennoch waren die Anhänger traditionalistischer Ästhetik den Umtrieben aggressiv

neudeutscher Rhetorik keineswegs gänzlich rückhaltlos ausgesetzt. Neben den

genannten Schumannianern um Joseph Joachim, Clara Schumann und dem Publizisten

Herrmann Grimm verfügten dieselben mit der von Mendelssohn ins Leben gerufenen

Musikakademie über einen gewichtigen, einflussreichen Stützpunkt. Des Weiteren erbot

sich in der Person des berufenen zeitgenössischen Komponisten Johannes Brahms ein

respektabler Widerpart gegen den in den 7oziger und achtziger Jahren des 19.

Jahrhunderts erdrückend übermächtigen Schatten des neudeutschen Musikdramatikers

Richard Wagner, welcher mit dem brillanten Feuilletonisten Eduard Hanslick einen

einflußreichen publizistischen Mitstreiter an seiner Seite hatte. Joseph Joachim hatte im

Herbst des Jahres 1857 brieflich mit dem ehemaligen musikalischen Weggefährten

Franz Liszt gebrochen und begründete seine Weigerung, an einer Tonkünstlerfeier zum

 

100. Geburtstag des Weimarer Großherzogs Carl August teilzunehmen

folgendermaßen:

"Die Beharrlichkeit Deiner zutrauensvollen Güte, mit der Du (...) Dich zu mir neigst,

um mich dem Verein der von Deiner Kraft bewegten Freunde angefügt zu sehen, hat für

meinen bisherigen Mangel an Offenheit etwas beschämendes. Hätte ich nicht dass

tröstende Bewusstsein, dass dieser Mangel an Offenheit nicht Feigheit sei, und

vielmehr mit dem besten Gefühl verwandt war, das (...) die tiefe Wahrheitsliebe und die

Tiefe Neigung zu Dir (...) ein Stachel für Dich zu werden (...) imstande sein könne. (...)

 

Ich bin Deiner Musik gänzlich unzugänglich; sie widerspricht allem, was mein

Fassungsvermögen aus dem Geist unserer Grossen (...) als Nahrung sog.

 

Wäre es denkbar, dass ich je dem entsagen müsste (…) was ich als Musik empfinde,

Deine Klänge würden mir nichts von der ungeheuren, vernichtenden Öde ausfüllen. Wie

sollt ich mich (...) da mit denen verbrüdert sehen -die die Verbreitung Deiner Werke mit

allen Mitteln zu ihrer Lebensaufgabe machen? (...)

 

Ich kann euch kein Helfer sein und darf Dir gegenüber nicht länger den Anschein

haben, die Sache, die Du mit Deinen Schülern vertrittst, sei die meine. So muss ich

denn auch Deine liebe Aufforderung zur Teilnahme an den Festlichkeiten in Weimar

unbefolgt lassen: ich achte Deinen Charakter zu hoch, um als Heuchler (...) gegenwärtig

zu sein."

 

Die Funktion des Konservatoriums als Reservoir des humanistisch inspirierten,

musikalisch absolut ausgeprägten Kompositionsideals Mendelssohns erwies sich vor

allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings als eine zweischneidige.

 

Einer vielfach überlieferten kulturgeschichtlichen Erfahrung entsprechend, wonach

Adepten kaum jemals die vom Initiator eines Reformwerks vorgegebenen

Idealvorstellungen auf gleicher Höhe weiterzuführen in der Lage waren, agierten

demzufolge auch die Getreuen des ehemaligen Leipziger Generalmusikdirektors und

Hochschulleiters. Diese waren vor allem Ignaz Moscheles, Moritz Hauptmann,

Ferdinand David, Julius Rietz, und Niels W. Gade; letzterer ein zeitgenössisch

hochangesehener Komponist dänischer Herkunft.

 

41

 

 


 

Lassen wir noch einmal Hans von Bülow als Zeitzeugen und Kommentator zu Worte

kommen:

 

"Eine andere Partei hielt dagegen treu an dem Todten fest, aus Pietät, aus

persönlicher Freundschaft, aus musikalischer oder nationaler (d. h. semitischer,

Anmrkg. d. Verf.) Sympathie, und weihte nun den überlebenden Quasischülern

(Nachbetern) Mendelssohns eine größere Beachtung als früher. Dahin gehörten

namentlich die Praktiken, denen an einem Nachfolger des Dirigenten Mendelssohn

gelegen war und die einen solchen in Rietz fanden..." (Zitiert aus dem Aufsatz "Das

musikalische Leipzig in seinem Verhalten zu Richard Wagner")

 

Als Vorstände des Konservatoriums trachteten die Genannten, den von Felix

Mendelssohn authentisch ausgeprägten Istzustand ideal angeleiteten ambitionierten

Musizierens mustergültig festzuschreiben.

 

„Er hat mich an das ihm so liebe Institut berufen; ein Wirken daran mit ihm wäre mir eine

tägliche Freude und Genugtuung gewesen, das Wirken daran ohne ihn bleibt mir Pflicht

und heiliges Vermächtnis. Ich muss nun für uns beide arbeiten."

 

So beschied Ignaz Moscheles -im Oktober des Jahres 1846 von Felix Mendelssohn

ans Konservatorium berufen -seine Gattin Charlotte in ihren Erwägungen einer

Rückkehr nach England nach Mendelssohns unerwartetem Verscheiden. Treffender

lassen sich Vorstellungen und Geisteshaltung kaum zusammenfassen, mit welchen die

Nachlaßverwalter vermeintlich Mendelssohnschen Gründungs-und Arbeitsgedankens

am Leipziger Musikkonservatorium an diese Aufgabe herangingen.

 

Ausdrücke wie "Pflicht" und "heiliges Vermächtnis" legen den Verdacht auf ein gewisses

Maß von Fundamentalismus, Dogmatik, „konservierende“, ein Ideal für alle Zeiten

festschreibende, formal in sich erstarrende Gralshüterschaft bei der Bewältigung dieser

Aufgabe nahe. In diesem Bemühen übersahen die Repräsentanten eines expliziten

Leipziger Konservatoriumsstils jedoch das Bestreben Mendelssohns, die propagierten

musikalischen Formvorgaben konzeptionell, harmonisch und klangsprachlich um eigene

Erfahrungen und Einsichten zu erweitern. Bereits in den 50ziger und 60ziger Jahren des

 

19. Jahrhunderts verfestigte sich, dem hohen Ruf und weitreichenden

kompositionstheoretischen Einfluss des Institutes zum Trotze dort ein Akademismus

substanzarmer unflexibler Musikkonservative. Im Sinne der charakteristischen Adorno-

Maxime: „Mendelssohn – gegen seine Liebhaber verteidigt!“ bedingte diese Haltung die

fehlgeleitete Vermächtnispflege eines Klischees, welches sich auf die zeitgenössische

Einschätzung der originären musikalischen Kompetenz des Konservatoriumsgründers

im Nachhinein unglückselig auswirken sollte.

Zum einen firmierte das im Akademismus verharrende Konservatorium zu Leipzig in

verallgemeinerter öffentlicher Wahrnehmung als „Mendelssohn-Schule“, galten

Absolventen desselben – gleich dessen, ob es sich um heute möglicherweise zu Recht

vernachlässigte Kompositeure wie Martin Blumner, Friedrich Kiel, Ludwig Meinhardus,

Karl Reinecke und Robert Volkmann Joachim oder wahrhaft inspirierte Tonschöpfer wie

Max Bruch oder Edvard Grieg handelt - pauschal als „Mendelssohnianer“ und Epigonen.

 

Des Weiteren unterfing sich das Konservatorium -vor allem unter der Ägide des

Thomaskantors Moritz Hauptmann -in der musikästhetischen Diskussion gegen die

Bestrebungen "neudeutscher" Avantgardisten zu polemisieren. Hauptmann trachtete

danach, Repräsentanten Neudeutscher Musik dem Konservatoriumsbetrieb so weit als

möglich fernzuhalten, um den bestehenden Ruf zentralen traditionalistischen

kompositionstheoretischen Lehrens in Deutschland und Europa keinesfalls zu

gefährden.

 

42

 

 


 

Dies gab selbstredend Anlas zu aggressiv vorgetragenen publizistischen Retouren

neudeutscher Ideologen auf das Konservatorium als „Mendelssohn-Schule“; ließ somit

den Konservatoriumsinitiator erneut zum Ziel rhetorischer Attacken werden.

 

Das Wort von den epigonalen „Mendelssohnianern“ machte die Runde, der

nazarenisch-erbaulichen Kleinmeisterei postbachscher und -Mendelssonscher

Oratorien, der pianistischen Kleinwerke, welche bei Mendelssohn noch mit wahrer

poetischer Empfindung erfüllt, sich nunmehr in kitschigem Sentiment ergössen; die

Begriffe „Geschmacksgefährlichkeit des Mendelsohnschen Vorbildes“ (Riemann) oder

der pianistischen „Salonmusik“ kamen auf.

 

Dem spezifischen Unterfangen einer Konsolidierung des Mendelssohnschen Erbes

zumindest dienlicher erwies sich die publizistische Tätigkeit Hanslicks. In der Rezension

einer Veranstaltung der Wiener Singakademie in der Zeitungsrubrik "Aus dem

Konzertsaal" aus dem Jahre 1858 entlarvt er, neben einer erwartungsgemäß vom

traditionalistischen Standpunkt aus geführten Suada gegen die Verrottung

musikästhetischer Gepflogenheiten, hellsichtig die Intention des gegen Mendelssohn

betriebenen "neudeutschen" Nihilismus:

 

„Die Degradierung Mendelssohns zu einer „falschen Zwischenbildung“ in der

Geschichte der Musik muss wohl die Ansicht in sich schließen, daß wir ohne diesen

Auswuchs viel weiter wären. Darauf ist zu erwidern, daß im Gegenteil in Mendelssohns

Erscheinen gerade zu dieser Zeit und in diesem Zusammenhang eine der weisesten

Fügungen der Kunstgeschichte liegt. Ohne seine Formschönheit, sein reines, klares

Gestalten wäre (...) die Verwilderung, die wir gegenwärtig in der „Zukunftsmusik“

erleben, viel früher und ungleich verderblicher eingebrochen.“

 

Im Jahre 1869 gab sich der Komponist Richard Wagner öffentlich als Verfasser einer

zweiten, überarbeiteten Fassung des "Judenthums in der Musik" zu erkennen. Unter der

Protektion des Bayernkönigs Ludwig II. hatte er mit den Uraufführungen von "Tristan

und Isolde" und den "Meistersingern" in München endgültig die Anerkennung eines

Opernreformers und Musikdramatikers gefunden. Mit der wachsenden Popularität

seines musikalischen Werkes nahm auch der Einfluss des Theoretikers Richard Wagner

auf das kulturelle und geistige Leben des späten 19. Jahrhunderts zu. Somit griffen

auch dessen antisemitischen Ansichten um sich, welche er in weiteren verschärft

argumentierenden Schriften erhärtete.

 

10.Der letzte Deutsche

 

Jens Malte Fischer vertritt in seiner fulminant recherchierten und verfassten Schrift

„Richard Wagners „Das Judenthum in der Musik“ (welcher die Fakten zur Gestaltung

aller dem Judenpamphlet gewidmeten Abschnitte hiesiger Ausführungen entnommen

sind) die These, das erst die Zweitpublikation des Traktates „der eigentliche Sündenfall“

des Wagnerschen Antisemitismus gewesen sei.

 

Im Gegensatz zu dem perfiden und feigen Versteckspiel des jungen mittellosen

exilierten, weithin verkannten Musikdramatikers um das Pseudonym „Karl Freigedank“

herum, unterzeichnete ein nunmehr erstarkter und breitgefächert akzeptierter Richard

Wagner mit dem eigenen vollen Namen. Das Pamphlet erschien im März 1869 als

Broschüre im J. J. Weber Verlag in Leipzig. Wagner versah es mit einem kurzen

Vorwort und einer langen Erläuterung im Nachsatz.

 

43

 

 


 

In den Jahren zwischen der gescheiterten Revolution von 1848 und den siebziger

Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die allgemeindeutsche Judenemanzipation und

Konfessionsgleichstellung rasche Fortschritte gemacht. Wagner sah sich im Jahre 1869

mit einem Ausmaß „drohenden“ Einflusses von gleichgestellten Juden in der

Gesellschaft gegenüber, welches seine wiedererstarkten antisemitischen Aggressionen

und Aversionen dem Judentum gegenüber hervorrief.

 

Die Neupublikation von „Das Judenthum in der Musik“ muss also als unmittelbare

Reaktion auf diesen Gleichstellungsschub im Jahre 1869 gesehen und verstanden

werden. Einen wesentlichen Einfluss auf die antisemitischen Eruptionen Wagners im

Jahre 1869 hatte der Aufsatz „Was ist deutsch?“, welcher dem Briefwechsel Wagners

mit König Ludwig II. entnommen ist. Darin versuchte Wagner mit allen ihm zu Gebote

stehenden publizistischen Mitteln den König (allerdings völlig ergebnislos) für seine

antisemitische Einstellung zu gewinnen.

 

Noch im Jahre 1882, im Zuge von Querelen zwischen Wagner und Ludwig II. um dieÜberlassung der Königlich Münchnerschen Hofkapelle und deren jüdischen Leiters für

die Uraufführung von Parsifal in Bayreuth, schreibt Wagner an den König prophetisch

vorausgreifend:

 

„Der ich mit mehreren dieser Leute freundlich mitleidsvoll und teilnehmend verkehrte,

konnte ich dies doch nur auf die Erklärung hin ermöglichen, dass ich die jüdische Race

für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halte: dass

namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiss, und vielleicht

bin ich der letzte Deutsche , der sich gegen den bereits alles beherrschenden

Judaismus als künstlerischer Mensch aufrecht zu erhalten wusste“.

 

Überhaupt machte Richard Wagner anlässlich des von ihm selbst und seiner

künstlerischen, finanziellen und politischen Maßlosigkeit verschuldeten Scheiterns

seiner Münchner Pläne und den erneuten Gang ins Exil nahezu fiktiver „jüdischer

Verschwörer“ in München verantwortlich.

 

Dies stachelte den in der zweiten Hälfte der 1860ziger Jahre angewachsenen Zorn

Wagners gegenüber der insgesamt als feindlich imaginierten „jüdischen Race" auf,

welcher in der Aufsehen erregenden Neupublikation des „Judenthums in der Musik“

eben am Ende jener 1860ziger Jahre einmündete.

 

Die zersetzende, Wagners Text und Musik als Ingredienzien eines gewaltigen Bluffs

verortete Rezension der Uraufführung der „Meistersinger“ in München durch den Kritiker

Eduard Hanslick ließ das Fass antisemitischer Aggression in Wagners Denke

sprichwörtlich überlaufen und gab somit einen letzten Anschub der Neuedition des

Judentraktates.

 

Der Wiener Rezensent Eduard Hanslick hatte sich von der anfänglichen Bewunderung

des jungen Richard Wagner zum nunmehr schärfsten und gefährlichsten Gegner des

selbsternannten Musikdramatikers entwickelt. Die Tatsache, dass Hanslick Jude war,

stachelte Wagner zu besonderem Hass gegenüber dem mächtigen Rezensenten auf

und verleitete ihn dazu, diesen mit der Figur des Merkers (also Kritikers) Sixtus

Beckmesser in dem Personenstab der „Meistersinger“ zu karikieren. (Die Figur sollte

anfangs sogar Hans Lick heißen.)

 

Hanslick schrieb also: „Nicht die Schöpfung eines echten Musikgenies haben wir

kennengelernt, sondern die Arbeit eines geistreichen Grüblers , welcher -ein

schillerndes Amalgam von Halbpoet und Halbmusiker – sich nach der Spezialität seines

in der Hauptsache lückenhaften in Nebendingen blendenden Talentes ein neues

System geschaffen hat, ein System, das in seinen Grundsätzen irrig, in seiner

konsequenten Durchführung unschön und unmusikalisch ist“.

 

44

 

 


 

Hanslick legt dabei die beiden zentralen eklatanten Schwächen im Getriebe von

Wagners gesamten musikdramatischen Wirken bloß. Die Tatsache das der „Halbpoet“

Wagner die Poesie stets nur zweckdienlich, anhand der Massvorgabe seines

dramatischen Anliegens betrieb, bedingt, das solche sklavisch linear aufgefasstes

Versgeschmeide sich niemals zu der Wirkmächtigkeit eines unbedingten freien

Aufschwungs an einem entgrenzten, poetischen Horizont fähig sein kann.

 

Des weiteren verdeutlicht Hanslick, dass der „Halbmusiker“ Richard Wagner,

beschwert auch von seiner mangelhaften musikalischen Ausbildung, eine wiederum

nur der tonkünstlerischen Entsprechung eines verbalen und dramaturgischen

Leitfadens, oder besser: eines Konstruktes dienende, ohne Ansehen harmonischer

Gesetzmäßigkeiten und des formalen Gestaltungswillens, geschaffene lineare Musik

vorlegte, welche rein musikalisch besehen, schlichtweg nichts taugt.

 

In der Neupublikation ereiferte sich Wagner unter anderem über die Heimat-und

Musikstadt Leipzig und schmäht dabei auch wieder das Andenken Mendelssohns,

welcher der Stadt eine „eigentliche musikalische Judentaufe“ erteilt und jene dadurch

zur „Judenmusikweltstadt“ gemacht habe. Ausfälle wie jene gegen das „moderne

Israel“, den „Judenjargon“, das „Musikjudentum“ und die „Musikjuden“ folgten.

 

Wer sich angesichts dieser Schlagworte unwillkürlich an die verbürgte Hetzsprache

des Nazi-Regimes erinnert fühlt, tut dies zu recht: so unglaublich vieles war schon

bereits von Wagner aus-und vorformuliert worden und brauchte nur aufgegriffen und

angewandt zu werden.

 

Zentraler Punkt des Schreibens ist die Suggestion einer abwegigen paranoid

empfundenen „jüdischen (Musik-) Weltverschwörung gegen Person, Werk-und Ruhm

Richard Wagners“. (J. M. Fischer)

 

Was Wagner in Wahrheit selbst mit nachhaltigem Erfolg betrieb, die umfassende

Zerstörung des Werkes und Ruhmes eines angesehenen Komponisten mit

publizistischen Mitteln, wähnt er mit pathologischem Eifer, quasi wie ein Schattenboxer,

auch gegen sich selbst gerichtet.

 

Er schrieb also: „Denn über Eines bin ich mir klar: so wie der Einfluss, welchen die

Juden auf unser geistiges Leben gewonnen haben, und wie er sich in der Ablenkung

und Fälschung unserer höchsten Kulturtendenzen kundgibt, nicht ein bloßer, etwa nur

physiologischer Zufall ist, so muss er also auch als unleugbar und entscheidend

anerkannt werden. Ob der Verfall unserer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung

des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könnte vermag ich nicht zu

beurteilen weil hierzu Kräfte gehören müssten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist.“

 

Wagner blickt also dabei prophetisch in die Zukunft und sieht dort Kräfte

heraufdämmern, welche er in seinen Schriften mit gewaltigen Worten wiederum selbst

heraufbeschworen hatte.

 

Wagners Person geriet denn in den späten 1860ziger und in den 70ziger Jahren auch

zu einem Empfänger von quasi umfassendem, unbedingtem, royalem Anspruch

zahlloser antisemitischer Denk-und Hetzschriften oder wurde, besser gesagt, darüber

hinaus gar zum geistigen Führer einer neuen antisemitisch-politischen Bewegung in

Deutschland.

 

Im Privatleben Wagners, welches sich so treffend in Cosimas Wagners Tagebüchern

überlieferte, herrschte denn auch die Meinung vor, mit der Neupublikation des

 

45

 

 


 

Judentraktates den Anfang der Antisemitismusbewegung der 1870ziger Jahre gegeben

zu haben und so reflektierte Cosima Wagner im Tagebuch stolz und frohgemut: „Wir

lachen darüber, dass wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die Juden den Anfang

dieses Kampfes gemacht hat“.

 

Jens-Malte Fischer fasst im Abschluss seines Kapitels „Die Wirkung der Broschüre

von 1869“ denn auch folgerichtig zusammen: „Er (Wagner) gab der zehn Jahre später

ausbrechenden massiven Antisemitismuswelle eine Art Anschubfinanzierung, und so ist

seine und Cosimas Befriedigung darüber, daß die Broschüre den Anfang gemacht habe,

leider von der historischen Wahrheit nicht sehr weit entfernt.“

 

Und so schrieb Eduard Dühring im Jahre 1881 in seinem Pamphlet „Die Judenfrage als

Rassen-, Sitten-und Kulturfrage“, welches sich zu einem maßgeblichen Werk innerhalb

des deutschen Antisemitismus der Kaiserzeit entwickelte (in der 5.ten Auflage aus dem

Jahre 1901: (So) „soll ihm das Verdienst nicht bestritten werden, als selbstständiger

Schriftsteller schon früh in die Judenfrage eingegriffen und einige mit der Kunst

zusammenhängende Eigenschaften sowie die geheime literarische Verfolgungssucht

der Juden zur Sprache gebracht zu haben“.

 

Das Fatale an der Neupublikation der Judenschriebs ist doch jenes: In einem Umfeld

des obskuren Publizierens antisemitischer Wirrköpfe, welche die zeitgenössische

Intelligenz nicht akzeptierte oder ernst nahm, werden hier die antisemitischen Thesen

von einer gewichtigen, weithin berühmten Musikpersönlichkeit deutschen ja

europäischen Ranges öffentlich vertreten.

 

Der von Wagner und seinem Gefolge initiierte, von der Gründung Wahnfrieds an bis

zum Untergang Bayreuths im Jahre 1945 bestehende Bayreuther Kreis, verbreitete

unausgesetzt über das Sprachrohr der Bayreuther Blätter die von Wagner und seinem

Ruhm so fatal geadelte, in den Rang eines deutschen und europäischen Diskurses

erhobene antisemitische Denke Wagners.

 

Jens Malte Fischer gemahnt in dem Kapitel „Die Nachwirkung“ aus „Richard Wagners

Das Judentum in der Musik“ eindringlich die Gefährlichkeit dieser zersetzenden, alle

Bindungen bürgerlicher Ordnungen bis zum Ausflocken der einzelnen Bestandteile und

Gesetzmäßigkeiten agierenden oder reagierenden Thesen.

 

Und somit ist eine allgemeine „meist ausgesprochene, gelegentlich auch

unausgesprochene Traditionslinie der Berufung auf Richard Wagner in allen Aspekten

der Judenfeindschaft vom Ende des 19. Jahrhunderts ungebrochen bis ins „Dritte Reich“

hinein feststellbar, und vor allem im Zusammenhang von Kunst und Kultur, speziell von

Musik“ (Fischer).

 

Um 1870 herum trat auch der Leipziger Publizist August Reißmann; ein ehemaliger

Konservatoriumsschüler Felix Mendelssohns mit Schriften an die Öffentlichkeit. In

diesen vermochte er es kaum, das Werk dieses Komponisten im Stande gebotener

ästhetischer Eigenständigkeit zu beurteilen. Vielmehr unterwarf er es erneut dem

alleinigen Maßstab musikalischen Fortschritts. Es verdeutlicht sich erneut, wie dominant

sich dieses von der "Neudeutschen Schule" kultivierte Dogma in jenen Jahren

gebärdete – wie sehr die sachlich ästhetische Analyse von Musik als eines Sprachrohrs

nur in eigener Sache damals verunmöglicht war.

 

Reissmanns Mendelssohn-Traktat ist allein durch sein Benehmen bemerkenswert, die

antisemitischen Theorien und speziell auf Mendelssohn gemünzten abfälligen Invektiven

 

46

 

 


 

einer angeblich oberflächlichen angekränkelten jüdischen Psyche sowie synthetischen

künstlerischen Empfindens aus Wagners "Judenthum" nahezu identisch in den

unverdächtigeren Tonfall "objektiv" musikwissenschaftlichen Theoretisierens übertragen

zu haben. Er gab somit einer Entwicklung eines Kataloges musikalisch absolut

vorgetragener, scheinbar von den offenkundigen antisemitischen Stossrichtung des

Wagnerschen Traktates gänzlich befreiter, negativer Mendelssohn-Stereotypisierung

erheblich Vorschub.

 

Reissmann schreibt also:

"Mendelssohns ganze Erziehung hatte in ihm früh jenen genialen Sinn für

Formvollendung ausgebildet, der es im Grunde verhinderte, dass seine Individualität

sich wirklich selbstschöpferisch und neu gestaltend vertiefte (...) Früh leitete ihn das

Bewusstsein von der idealschönen Form, in welche er seine Individualität zu ergießen

strebte, diese aber war weder sehr tief noch überaus reich ausgestattet (...) Mit

rastlosem Fleisse (...) hatte er sich die unumschränkte Herrschaft über alle Mittel der

musikalischen Darstellung angeeignet, aber er verwendet diese immer nur nach dem

durch seine Individualität beschränkten Maße (...) Er stellt seine leichter entzündbare

Phantasie, sein rascher und mächtiger erregtes Interesse unter die Herrschaft fremder

Einflüsse.

 

Bach und Händel, Mozart und Beethoven (...) gewinnen Anteil an seiner Innerlichkeit

aber nur so weit sie eben Raum darin finden, sodass diese selbst nicht gerade

gewaltiger und tiefer wird. (...) Mendelssohns Phantasie wird von der des Dichters nur

angeregt; der Meister empfindet die fremde Dichter-Individualität nur in dem

beschränkten Rahmen seiner eigenen und vermag sie daher auch nicht umzudichten

(...) Selbst jetzt, nachdem uns der ganze Mendelssohn bekannt ist, wird es nicht leicht,

in den Liedern op. 8 und 9 die besondere Weise seines Empfindens zu erkennen, weil

hier das Fremde und Angelernte überwiegt. (..) Sie sind alle im Sinne und Geiste der

größten Meister empfunden, aber der Ausdruck ist auf jenes Maß zurückgeführt und

abgeschwächt, das ihm für die ganz grosse Allgemeinheit Giltigkeit gibt und daher den

Liedern die weiteste Verbreitung sichert. Die Lyrik Mendelssohns wurde so (...) zur

Massenlyrik. (...)

 

Mendelssohn führte mit seinen "vierstimmigen Liedern im Freien zu singen" auch dem

Chorliede alle die in seiner Individualität abgeklärten Elemente des Musikempfindens

seiner Zeit zu (...) Der vierstimmige Liedergesang stellt nirgends Anforderungen, die

außerhalb der Individualität unsres Meisters liegen. Subjective Vertiefung wie die

Verdichtung zu grossen und weit angelegten Tonbildern sind dem Chorliede ebenso

fremd wie unserem Meister. Die besonderen Feinheiten des Empfindens finden natürlich

nur so weit Berücksichtigung als sie sich im Chorliede darstellen und dem

Gesamtempfinden vermitteln lassen -und hierin ganz besonders liegt Mendelssohns

unübertroffene Meisterschaft. " ("Die drei grossen Meister der musikalischen Lyrik" in

"Die Tonhalle", Leipzig vom 9.11.1869)

 

In Erörterungen der "Kunst-und Kulturgeschichtlichen Bedeutung" Mendelssohns

verweist Reissmann zwar auf den hohen Rang der "ewig gültigen Kunstwerke, welche"

Mendelssohn in "schöpferischer Wirksamkeit für die gesamte Kulturentwicklung",

hervorgebracht habe, gibt aber des gleichen zu bedenken, daß man Innovation

vergleichbaren Ranges hinsichtlich "Weiterbildung der Kunst" und eines "neuen

Ton(es)...der zur Weiterverfolgung anregte" nicht zu erkennen vermöge.

 

47

 

 


 

Verblümt, in umsichtig, taktvoll erwogener Formulierung, wird hier der Einschätzung

Vorschub geleistet, das Mendelssohns Musik zwar unbestreitbar den Geschmack zeitgenössischer

Hörerschaft vollgültig befriedigte, Hörern künftiger Generationen aber wohl

kaum noch wesentliches zu sagen vermöchte.

 

Solch Ausmaß nachhaltig um sich greifender Mendelssohn-Verfemung riefen Freunde

und Weggefährten wie den Komponisten und Dirigenten Ferdinand Hiller zur

Verteidigung von Namen und Rang Mendelssohns auf.

 

Hiller veröffentlichte im Jahre 1874 ein Gedenkbändchen, welches der Öffentlichkeit

"Briefe und Erinnerungen" zugänglich machte. Im Vorwort machte Hiller aus dem Anlass

der Publikation keinen Hehl und schrieb daher:

 

"Verehrer Mendelssohns haben es mir vorgeworfen, nicht schon vor längerer Zeit mit

Mitteilungen über ihn hervorgetreten zu sein. Vielfache Gründe hielten mich davon ab.

(...)

 

Jetzt aber trete ich um so freier mit diesen von dem Dahingeschiedenen so

liebenswerte Züge enthaltenen Blättern hervor, als er, einer der schönsten und hellsten

Sterne am Himmelsgewölbe deutscher Kunst, gerade in seinem Vaterlande, von dem

Unverstand, der Urtheilslosigkeit und dem Neide Angriffe erfährt, welche nur denen, von

welchem sie ausgehen, zur Unehre gereichen; denn der Glanz, in welchem sein Name

erstrahlt, zu verdunkeln wird ihnen nimmer gelingen. Das Gold widersteht dem Roste.

("Felix Mendelssohn-Bartholdy, Briefe und Erinnerungen, Köln 1874)

 

In den 70ziger Jahren des 19 Jahrhunderts verfielen Rezensenten zunehmend darauf,

Mendelssohns Klavierwerke explizit in den Rang oberflächlich brillanten

Demonstrationsrepertoires pianistischer Fähigkeiten von Nachwuchskünstlerinnen zu

erheben. So schrieb die "Tonhalle" im April des Jahres 1870:

 

"Fräulein Mehlig spielte die Pianopartie des schönen Es-Dur Trios, Phantasiestücke von

Schumann, Präludium und Fuge von Mendelssohn (...) Hier war ein großes Feld reicher

Kontraste! Schumanns tief innerliches Phantasiestück neben Mendelssohns maßvollem

und glattem Präludium".

 

Am 2.ten November heißt es ebenda:

„ Wenn wir in dem herrlichen Bachschen Präludium und Fuge, (...) von den großartig

unruhigen Tonwellen und dem markigen Fugenthema fortgerissen wurden, so war auch

die Klangwirkung des Mendelssohnschen Adagios von dem weichesten Charakter

durchweht."

 

Am 7. Dezember schrieb die "Tonhalle" wiederum:

 

"Einen höchst erfreulichen poetischen Reiz gewährten die Claviervorträge der

sechzehnjährigen Frl. Emma Brandes aus Schwerin. Wenn eine so jugendliche

Persönlichkeit sich an ein Stück wagt, wie das G-Moll-Concert von Mendelssohn, (...) so

will das viel sagen. (...) Wir mussten uns bei dem Spiel der Frl. Brandes gestehen, was

zu ahnen noch kein Künstler bei uns veranlasst hatte, daß das G-Moll-Concert dem

Ausführenden, wenn er von musikalischer Intuition durchdrungen ist, bei dem Spielen

dieses scheinbar mehr für die glänzende Entwicklung wahrer Technik geschriebenen

Stückes Gelegenheit giebt, alle Vorzüge eines vortrefflichen Clavierspielers zu

offenbaren.

 

48

 

 


 

Abschließend sei die Ausgabe vom 14.12.1870 zitiert:

 

"Die noch im kindlichen Alter stehende Pianistin Laura Kahrer, welche sich bereits in

mehreren bedeutenden Städten mit Erfolg produziert hat, gab ein Concert, das in vieler

Beziehung Staunen zu erregen geeignet war. (...) Die Handgelenke (...) sind auffallend

elastisch und befähigen zu erstaunlich leichtem und graciösem Octavenstaccato und

überhaupt leise über die Tasten hingehenden so genannten Mendelssohnschen

Clavierfiguren."

 

11. Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben!

"Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben, aber Liebe

Glück und Kunst haben es aus Licht und Wärme Dir gewoben! Zieh hin und sinke, wenn

es sein muss, wie alles Schöne im Frühlinge dahin!"

 

Euphemistisch belegt Adele Schopenhauer die außerordentlichen Wirkung, welche der

12-jährige Knabe Felix auf die Schwester des Philosophen und allgemein ausübte.

 

Darüber hinaus nimmt sie prophetisch die Geschicke Felix Mendelssohns in

zwiefacher Hinsicht vorweg. Den Lebensweg des Komponisten zum einen; äußerlich

wahrnehmbar scheinbar ein einziger Höhenflug.

 

Zum zweiten: den stereotypen Rückschluss von privilegierter Biographie auf die

musikalische Substanz von Kompositionen, welcher sich in zunehmend veräußerlichter

Betrachtung des Sujets durch Musikologen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

herausbildete. Vom 3. Weg, dem inneren Weg des musikalischen Humanisten in eine

substantielle emotionale und musikalische Melancholie hinein, in die Gewissheit um das

Vergehen einer Epoche, welche entscheidende gesellschaftliche Veränderung durch

Kultur und Bildung für möglich hielt; in die finale Gewissheit, versagt, das Hauptziel,

vermittels Musik die Menschen innerlich zur Vervollkommnung und Erkenntnis

anzuleiten, nicht erreicht zu haben, konnte Adele Schopenhauer nichts vorausahnen,

wollten besagte Musikologen nichts erahnen.

 

Sie überlagern sich mit der sachfremden Argumentation einer Musikwissenschaft

späterer Zeiten, welche die idealisierte Gleichsetzung der Betrachtung von Werk und

Person eines Komponisten zum Dogma erhob.

 

Bedeutsame Musik: komponiert von einem Menschen, dem es, frei von materiellen

Sorgen, geliebt, künstlerisch von jeher gefördert und vorbehaltlos akzeptiert,

nachweislich immer wohl erging? Wie wäre das möglich?

 

In einer übersteigert-romantischen Vorstellung jener Jahre von Kunst als

entsagungsvoller Verpflichtung rang das wahre Genie -der Heros des Judenaufsatzes abseits

von Anerkennung oder Lebensglück um meisterliche musikalische Wahrheit.

 

Erst spät oder niemals fand so das Werk bedeutender Künstler zu Lebzeiten

Anerkennung. Das persönliche Leid des Künstlers als zuverlässigster Indikator

künstlerischer Größe, dem Maßstab einer beinahe mathematisch vorgenommenen

Relativierung unterworfen: Je mehr persönliches Leid, desto bedeutsamer das Werk.

 

49

 

 


 

Wies nicht allein der Vorname Mendelssohns symbolträchtig darauf hin, wie sehr sich

Gedanken an Genialität und Meisterschaft hinsichtlich seines Werkes ausschlossen:

"Felix" - "der Glückliche"!

 

Intermezzo II: "Felix! Tust Du nichts?!"

 

rief Mutter Lea stets, wenn der Knabe sich ins Plaudern verstieg und er sich somit des

Müßiggangs hingab. Auch der zum Manne herangereifte Felix Mendelssohn mochte

diesen zu unablässigem Bildungsfleisse anspornenden Ruf innerlich noch oftmals

vernommen haben.

 

"Nun ist Glückhaben noch kein persönliches Verdienst; entscheidend ist, wie einer sein

Glück empfängt und verwaltet (...) Betrachten wir also die Lebensstationen dieses in der

Tat vom Glück begünstigten Künstlers, der (...) das ihm Zugefallene täglich in harter

Arbeit bis zur Erschöpfung sicherte, (...) der mit der Bürde "Glück" in einem nur kurzen,

sich selbst verzehrenden Leben fertig werden musste." gibt Eduard Kleßmann in "Die

Mendelssohns -Bilder einer deutschen Familie" im Hinblick auf die tiefschichtiger

erkennbaren Aspekte eines Felix Mendelssohn Bartholdy zuerkannten Übermaßes

glücklicher Lebensumstände zu bedenken.

 

Das stereotyp wiedergegebene Genrebild vollendeter Sorgenlosigkeit ignoriert

demzufolge das Desinteresse Mendelssohns an potentiellem großbürgerlich-

materiellem Müßiggang.

 

Allein die Leipziger Jahre zeigen Momente einer Schaffensverpflichtung auf, welche

nahezu etwas Getriebenes, Psychopathologisches in sich tragen. Die Vermutung, daß

die Ruhelosigkeit eines im innersten Wesen zutiefst unsicheren Menschen, die sich

auch in leichter Reizbarkeit, den verbürgten raschen Dirigiertempi und der Häufigkeit der

Tempovorgaben Presto, Molto vivace, Molto allegro con fuoco in den Kompositionen

äußerte, zu Überarbeitung, Depression und vorzeitigem Tode des Komponisten

beitrugen, liegt nahe.

 

Das Klischee schmerzgeboren titanesker Kreativität des Genies, welchem ein in

pastoral-ätherischer Idyllik dargestellter "Felixissimus" nicht zu genügen vermochte,

wurde von der Musikpublizistin La Mara in ihrer Darstellung von "Musikalischen

Studienköpfen" trefflichst bedient. Auch hier firmiert nicht der wahre Name einer Autorin;

die eigentlich auf den Namen Marie Lipsius hörte. Gleich zu Beginn ihrer Darstellung

heißt es:

 

"Auf lichten Höhen wandelte er sorglos dahin, unangefochten von Nöthen und

Bedrängnissen des gemeinen Lebens, frei von Zwiespalt und Kampf, wie sie die

Künstlerseele so häufig beschweren".

 

Als ob ästhetisches Räsonieren und kreatives Handeln den Anforderungen des

Kriegsfalles unterworfen sei, der Künstler sich in Wahrheit also am Maßstab

vaterländischen Gemeindienstes als substantiell erzeigte, behauptet La Mara Lipsius in

wahrhaft martialischer Gestimmtheit:

 

"Ein Heldencharakter freilich wird nicht im Sonnenlichte gezeitigt, er bedarf der Schatten

und Kämpfe von grossen Schmerzen.

 

50

 

 


 

So ist auch Mendelssohn kein Heldencharakter geworden, nicht das, was man einen

Heros der Töne nennt. Ihm fehlt die genialische Überfülle, die himmelanstürmende

Kraft, die kühne Ursprünglichkeit, die jenen macht.

 

Nicht in die nächtigen Tiefen innerlichen Ringens und Kämpfens ist er

hinabgestiegen, eine Welt in sich befriedeter Schönheit und wolkenloser Klarheit ist es,

darin seine Muße zu verweilen pflegt.

 

Aus solch Zerrbildnis heraus betrachtet, überzogenen Ansprüchen an

Allgemeinverbindlichkeit kulturellen Wirkens sowie Versäumnissen hinsichtlich

biographischer Wahrheitspflicht geschuldet, war wohl kaum noch angemessene

Darstellung des Oeuvres eines so beschriebenen Kompositeurs vorstellbar.

 

La Mara leistet viel eher einem verhängnisvollen Kulturdarwinismus vom Schlage

Wagners Vorschub, welcher die Künste dem Gesetz des Pathos unterwarf. Das

Pathetische allein ist diesem zufolge groß und wahr; nur der Künstler, welcher des

Lebens Mühsal den Pathos abrang.

 

Das von La Mara vorgestellte Bild gemahnt an die symbolträchtige Fabel von der Grille

und der Ameise. Letztere bemüht sich im Verborgen und finsteren um

überlebenswichtiges Gut, während die Grille sich Sommers tändelnd, musizierend im

flüchtigen Beifalle sonnt und den Winter nicht zu überstehen vermag.

 

12. Von der E-Musik und der U-Musik

Auch die Kluft zwischen den Ebenen Populärmusik und Hochkultur bestärkte eine

Musikwissenschaft, welche Werk-und Rezeptionsästhetik von Musik als selbstverständliche

Einheit auffasste, in ihrem Vorbehalt, es letztendlich nicht mit einem E-

sondern mit einem U-Musiker zu tun zu haben. Die akademische Musikpflege durch

Musikologen, Rezensenten und professionelle Instrumentalisten begann das Bild

Mendelssohns als “Epigonen, faden “Klassizisten” und “schwindender Größe”

festzuschreiben. Die Präsenz seiner Werke auf den Konzertpodien schwand.

Chorgesänge und Klavierkompositionen erfreuten sich in der Haus-und Volksmusik

hingegen ungebrochener Beliebtheit.

 

Nun offenbart sich darin eine aus allen kulturellen Traditionen vertraute Tendenz

intellektueller akademischer Erhabenheit, welche sich mit Heranbildung und dem

wachsenden gesellschaftlichen Einfluss bildungsbürgerlicher Strukturen ausprägte.

 

Es war im 18. und frühen 19. Jahrhundert weniger Ausnahme als Regel, daß

Kompositionen der bedeutendsten Tonschöpfer Volkstümlichkeit erlangten oder gar

gezielt für den populär-oder semipopulärmusikalischen Bereich entstanden. Mozart

hatte keinerlei Schwierigkeiten, neben den erschütternden psychischen Vertiefungen

des "Requiem" und der Titusoper auch Vogelfängerarien für die Wiener Vorstadt zu

schreiben. Mozart-Kompositionen wie das nurmehr volksliedhaft rezipierte „Komm,

lieber Mai und mache....“, das berückende „Rondo alla turca“ für Klavier sowie die

Streicherserenade „Eine kleine Nachtmusik gingen ins bürgerliche Populärmusikgut ein.

 

Auch das Schaffen Haydns („Meine Mutter schickt mich her, ob der Kaffee...“ nach der

Symphony Nr. 94 „Mit dem Paukenschlag“ und jenes Beethovens ("Für Elise") blieben

nicht ohne Einfluss darauf.

 

51

 

 


 

Melodien aus Carl Maria von Webers „Der Freischütz" wurden bereits Tage nach dem

überwältigenden Premierenerfolg in den Strassen Berlins nachgesungen und –gepfiffen.

Lieder wie „Der Lindenbaum“, „Das Wandern ist des Müllers Lust“ von Franz Schubert

oder „Guten Abend. Gute Nacht“ von Johannes Brahms zählten im 19. und frühen 20.

Jahrhundert zum Volksliedgut. Die Musikforschung hantiert hier in der Abstrafung

populären mendelssohnschen Volksgutes gegenüber jenem von Mozart, Haydn oder

Brahms offenkundig mit zweierlei Maß.

 

Der Vorwurf bezeichnender, exorbitanter Popularität einzelner Mendelssohn-

Kompositionen lässt vielmehr Subjektivismus, Voreingenommenheit erkennen. So bleibt

nur noch eines von Interesse: wann der gemeinhin sanktionierte Bruch zwischen

populär-musikalischer und neuzeitlich professionell aufgefasster Musiktradition exakt

einsetzte; wen der akademische Bannstrahl traf, wen er verschonte. Eric Werner

definiert die Auflösung gemeinschaftlicher Verwurzelung von „Kunst“ und

„Gebrauchsmusik“ in der Tradition höfischen Musizierens in der sich zunehmend

verbürgerlichenden Ägide Franz Schuberts, also den Zeiten des Metternichregimes in

den Jahren um 1820. Die Instrumentalmusik spaltete sich demzufolge in die nunmehr

unvereinbaren, autonom sich fortentwickelnden „Ebenen der „reinen“ Kunst, die

klassisch-romantische Kammer-und Symphoniemusik sowie die Ebene des Populären

jedweder Operetten-und Tanzmusik jener Zeit und der Salonmusik für Klavier, Harfe

oder das kleine Ensemble der Gartenrestaurants“

 

Die auf solch chronologischer, kulturgeschichtlicher Betrachtung beruhende Analyse

musste also resümieren, das Mendelssohn als „seriöser“ Musiker den „Fehler“ beging,

diverse, nurmehr „Kleinmeistern“ zuerkannte, Populärmetiers wie romantische

Männerchöre, „Lieder, im Freien zu Singen“, Duette und Quartette, Klavierminiaturen

etc. weiterhin bedient zu haben. Möglicherweise mit dem Drang zu solchen Formen gar

seinen wahren künstlerischen Gehalt aufgedeckt zu haben. Aber auch dieser Weg führt

in der Frage: definitive Einschätzung eines Komponisten aus seinem kleinteiligen

Füllwerk heraus keineswegs weiter. Andere Komponisten haben eine Unzahl von

Gelegenheitskompositionen geschrieben oder mit ihrem Werk dezidiert auf

Populärformen Bezug genommen, ohne im Ansehen im Mindesten Schaden genommen

zu haben.

 

Schubert, Schumann und Brahms haben gleichwohl Vokalduette und –Quartette und

Männer-, Frauen-, Gemischtchorsätze a capella bzw. instrumental minimal begleitet

komponiert, Klavierpoesien schätzen wir vergleichbar bei Robert Schumann. Gerade

das Oeuvre Richard Wagners weist einen immensen Bestand von

Gelegenheitskompositionen, Repräsentativ-Chören und –Märschen etc. auf; Werken,

welche dem musikalischen Niveau des eigentlichen Musikdramatikers in keiner Weise

entsprechen und demzufolge heute vergessen sind. Das kammermusikalisch als hoch

stehend eingestufte „Siegfried-Idyll“ entstand nachweislich als improvisiert, im

Treppenhause dargebotenes Geburtstagsständchen an Wagners Gattin Cosima.

 

„Sowohl der „Pilgerchor“ und der „Einzug der Gäste auf Wartburg“ aus der Oper

„Tannhäuser“, als auch die Chorensembles des „Fliegenden Holländer“, die

Vasallenchöre in „Lohengrin“ orientierten sich unmittelbar am Vorbild Mendelssohnscher

Männerchortableaus; der von Mendelssohnscher Feiermusik inspirierte Brautchor im 3.

Akt Lohengrins zählt neben dem Hochzeitsmarsch aus der "Sommernachtstraum"-Musik

zum Archetyp romantischer Hochzeitspiècen.

 

52

 

 


 

Des Weiteren gehören die „Holländer“ und „Tannhäuserchöre“ zumindest noch heute

zum Kernrepertoire größerer Feuerwehr-, Polizei-und Volkschorvereinigungen. Welche

seriöse Musikrezeption sähe den Wert zahlreicher Opern vor allem der mittleren Periode

von Verdis Schaffen dadurch geschmälert, daß sie sich exzessiv des hochpopulären

Idioms italienischer Banda-Musik bedienten. Der grosse Johann Strauss II hat kaum

anders als für populär-oder repräsentativmusikalische Anlässe geschrieben und gehört

selbstverständlich zum Repertoire führenden Symphonieorchester aller Länder und

Kontinente. Die Beliebtheit der Mendelssohn-Chöre: Oh, Täler weit, oh Höhen...“, „Wer

hat Dich, Du schöner Wald...“, der Lieder: „Es ist bestimmt in Gottes Rath.“, „Auf Flügeln

des Gesanges...“, des „Frühlingsliedes“ und anderer nachträglich mit Texten

versehenen "Lieder ohne Worte" sowie des anrührend-ätherischen Weihnachtsliedes

„Hark, the herald angels sings.“ verliehen Mendelssohns Schaffen in den Augen der

Musikwissenschaft in steigendem Masse etwas anrüchiges.

 

Das Phänomen ist erneut dem Heroisierunggedanken von Kunst in der zweiten Hälfte

des 19. Jahrhunderts geschuldet. Musikern, die als "deutsch", als "Heros" geschätzt

wurden, die um ihr Werk "gerungen", "gelitten" hatten, gestand man den „reinen

Volkston“ in den Populäräusserungen als wahre und authentische Äußerung

bedeutender Meister zu. Die Populärnummern derselben wurden quasi durch den

idealen Tiefgang reinen absoluten Schaffens kanonisiert. Wie wenig zuvor dargestellt,

stellte man Mendelssohns Musik seinerzeit in Gesamtheit als „fein-empfindsam,

„sentimental“, „weibisch“, „geschmacksgefährlich“ und somit „jüdisch“ dar. Da dem

Konzertwerk Mendelssohn Bartholdys die genannten Attribute „Genios“ etc.

weitestgehend abgesprochen wurde, mochte man die Populärwerke demzufolge für die

übelsten sentimentalsten Auswüchse eines in sich fragwürdigen, seichten Schaffens

nehmen.

 

Hellsichtig verwies der Musikpublizist Wilhelm Heinrich Riehl bereits im Jahre 1850 auf

jene Aspekte einer kultursoziologische Biographie Mendelssohns, welche dessen

postmortale Reputation durch „sachfremde“ Erörterung und Rückschlag auf das

musikalische Resultat zu gefährden imstande waren.

 

Riehl veröffentlichte in diesem Jahre innerhalb seiner Anthologie von Musikalischen

Charakterköpfen den Essay "Bach und Mendelssohn aus dem socialen

Gesichtspunkte", welcher sowohl als Nachruf auf Felix Mendelssohn als auch eine

Würdigung des Thomaskantors Bach zu dessen 100. Todestag verfasst wurde. Riehl

zählte eingangs als Unbefangener wahrheitsgemäß die humanen und soziologischen

Vorzüge des Tonschöpfers Mendelssohn auf. Diese wurden später in den Werken

anderer Autoren, in vergleichbarer rhetorischer Konzentrierung oder besser;

Überspitzung vorgebracht und sollten der musikbiographisch stereotyp vorgebrachten

Entwertung, ja Karikierung des Vorbildes dienen. Mendelssohn war somit „ein vielseitig

gebildeter, gesellschaftlich gewandter, wohlhabender, fein gesitteter Mann, in fast ganz

Deutschland bekannt, in allen auserlesenen Zirkeln gesucht.“

 

Wenngleich Riehl auch die Darlegung, wie sich „jüdelnde Schreibart“ jener Tage

musikalisch darstellte, schuldig bleibt; umreißt er doch schlüssig die integrale Position

Mendelssohns innerhalb eines zunehmend von bildungsbürgerlichen Idealen

ausgeprägten und getragenen Musiklebens des frühen 19. Jahrhunderts.

 

53

 

 


 

Riehl schreibt also:

 

„Er war der erste Musiker, welcher so recht für die „feine“ Gesellschaft – im guten Sinne

des Wortes musizierte. (...) So schrieb auch Mendelssohn im Geiste dieser gebildeten

Gesellschaft, die sich jetzt ausgleichend und vermittelnd über alle Stände hinzieht (...)

 

Es war bei seinem Auftreten etwas ganz neues, einem modern eleganten Musiker zu

begegnen (...), der Lieder setzte, ohne sich die einfältigsten Texte zu wählen, der

Kammermusik schrieb, ohne langweilig, und Salonmusik, ohne frivol zu sein, einen

Tondichter jüdischer Abstammung, der nicht jüdelte, während fast alle christlichen

Lieblingskomponisten des Tages jüdelten. (...) Keine andere Kunst hat einen Mann

aufzuweisen, der in seinem künstlerischen Schaffen so ganz inmitten des sozialen

Lebens unserer gebildeten Kreise gestanden hätte und wiederum so von diesen

verstanden und gewürdigt worden wäre wie Mendelssohn".

 

Die augenscheinliche Affinität Mendelssohns zu seiner bildungsbürgerlich-

musikalischen Umgebung, erweist sich auch in der fruchtbaren Tätigkeit des sich

dezidiert als Humanisten und Citoyen verstehenden Komponisten in Leipzigs Klima

aufgeklärten bürgerlichen Selbstbewusstseins. Im Gegensatz dazu sollte das Modell

einer zentralen, königlich preußischen Musikdirektion in Berlin, welche Friedrich

Wilhelm IV. von Preussen dem Komponisten andiente, so gar nicht funktionieren. Nicht

allein daher, weil diese den aktuellen Entwicklungen im Kulturbetrieb nicht mehr

entsprach.

 

James Webster legte das primitiv konstruierte Schema, aufgrund dessen sich im späten

 

19. sowie im 20. Jahrhundert in semantischer Deckungsgleichheit bildungsbürgerliche

relevante Vorurteile gegen Felix Mendelssohn herleiteten, in einem präzise erstellten

Diagramm dar:

Vorstellungen, die zum "Problem Mendelssohn" beitragen:

 

Kultur und Ideologie; Herkunft bzw. Persönlichkeit

 

Bürgerlichkeit

 

Reichtum; begünstigter sozialer Status

 

Zugang zu bedeutenden musikalischen Persönlichkeiten

 

Harmonisches Leben, ohne Kampf und Leid

 

Jüdische Abstammung

 

Wunderkind; Leichtigkeit beim Komponieren

 

Erfolg

Bemühungen um Erfolg; Anpassung an die Zuhörer

Ideologie der Bejahung; Aufrichtigkeit; christliche Frömmigkeit

 

 

Musikgeschichte

 

Klassizistisch im Stil bzw. in der Wahl der Gattungen

 

Gründliche konservative Musikerziehung; Pflege alter Musik

 

Analyse (=Ästhetik)

 

Thematische Konstruktion

 

Melodisch; gleichmäßig; korrekter, kunstvoller Satz

 

Mangel an Prozessualität bzw. Problematisierung, Pflege alter Musik

 

54

 

 


 

Rhythmus

 

Periodengebunden; einheitlich

 

Einförmig bzw. undynamisch

 

Form

traditionell; übersichtlich

Überkommen; bloßes "Gehäuse"; undramatisch; unklassisch

 

 

Kammermusik

Faktur zu orchestral (z. B. Tremolo)

Innenstimmen "zu viel", dem bescheidenen Inhalt bzw. Dynamik gemäß

 

 

Folgerungen für die Beurteilung von Mendelssohns Musik

 

Oberflächlichkeit; konventionell; sentimental

 

Mangel an künstlerischer Authentizität (Gewicht, Ausdruck, Tiefe)

 

Mangel an historischer Authentizität (unzeitgemäß; epigonal)

 

Naiv (im Schillerschen Sinne); Mangel an Besonnenheit

 

Gattungsunterschiede

Nur kleinere bzw. periphere Gattungen ganz erfolgreich;

"Elfenmusik, Scherzi, Programmouvertüren, Lieder ohne Worte

"Zentrale" Gattungen nur bedingt erfolgreich: Sinfonie, Konzert, Kammermusik,

größere Vokalwerke

 

 

"Weiblich" und/oder "jüdisch" eingestuft

 

13. Der schönste Zwischenfall der deutschen Musik

Was mag in der Psyche derjenigen, welche dieses auf pseudorevolutionär genialisch

ausgeprägter Kulturdoktrin beruhende Schema konzipierten sowie derer, welche es inallgemeiner Übereinkunft bereitwillig rezipierten, eigentlich vor sich gegangen sein?

 

Im Vorwurf mangelnder künstlerischer Substanz Mendelssohns, welche sich angeblich

vermittels Anbiederung an herrschende Gesellschaftsschichten und den

vorherrschenden Publikumsgeschmack zu kompensieren trachte, manifestierte sich vor

allem folgendes: ein Dilemma stetigen Missverhältnisses zwischen künstlerischem

Anspruch und dem Zustand bürgerlichen Seins neudeutscher Musiker und deren

Umfeld.

 

Wie die Biographien führender Repräsentanten derselben zeigen, waren jene

materialistischer oder politischer Konformität keineswegs abhold (Wagner, Liszt). Waren

zu jener wahren Höhe, welche man einem Mendelssohn – genanntem Schema folgend

 

– insistierend absprach, selbst nicht berufen. (Dr. Eduard Krüger, Dr. Franz Brendel,

Theodor Uhlig, Hans von Bülow, Cosima Wagner).

Eine Systematik egozentrischer Schizophrenie deutet sich an: diejenigen, welche Kunst

in der Funktion unausgesetzten gesellschaftlichen Widerstandes begriffen, auf ästhe

 

 

55

 

 


 

tischen Fortschritt, politische Umwälzung drängten, zielten gleichzeitig aber auf

künstlerische Akzeptanz und Vormacht sowie stetige mäzenatische Förderung durch

kulturbewegte Bourgeoisie und das Feudalsystem ab.

 

Mit der symbolträchtig systematischen Anprangerung mendelssohnscher

Gesellschaftsrelevanz leisteten jene vor allem eines: die öffentlichkeitswirksame

Aufarbeitung eines Problems ästhetischer und gesellschaftlicher Arriviertheit, welches

sie letztendlich nur mit sich selbst auszuhandeln hatten.

 

Der Dirigent Hans von Bülow, einstmals ein Pionier gezielter Mendelssohn-und

Schumann-Attacke, wurde in dem Masse zum erklärten Propagandisten

Mendelssohnschen Orchesterwerkes (ab Mitte der 70ziger Jahre d. 19. Jhdts.), wie er

sich aus dem Schatten Wagners zu lösen vermochte. Und so ist in den Frankfurter

Notizen des Klavierschülers Vianna Da Motte aus dem Frühjahr des Jahres 1887 ein so

viel milderes Mendelssohn-Wort von Bülows als jene in stürmischer Jugendzeit

geäußerten verbürgt:

 

"Ein Lied ohne Worte von Mendelssohn ist für mich ebenso klassisch, wie ein Gedicht

von Goethe".

 

Die Musikpublizistik jener Jahre, als Genre nicht eigentlich künstlerisch tätig, war zu

dieser Zeit in einem existentiellen Dilemma expandierender musikalischer Expressivität

und strikter bürgerlicher Konventionen befangen. Dem großbürgerlichen Hörer

entsprechend war sie, angesichts des Phänomens Mendelssohn Bartholdy, mehr denn

je einer Situation signifikanter Schizophrenie unterworfen.

 

Elementen wie materieller Sicherheit, einer penibel nach Ständen und Schichten

separierenden Sozialordnung und gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt, erwartete der

großbürgerliche Musikbetrieb vom Künstler als pittoresk präsentiertem Enfant Terrible

in staunender, erschauernder Ergriffenheit genialische Extraordinarität und soziale

Nonkonformität. Folgerichtig ward dem „Künstler“ Mendelssohn also verargt, vermittels

glücklich geführter Ehe, beschaulichem Hausstande und umfassender gesellschaftlicher

Integrität exakt die Dinge zu symbolisieren, welche in sonstigen Lebensbereichen als

Dogma bürgerlicher Lebensführung sanktioniert wurden.

 

Uneingestandenen, unartikulierten Ansprüchen geschuldeter Zwiespältigkeit

unwillkürlich hingegeben, war sich das bis zum Anbruch der "Informationsgesellschaft"

tonangebende Grossbürgertum über seine Erwartungshaltung an den Künstler und

Musiker aber scheinbar niemals gänzlich im Klaren.

 

Den aktenkundigen Finanzschmarotzern, Schürzenjägern und Umstürzlern in

Persönlichkeiten wie Richard Wagner; eigenbrötlerisch verschrobenen, bindungsunfähig

lebenswandelnden Komponisten wie Beethoven, Schubert und Bruckner bis zum

heutigen Tage frenetisch ergeben, verwehrte das bourgeoise Publikum dem

Generalmusikdirektor König Friedrich Wilhelms IV. von Preussen und des

Gewandhauses, Ehrendoktor der Universität Leipzig und Familienvater den Einzug in

den musikalischen Olymp. Desgleichen bescheidet es einer grossen deutschen Mimin

wie Elisabeth Flickenschild, welche sich auf Wohnungssuche befand, wie seinerzeit

jener Hamburger Honoratior und Hausbesitzer: An Kaspers vermieten wir nicht!

 

56

 

 


 

Im Jahre 1886 gab Friedrich Nietzsche in der Denkschrift: Jenseits von Gut und Böse

demzufolge ein folgenschwer-geflügeltes Mendelssohn-Wort vor:

 

” Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik

genug, um auch anderswo Recht zu behalten als im Theater und vor der Menge; sie war

von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wahren Musikern wenig in Betracht

kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um

seiner leichteren, reineren, beglückteren Seele willen schnell verehrt und schnell

vergessen wurde: als der schönste Zwischenfall der deutschen Musik.”

 

Nietzsche führt Mendelssohn dabei als Belastungszeugen gegen die Romantik Webers,

Spohrs, Marschners, Schumanns und Wagners heran, zeigt aber wahrhaftig, wie

nachhaltig sich das von „Neudeutschen“ lancierte Bild des heiteren Sentimentalisten,

der nur die Aufgabe wahrnahm, die Überleitung vom Genie Mozarts und Beethovens

zum Genie Wagner herzustellen, damals bereits einprägte.

 

14. Geschmacksgefährliche Lieder und Duette

"Diese gewisse Weichheit bildet einen Grundzug von Mendelssohns Wesen, dem nur

das Graziöse, Capricciöse und Brillante soweit den Widerpart halten, daß es nicht als

Weichlichkeit und Sentimentalität erscheint. (...) Im kleinen Rahmen (...) nicht nur mit

seinen "Liedern ohne Worte", sondern auch mit seinen Liedern, besonders aber den

Duetten (...) ist Mendelssohn unleugbar sogar geschmacksgefährlich geworden."

 

Als Herausgeber einer neben "Musik in Geschichte und Gegenwart" (MGG) bis zum

heutigen Tage führenden Enzyklopädie des Musiklebens schreibt die Autorität Hugo

Riemann im Jahre 1901 eine Sichtweise voller Widersprüche fest. Bezüglich des

Instrumentalwerkes beruft Riemann sich zwar auf Robert Schumanns Eloge vom

"Mozarts unseres Jahrhunderts", brandmarkt andererseits aber "Weichlichkeit und

Sentimentalität" der "im kleinen Rahmen" der Hausmusik verdächtig erfolgreichen

musikalischen Aussage Mendelssohns, welchen Wagner in seinem zuvor als

"überscharf" und "ungerecht" eingestuften Pamphlet dankenswerterweise Einhalt

geboten habe.

 

Darüber hinaus trägt Riemanns Beurteilung der Tendenz romantisierenden Musizierens

jener Tage "vermittels starker Verbreiterung der Tempi, agogischer Verzögerungen in

den Kadenzen" (K.-H. Köhler) keinerlei Rechnung. Jene ließen durch Überbetonung

chromatischer Stilistiken in Melodieführung und Harmonik die Musik Mendelssohns

fernab kompositorischer Absicht sentimentalisiert-persiflierend erklingen. Riemanns

Einschätzung prägte gleichsam als Kathederwort die Mendelssohn Rezeption innerhalb

der deutschen Musikwissenschaft für Jahrzehnte.

 

15. Denkmäler

Im Jahre 1868 trat in Leipzig anlässlich des 125 jährigen Bestehens der

Gewandhauskonzerte und der 25 jährigen Gründungsfeier des Konservatoriums ein

Komitee für „die Errichtung eines dem Gedächtnis Felix Mendelssohn Bartholdys

 

57

 

 


 

gewidmeten Denkmals“ erstmalig zusammen. Es eröffnete damit ein wenig rühmliches

Kapitel in der Beziehung dieser hochrangigen Musikstadt zu ihrem entschiedensten

Mentor.

 

Da es sich um eine Privatinitiative Leipziger Honoratioren handelte, standen keine

öffentlichen Mittel für Planung und Durchführung des Projektes zur Verfügung, dessen

Kosten auf 45000 Taler veranschlagt wurden. Der Vorstand des Komitees stellte daher

einen Finanzplan auf, welcher vorsah, die Summe u. a. durch die Erträge lokal und

überregional ergehender Spendenaufrufe sowie durch die Veranstaltung von

Benefizkonzerten und Vermögensveranlagungen aufzubringen. Spendenaufrufe wie

jener wurden somit in der regionalen und überregionalen Presse als repräsentative

Annonce abgedruckt:

 

„Das Interesse für den Mann, dem die ganze musikalische Welt zu so großem Dank

verbunden ist, findet also seinen Mittelpunkt in dem Leipziger Leben des Künstlers und

Menschen, dessen Bedeutung die Nachwelt durch ein dem Wirken desselben

angemessenes Denkmal zu würdigen die Pflicht hat.

 

Um diese längst erkannte Ehrenschuld abzutragen, sind die Unterzeichneten zu einem

Verein zusammengetreten und fordern alle Freunde des Meisters auf, in

zweckdienlicher Weise die beabsichtigte Errichtung einen Felix Mendelssohn-Bartholdy-

Denkmals in Leipzig fördern zu helfen. Insbesondere werden Chor-Gesellschaften und

Gesangsvereine ersucht, zu dem angegebenen Zwecke Aufführungen zu veranstalten

und den Ertrag derselben an den unterzeichneten Verein einsenden zu wollen".

 

Die Finanzierung des Vorhabens vollzog sich schleppend; im Verlaufe eines 24 jährigen

Prozesses von der Stiftungsinitiative bis zur Denkmalseinweihung offenbarte sich ein

trübes bürgerliches Klima, welches die einstmals liberale Bürgerstadt Leipzig

zunehmend prägte.

 

Am Ende dieses quälenden Vorgangs war deutlich, das der Zeitgeist die Verbundenheit

der lokalen Bürgergesellschaft einem wesentlichen Repräsentanten großbürgerlicher

Kultur gegenüber aufgekündigt hatte und sich einer vom Komitee per Annonce

konstatierten „Ehrenschuld“ nicht mehr bewusst war.

 

Im Jahre 1869 waren erst 1400 Taler eingegangen, welche sich kaum aus

Bürgerspenden zusammensetzten, vielmehr von der vereinsnah einzuschätzenden

Konzertdirektion des Gewandhauses und Erlösen eines Benefizkonzertes eingebracht

wurden.

 

Die vollständige Abkehr des Leipziger Publikums vom Werke Mendelssohns in den

70ziger Jahren verdeutlicht kaum eine Begebenheit trefflicher als jene: Hans von Bülow

absolvierte im Jahre 1872 als Pianist eine Tournee, welche von Berlin über Warschau,

Hamburg, Hannover und Düsseldorf bis nach Aachen zahlreiche deutsche Städte

umfasste. In Berlin und Leipzig gab von Bülow jeweils einen dem Klavierwerke Felix

Mendelssohns gewidmeten Konzertabend. Frithjof Haas schreibt dazu in seiner von

Bülow-Biographie: "Zu seiner (von Bülows) grossen Enttäuschung hatte der Komponist

seit seinem Tod gerade in Leipzig, dem Ort seines Wirkens, an Beliebtheit verloren. In

der Presse war zu lesen, kein Pianist außer von Bülow könne es heute wagen, zwei

Stunden lang nur Mendelssohn zu spielen!"

 

58

 

 


 

Die darauf folgenden Jahre führten zu keinem erhöhten Stiftungsaufkommen aus der

Stadt Leipzig selbst heraus, vielmehr engagierten sich Musikliebhaber aus ganz

Deutschland vermittels Personenspenden oder Benefizinitiativen. Sogar in den

Metropolen London und Paris wurden durch Benefizkonzerte Gelder zugunsten des

Denkmals eingeworben. Ein betrüblicher Aspekt am Rande der Konzertinitiativen

zugunsten eines Denkmals des Komponisten ist zweifellos, daß erst jene auch dessen

Musik wieder stärker in den Vordergrund zu stellen vermochten.

 

Der Hausverlag Felix Mendelssohns, das renommierte Unternehmen Breitkopf & Härtel

suchte im Jahre 1875 helfend einzugreifen und publizierte eine Sonderbeilage. Diese

wurde allen Neuauflagen der Kompositionen Mendelssohn beigefügt und warben im

Namen des Komitees um Zuwendungen.

 

Im Jahre 1878 entspann sich ein Presseeklat in Leipzig um die Arbeit des Komitees und

brachte das lokale Spendenaufkommen vorerst vollends zum versiegen. Die Presse

thematisierte dabei u. a. den merkwürdigen Umstand, dass die dem Komitee

verpflichteten Honoratioren zwar allenthalben um Gelder warben, selbst aber bisher

nichts dem Fond beigesteuert hatten.

 

Angesichts dessen nimmt es nicht verwunder, daß Felix Mendelssohn Bartholdy die

erste Gedenkstätte denn auch anderwärts errichtet wurde; es entstand bereits im Jahre

1860 in England, wo die Bürger der Stadt Snydenham ein Standbild des Komponisten

auf der Terrasse des dortigen Kristallpalastes errichteten.

 

Waren es Ende der 60ziger Jahre des 19 Jahrhunderts noch Gründe verminderter

Wahrnehmung des Komponisten aufgrund der von der Neudeutschen Schule

geschürten Querelen um dessen Musik, lässt sich das Desinteresse der 70ziger und

80ziger Jahre eindeutig auf den unverhohlenen Judenhass zurückführen, welcher sich

der Bürgerschaft zunehmend bemächtigte. Leipzig sollte sich in jenen Jahren zu einer

Hochburg geistigen Antisemitismus entwickeln, welcher sich von der diffus

protorassistischen Antipathie der Revolutionsjahre nunmehr zur Reinform erklärten

Rassenhasses der Gründerzeit ausprägte. Publikationen, welche unter Antisemiten

reichsweit als Standardlektüre galten, wurden in Leipzig konzipiert und verlegt.

 

Ines Reich hat mit ihrem Beitrag "In Stein und Bronze – Zur Geschichte des

Mendelssohn-Denkmals" zum 1. Leipziger Mendelssohn-Kolloquium von 1993 den

Gesamtvorgang Denkmal hervorragend dargestellt. Sie schreibt so u. a.:

 

„Die Gartenlaube“, ein Massenblatt kleinbürgerlicher Belehrung und rührenden

Familiensentiments, wurde in Leipzig herausgegeben und bot der Leserschaft u. a. auch

eine Fortsetzungsserie antisemitischer Aufklärung. Diese legte dem Publikum

beispielsweise dar dass, "die soziale Frage (...) im wesentlichen eine Judenfrage (sei),

alles übrige ist Schwindel.“ Theodor Fritsch, ein führender Publizist und Ideologe des,

als alleinigen „Zweck seines Lebens“ erachteten deutschen Antisemitismus, betrieb

von Leipzig aus die Geschäfte des Hammer-Verlages. Publikationen waren u. a. „Der

falsche Gott“, "Das Rätsel des jüdischen Erfolges“, „Mein Streit mit dem Hause

Warburg“, Die Sünden der Grossfinanz“; "Anti-Rathenau“. Mit dem im Jahre 1887

herausgegebenen Antisemiten-Katechismus; welcher später zu einem Handbuch der

Judenfrage expandieren sollte, versorgte der Hammer-Verlag die antisemitische

Bewegung Deutschlands von der wilhelminischen Ära bis hin zum Anbruch des "III.

Reiches" mit oftmals von Fritsch in Personalunion von Autor und Verleger vorgelegten

Bekenntnis- und Glaubensschriften.

 

59

 

 


 

Frau Reich führt zum Beweis ihrer schlüssig vertretenen Theorie dezidiert ausgeprägten

Leipziger Lokalantisemitismus der 70ziger und 80ziger Jahre des 19. Jahrhunderts

Fakten heran, welche für sich sprechen: Andere Vorhaben, welche vergleichbar auf die

Spendenbereitschaft Leipziger Bürger reflektierten, kamen wesentlich zügiger voran. So

wurden im Jahre 1883 „recht hohe Summen“ für die Errichtung eines Leibnitz-Denkmals

sowie einer Reformationsgedenkstätte zum Gedenken an das Wirken Dr. Martin Luther

mit „verblüffender“ Schnelligkeit zusammengetragen.

 

Ein weiterer charakteristischer Vorfall ließ dass das Benehmen der Leipziger

Bourgeoisie, sich vom Stande emanzipierten jüdischen Grossbürgertums abzusetzen,

welchem ja auch die Familie Mendelssohn seit Jahrhundertbeginn angehörte,

demonstrativ erkennen.

 

Der in den Jahren 1882 – 1884 konzipierte und ausgeführte klassizistische

Repräsentationsbau eines neuen "zweiten" Gewandhauses wurde durchaus auch als

Mittelpunkt großbürgerlicher Selbstdarstellung im Allgemeinen wie individuellen

aufgefasst.

 

Er umfasste geschätzte Baukosten von 900 000 M und wurde nachhaltig von

Zuwendungen großbürgerlicher Familien finanziert, welche für ein Denkmal

Mendelssohns kaum aufkamen. Dies geht aus damaligen Spendenverzeichnissen

eindeutig hervor.

 

Um das Denkmalsvorhaben angesichts des Klimas latenten Antisemitismus nicht

dauerhaft zu gefährden, suchte das Komitee, dem auch prominente jüdische

Persönlichkeiten aus dem unmittelbaren Freundeskreis Mendelssohns wie Ignaz

Moscheles und Ferdinand David sowie Salomon Jadasson angehörten, jedem Anschein

offizieller jüdischer Partizipation vorzeitig zu wehren. Somit kam eine Zusammenarbeit

mit der renommierten Mendelssohn-Stiftung zur Förderung begabter Pianisten und

Dirigenten, welche im Jahre 1863 von der Jüdischen Gemeinde ins Leben gerufen

wurde und bis 1933 bestand, nicht zustande.

 

Im Jahre 1889 – nach nunmehr 20 Jahren – waren schliesslich 40000 Taler

zusammengetragen, welche zur endgültigen Durchführung noch nicht ausreichten.

 

Das Komitee wandte sich mit der Bilanz an die Öffentlichkeit und beklagte dabei: "daß

die eingegangenen Beiträge ungefähr „zur Hälfte“ von auswärtigen Corporationen und

Privatpersonen eingesandt“ worden seien. Die fehlenden 5000 Taler wurden schliesslich

von der Stadtverwaltung beigesteuert.

 

3 Jahre später, am 26. Mai 1892, wurde das Denkmal, gleichsam die Erinnerung an

einen ungeliebten „Judensohn“ der Stadt, feierlich eröffnet. Die Honoratioren stellten

sich ein und hielten der Pflicht, dem Dank und der Tugend emphatische Laudates,

welche hinsichtlich einer wahrhaft fatalen Sammlungshistorie von 40000 Taler keinen

besonderen Kommentar benötigen:

 

„Leipzig möge es – und sie wird es behüten in Bestätigung des Dankes, welchen unsere

Stadt Ihm schuldet, dessen Namen wir nennen in Liebe und Verehrung“ (Leipziger

Tagblatt, Morgenausgabe, 27.5.1892) verkündete Otto Günther, der Vorsitzende des

Komitees und damalige Direktor des Konservatoriums.

 

60

 

 


 

„Mit der Vollendung dieses Denkmals ist uns nun das drückende Gefühl vom Herzen

genommen, dass dem Manne, der uns so großes und Schönes gegeben hat, das

verdiente äußere Zeichen unvergänglichen Dankes noch nicht gewidmet sei. Dieses

Gefühl der Dankesschuld hat unsre Stadt auch als Gemeinwesen empfinden müssen

(...)

 

Die Stadt wird es sich deshalb auch, daran zweifle ich nicht, stets zur Ehrensache

machen, dieses Denkmal würdig zu erhalten, und ich nehme daher die mir

ausgesprochene Übergabe im Namen der Stadt und im ausdrücklichen Auftrag des

Rates mit herzlichen Dank hiermit an...“ (Otto Georgi; Reden und Ansprachen des

Oberbürgermeisters...; Lpz. 1899) beschwor Oberbürgermeister Georgi das

beiderseitige Vermächtnis.

 

Im Inneren des Gewandhauses, welches bereits seit nahezu zehn Jahren errichtet

stand, ehrte man Mendelssohn musikalisch. Auf der Violine, mit einer Interpretation des

erhabenen Konzertes Op. 64 legte der einstige Weggefährte Joseph Joachim ein wohl

wahrhaftigeres Plädoyer für den Mann des Tages ab.

 

Danach schwand das Denkmal aus dem Blickfeld allgemeiner öffentlicher

Wahrnehmung. Zwei kriminelle Gewaltakte, welches zum einen in den 20ziger Jahren

und zum anderen im Jahre 1936 des vergangenen Jahrhunderts auf den Bestand

desselben abzielten, brachte es einzig nachhaltiger in Erinnerung.

 

16. Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier...

Um 1879 herum prägte sich in den chauvinistischen Gesellschaften der bourgeoisen

Berliner Intelligenz die Moderne völkisch-rassistischen Antisemitismus endgültig heraus,

welche sich im 20. Jahrhundert schliesslich vermittels „Reichskristallnacht“, Deportation

und Genozid nachhaltig manifestieren sollte. Auch der neuzeitliche Begriff des

„Antisemitismus“ definierte sich erst in der um den Berliner Geistlichen Wilhelm Marr

entstandenen Gesellschaft und fand somit 1879 Eingang in die Allgemeinsprache.

 

Ab ca. 1880 fanden anthropologisch-rassistische Theorien des Schriftstellers und

Diplomaten Joseph Arthur Graf Gobineau über den Bayreuther Kreis um Richard

Wagner und nach dessen Tode um Cosima Wagner, den Schwiegersohn Houston

Stewart Chamberlain sowie Wagner Biograph Carl Friedrich Glasenapp verstärkt

Aufmerksamkeit in Deutschland. Gobineau hatte bereits in den Jahren 1853 -55 den 4bändigen

Essay "sur l`inegàlité des races humaines" herausgegeben, welcher die elitäre

Bevorrechtigung der „Arier“-Rasse und sozialdarwinistische Moralvorstellungen

konstatierte sowie die Vernichtung des „Weissrassigen“ durch Blutvermengung

vermittels Geschlechtsverkehr mit „Fremdrassigen" prophezeite. Der Essay war in

Deutschland bereits ab dem Jahre 1856 in einer Bearbeitung durch den Philologen

August Friedrich Potts unter dem Titel "Die Ungleichheit menschlicher Rassen;

hauptsächl. vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte, unter bes. Berücks. von d.

Grafen von Gobineau gleichnamigem Werke"; Lemgo 1856 ff. verfügbar.

 

Der Rassenfanatiker Houston Stewart Chamberlain paraphrasierte Gobineaus Theorien

in zahlreichen Schriften. So bestritt er im Hauptwerk seiner Rassenveranschaulichungen

"Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" vehement: „die Wahrscheinlichkeit das Jesus

(k)ein Jude war“ und behauptete ferner „das er keinen Tropfen echt jüdischen Blutes in

 

61

 

 


 

den Adern hatte“; es käme vielmehr der Gewissheit gleich „das Jesus Christus... der

jüdischen Rasse nicht angehörte, kann als sicher betrachtet werden. Jede weitere

Behauptung bedeutet eine willkürliche Annahme,“

 

Jens-Malte Fischer erweitert die Sicht auf Chamberlain und seine diversen

antisemitischen Umtriebe in seiner Studie über Wagners „Das Judentum in der Musik“

folgendermaßen „Der Schwiegersohn Wagners, Houston Stewart Chamberlain, widmete

der Broschüre („Das Judentum in der Musik“; Anm. d. Verf.) in seinem Wagnerbuch, das

1895 erschien, hochtrabende Worte der Bewunderung:

 

Chamberlain schreibt also:

„Dagegen hat ein anderes Rassenthema Wagner von früh an viel beschäftigt: der

demoralisierende Einfluss einer dieser weißen Rassen auf die anderen, des Judentums

auf die nichtjüdischen Völker. Wagners Judentum in der Musik erschien zuerst 1850 in

Brendels Neue Zeitschrift für Musik; sodann als selbstständige Broschüre und mit

ausführlichen Vorrede versehen im Jahre 1869. Keine Schrift des Meisters ist vielleicht

 

– wenigstens dem Titel nach – so bekannt: der Ausdruck Verfasser des Judentums in

der Musik“ ist eine der beliebtesten Umschreibungen für „Richard Wagner“ (zitiert nach

der 3. Auflage bei Bruckmann 1904).

Darüber hinaus war Chamberlain ein führendes, maßgebliches Mitglied im Bayreuther

Kreis; eine Gruppe von Demagogen um Cosima und Winifred Wagner, welche sich

gänzlich dem Erhalt der Reinrassigkeit von Wagners musikdramatischen und

antisemitischen Ideologien im Bannkreise Wahnfrieds widmete.

 

Weitere Publikationen Chamberlains sind:

 

Rasse und Nation / von H. St. Chamberlain München : Lehmanns, 1918

 

Rasse und Persönlichkeit : Aufsätze / von Houston Stewart Chamberlain Aufsätze

München : Bruckmann. - 200 S

 

Arische Weltanschauung / Houston Stewart Chamberlain. -4. Aufl. München :

Bruckmann, 1917. - 94 S.,

 

Dilettantismus -Rasse -Monotheismus -Rom : Vorwort zur 4. Auflage der Grundlagen

des 19. Jahrhunderts / Houston Stewart Chamberlain, München : Bruckmann 1899

 

Im Jahre 1880 initiierten der Gymnasiallehrer Bernhard Förster und der Premierleutnant

Liebermann von Sonnenberg als Repräsentanten der „deutsch-sozialen Partei“ die

Verbreitung einer antisemitischen Petition an Reichskanzler Otto von Bismarck. Diese

beklagte die Schädlichkeit der jüdischen Rasse für die Wohlfahrt und Kultur des

deutschen Volkes und forderte die Eliminierung der Juden aus Staats-und Schuldienst,

Zensus der jüdischen Bevölkerung und Einwanderungsbeschränkung. Sie wurde in

Berlin von 250 000 Bürgern unterzeichnet.

 

Im Jahre 1889 fand die neugotische Umgestaltung der Thomaskirche in Leipzig ihren

Abschluss. Im Zuge dessen waren farbige, Persönlichkeiten der Stadtgeschichte wie

Martin Luther, Johann Sebastian Bach und Gustav Adolph von Schweden zugeeignete

Memorialfenster ausgeführt worden. Auch der Bachrestaurator und

Gewandhauskapellmeister Mendelssohn sollte ursprünglich gewürdigt werden.

 

62

 

 


 

Doch bald erhob ein sog. „Deutscher Reformverein“ seine Stimme so vehement gegen

das Vorhaben, „einen Juden in einer protestantischen Kirche ehren zu wollen“, das die

Realisierung des Mendelssohn-Fensters unterblieb. Erst das Jahr 1997 ließ das

Vorhaben, dank einer Schenkung der ehemaligen Thomasschüler Wolfgang und Klaus

Jentzsch, Wirklichkeit werden.

 

In den 90ziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden auch vom Auslande her erhebliche

Ressentiments von prominenter Seite in die Mendelssohn-Rezeption eingebracht.

 

George Bernhard Shaw war nicht nur ein bedeutender Dramatiker des europäischen

Theaters; er hatte sich mit der Zeit auch zu einem rückhaltlosen Bewunderer des

Wagnerschen Musik-Dramas und Verfechter Wagnerscher Kathederlehren entwickelt

und erwies sich antisemitischen Tendenzen gegenüber keineswegs verschlossen. Dem

grossen Vorbilde publizistisch entsprechend, betätigte sich auch Shaw als Autor

musikkritischer Rezensionen, welche unter dem Pseudonym „Corno di Bassetto“

herausgegeben wurden. Der bezüglich Mendelssohn-Rezeption gepflogene Ton war ein

herablassender, von jener Art beißender Häme, wie sie jedwedem Dilettantismus

viktorianischer Snobs in den Bühnenwerkens Shaws stets gewidmet ist.

 

Auch hier liegen die Gründe offensiver publizistischer Negierung von Mendelssohns

Ansehen im außermusikalischen, im Bereich gesellschaftskritischer Hinterfragung

repräsentativen Viktorianismus, auf welchen Shaw das Wirken des Komponisten

nachhaltig zu reduzieren trachtete.

 

Im Juli 1894 erschien in den Vereinigten Staaten von Amerika – in New York – im „The

Centuary Illustrated Monthly Magazine“ ein umfangreicher Aufsatz über Leben und

Wirken des großen Franz Schubert, den der gerade in Amerika weilende tschechische

Komponist Antonin Dvorak zusammen mit dem Publizisten Henry T. Finck geschrieben

hatte. Dvorak spart bei dem Bemühen, Schuberts allgemeine und besondere

Verdienste um die Symphonie darzulegen, nicht mit einigen Seitenhieben gegen Felix

Mendelssohn. Dabei war der stets im Stande der persönlichen und musikalischen

Integrität weilende Dvorak sicherlich kein expliziter Mendelssohn-Gegner und dies

schon gar nicht aus Gründen von Antisemitismus. Ob Dvorak als Zeitgenosse und

Gefolgsmann von Johannes Brahms dem demagogischen Bestreben der Neudeutschen

Schule und denen Kampagne gegen Mendelssohn eher fern stand, ist fraglich. Dass er

sich dennoch negativ über Mendelssohn geäußert hat, beweist nur mehr, dass er sich

auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe einer allgemein gegen Felix Mendelssohn

gerichteten Geringschätzung bewegte.

 

Dvorak schreibt also:

„In seiner (Schuberts) Kammermusik wie in seinen Symphonien finden wir häufig

wunderschöne Beispiele für polyphones Schreiben – siehe zum Beispiel die Andante

-Sätze des C-Dur-Quintetts und des D-Moll-Quartettes -,und obwohl seine Polyphonie

von der Bachs oder Beethovens verschieden ist, ist sie deshalb nicht weniger

bewunderungswürdig. Mendelssohn ist ohne Zweifel ein größerer Meister der

Polyphonie als Schubert, trotzdem ziehe ich Schuberts Kammermusik der Mendelssohn

vor.

 

Und dann wird Dvorak im Tonfall eindringlicher und aggressiver: „Auch von Schuberts

Symphonien bin ich ein enthusiastischer Bewunderer, so dass ich nicht zögere, ihn

neben Beethoven zu stellen, weit über Mendelssohn (..) Mendelssohn besaß etwas von

 

63

 

 


 

Mozarts natürlichem Instinkt für Orchestrierung und von dessen Begabung für die Form,

aber vieles in seinem Werk hat sich als vergänglich herausgestellt“. Dvorak war wohl

der Friedrich Nietzsche nahe stehenden Meinung, das Mendelssohn ein Zwischenfall,

ein bereits von der Zeit überwundener Komponist war, dessen musikalische Mittel als

veraltet und überholt einzuschätzen seien.

 

Gleichsam in den 90ziger Jahren des vorvorigen Jahrhunderts zeichnet der

impressionistische Lyriker Detlev von Liliencron, vor ähnlichem Hintergrunde wie Shaw,

im Gedicht Reinigung die Karikatur eines Lieferanten sentimentaler Piècen

kleinbürgerlich-bildungsbeflissener Zerstreuung jüdischen Namens, dessen Vorbild

damals wie heute leicht zu erkennen ist:

 

"Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier,

der lange Leutnant mit dem Ordensbändel;

das alte Fräulein brütet Rätseleier,

besorgt den Tee und duftet nach Lavendel.

(...)

Weh mir, wie langsam schwingt der Abendpendel!

Zu Ende. Gott sei dank: ich atme freier,

und bade mich daheim in Bach und Händel".

 

 

In seiner "Illustrierten Geschichte der Musik" aus dem Jahre 1903 dokumentiert der

Musikwissenschaftler Otto Keller folgerichtig die Geringschätzung jener Jahre

anschaulich:

 

”In den beiden Oratorien fehlt das Dramatische, das Leidenschaftliche, aber

Mendelssohn hatte nicht die Gabe, sich stark und unmittelbar auszusprechen. Und

trotzdem liegt in dieser Musik etwas Sonniges, das uns so angenehm berührt, wie ein

schöner Sommertag, weil sie in ihrer Einfachheit befriedigt und gar keine

Leidenschaften auslöst. Seine Kammermusik ist gänzlich verschwunden, seine

Klavierwerke gehen auch nicht tief, seine Lieder ohne Worte haben eine Ära seichter

Salonmusik heraufbeschworen, die besser ungeschrieben geblieben wäre. Sein ganzer

Lebenslauf war sonnig vom Urbeginne, er hatte nie Sorgen kennengelernt wie Mozart,

man darf sich daher auch nicht wundern, daß die Sonnigkeit seines Lebens auch in den

Werken zum Ausdruck kam”.

 

17. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut...

Im darauf folgenden Jahr legte die Muthsche Verlagshandlung in Stuttgart eine

Geschichte der Musik vor, die der Musikpublizist Dr. Karl Storck in

populärwissenschaftlichem, spürbar subjektivem Tonfall verfasst hatte. In der

repräsentativen Ausstattung vermittels Jugendstilprägung des Einbandes und

graphisch-allegorischer Textillustration sowie hinsichtlich eines Textumfanges von über

800 Seiten ist er der Illustrierten Geschichte der Musik Otto Kellers vergleichbar. Dr.

Storck trat des Weiteren auch noch als Verfasser von Opernführern hervor, welche bis

in die 40ziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nachgedruckt wurden.

 

64

 

 


 

Storcks Referat über Leben und Musik Felix Mendelssohns setzt in der

Rezeptionsgeschichte inhaltlich keine neuen qualitativen Maßstäbe in negativer

Hinsicht; es wird lediglich der Katalog einschlägiger Stereotypen erneut repetiert.

 

Formell sprengt der entschieden polemische Tonfall Storcks allerdings den bis dahin

von einer um Seriosität bemühten Musikpublizistik vorgegebenen Rahmen. In Zeiten

nationaler Erhebung 10 Jahre vor dem Ersten Grossen Kriege verfällt Storck in eine

Sprechweise, deren Zielrichtung dezidierter Polarisierung sich erst in den Jahren ab

1933 vollendet herausbilden sollte. Des Weiteren stechen der Hang zu unausgesetzt

aufgestellter spekulativer Behauptung sowie gleichermaßen die Formulierung in der

negativen Superlative hervor.

 

Erwägungen wie jener Abgleich der Elemente Felix Nomen est Omen, früher Tod und

die Prophezeiung eines unzweifelhaften, gegebenenfalls noch in den Reife-und

Altersjahren Mendelssohns, also noch zu Lebzeiten erfolgenden Niedergangs seines

Renommees führen Storcks Darlegungen schliesslich in die Bereiche des Zynismus.

 

All dies versetzt nicht allein Storcks publizistisches Wirken insgesamt in ein

fragwürdiges Licht. Die unrezensierte Reflektion desselben in einem opulent

aufbereiteten bildungsbürgerlichen Musik-Familienhausbuch vermittelt eindringlich den

Geist, welcher die Jahre vor dem 1. Weltkriege zu prägen schien. Ob Dr. Storck dabei

von subjektivem Widerwillen gegen Person und Tonsprache Mendelssohns oder

antisemitischer Ereiferung angeleitet wurde, muss dabei offen bleiben.

 

Hier nun Storcks Mendelssohn-Vortrag in Auszügen.

 

Zu Werdegang und Rezeption:

"Zum Kreis der Romantiker wird auch Felix Mendelssohn-Bartholdy gerechnet. Ich

möchte da von einer Romantik aus Bildung sprechen. (...) Unsere deutsche

Kunstgeschichte wird überhaupt unter ihren bekannten Künstlern kaum noch einen

Mann nennen können, dessen Entwicklung so glatt verlief, so gar nichts von Kampf, von

problematischem zeigt, wie die seine. Das könnte ein Ideal sein, (...) wenn es nicht

leider Oberflächlichkeit bedeutete. Es werden immer wieder bei den ja recht selten

gewordenen Aufführungen Mendelssohnscher Werke Stimmen laut, die eine

Neubelebung seiner Kunst erhoffen. Im Ernst kann man daran kaum glauben, so leicht

begreiflich es auch ist, daß man (...) seine einfachen und auf das vornehme

Gesellschaftsleben abgestimmten Werke als Erholung empfinden kann. (...)

 

Zum Elternhause:

Felix Mendelssohn ist ein Enkel des jüdischen Reformators und Philosophen Moses

Mendelssohn (...). Es war schon dem Philosophen gelungen, aus der Armut zum

Reichtum zu gelangen, und unseres Felix Vater hatte den so vermehrt, daß er 1809 in

Berlin das noch heute blühende Bankgeschäft gründen konnte. (...) Keine Mühe, keine

Kosten wurden gescheut, jegliche Gabe, die sich bei dem Kinde zeigte, aufs sorgsamste

auszubilden(...)

 

Zum "Felixissimus":

Am 4. November 1847 erlag er einem Nervenschlag. Von künstlerischem Standpunkt

aus könnte man wohl sagen, daß auch in diesem frühen Tode sein Vornahme "Felix" die

glückliche Bedeutung für sein Leben behielt. Denn es wäre Mendelssohn kaum erspart

geblieben, daß er seinen Ruhm wohl bald überlebt gehabt hätte. (...)

 

65

 

 


 

Zu Werk und Musik:

Mendelssohns größtes Verdienst liegt zweifellos in seiner Hebung des öffentlichen

Konzertlebens; durch ihn sind die Werke der Klassiker in den Mittelpunkt desselben

gerückt worden. (...) Doch zeigt sich auch in dieser Tätigkeit die Schwäche

Mendelssohns, die freilich akademischen Naturen gar als Vorzug erscheinen mag.

Mendelssohn ist immer und überall der wohlerzogene Sohn des wohlhabenden, auf den

äußeren "Dekor" in jeglicher Lebenslage bedachten Hauses.

 

Wäre nicht die gründliche Bildung, man würde den Mangel jeder überschäumenden

Kraft, jedes persönlichen Hervortretens noch viel störender empfinden. Denn darüber

muss man sich klar sein: Mendelssohns Ruhe und Abgeklärtheit ist nicht die Ruhe nach

dem Sturm, sondern die eines Mannes, dem das äußere Leben jeden Kampf ersparte,

der auch innerlich niemals zum Ringen kam. (...) Sein Gefühl für das Volkstum blieb

doch recht äußerlich, was schon die Tatsache zeigt, daß Schumann in der schottischen

Symphonie die italienische vermuten konnte. Das Schaffen Mendelssohns ist doch im

Wesentlichen formal.

 

Der Inhalt (...) ist nirgends stark, aber es entsteht bei diesem gebildeten Mann doch

auch nie eine wirkliche Leere. Wie äußerlich sein Verhältnis zur Form aber doch oft war,

zeigt die Übernahme des Erzählers und des Gemeindechorals aus der alten Passion ins

Oratorium (...) wogegen in der Musik zur "Antigone" und dem "Ödipus" das

schwächliche Philologentum, wie man es geradezu nennen könnte, gegenüber dem

gewaltigen Empfindungsgehalt der Antike arg zurückbleibt.

 

Die um den 3. Februar des Jahres 1909 herum pflichtgemäß abgeleisteten

Gedächtnisfeierlichkeiten zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages erregtenangesichts dessen wiederum nur Befremden in der europäischen Öffentlichkeit. Ernest

Walker kommentiert im "Manchester Guardian" vom 3. Februar 1909:

 

”Mendelssohn, einer der ehrlichsten Menschen, hätte es tausendmal vorgezogen, daß

sein Ruhm ungerechterweise untergegangen wäre, als daß er durch heuchlerische und

unwahre Mittel gerettet würde.”

 

18. Eine Lanze für Felix Mendelssohn

Die späten 90ziger Jahre, die Jahrhundertwende, aber auch die Jahre bis in die

Weimarer Republik hinein, brachten nichtsdestotrotz vermehrt Plädoyers namhafter

Persönlichkeiten kulturellen Lebens zugunsten Mendelssohns mit sich. So engagierten

sich die Komponisten Max Reger, Camille Saint-Saens, Ferruccio Busoni, und Alfredo

Casella, die Dichter Theodor Fontane und Romain Rolland, die Musiker Johannes

Brahms und Hans von Bülow, der der Musikwissenschaftler und Intendant des

Wiesbadener Staatstheaters Paul Bekker, der Musikhistoriker Heinrich Schenker sowie

der erste, quellenkritisch herangehende, seriöse Biograph Mendelssohns Ernst Wolff für

die ästhetische Neubewertung eines "feinsinnige(n), gemütswarme(n), grosse(n)

Meister(s)", der "fast vergessen, jedenfalls total unterschätzt wurde und wird" (Reger).

 

Max Reger empfahl des weiteren “all den verwirrten (...) jungen Übermenschen, bei

denen Musik überhaupt erst beim achten Horn, beim vierfachen Holz, bei

vierundsechzig Schlaginstrumenten (...) beginnt” eingehendere Beschäftigung mit “der

Vollendung des klaviertechnischen Materials” und “der absolute(n) Beherrschung des

musikalisch-formellen Elements” (Wirth, Max Reger, Reinbek 1973) Mendelssohnscher

Kompositionen.

 

66

 

 


 

Der Musikpublizist Adolf Weißmann befreite die musikalische Entwicklung Richard

Strauss und Max Regers aus dem übermächtigen Einflussbereich Wagners, in welchem

öffentliche Wahrnehmung sie bislang ansiedelte und führte den musikalischen Ursprung

derselben wieder stärker den eigentlichen Vorbildern Felix Mendelssohn und Johannes

Brahms zu.

 

Paul Bekker wiederum erkannte Felix Mendelssohn den Rang eines selbständigen

Nachfahren Beethovens zu.

 

Busoni ehrte Felix Mendelssohn nicht nur als ”einzigen wahren Schüler Mozarts neben

Rossini und Cherubini”. Mit dem formal-komplex polyphonen Tondrama Dr. Faust hatte

Busoni ein epochales Werk früher Moderne unvollendet hinterlassen und sich parallel

dazu, gegen Ende seines Lebens, die ”seichte Salonmusik” der "Lieder ohne Worte" zu

erneutem, intensivem Studium vorgelegt.

 

Die Jahre des 1. Weltkrieges; die Ernüchterung unabsehbar fortdauernden

Kriegsschreckens, brachten hingegen vermehrte Abkehr von allzu heroischsimplifizierenden

kulturellen Nationalismen in der Musik und auf der Bühne. Nicht von

ungefähr reduzierte sich somit auch die Aufführungszahl des bislang stilistisch

dominierenden Wagner-Werkes erstmals auf einen Gleichstand innerhalb gewohnten

Mischrepertoires.

 

19. Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur

Der Komponist und Musikpublizist Max Chop, seinerzeit als Liszt-Autorität gewürdigt,

wurde Musikfreunden unserer Zeit hauptsächlich durch historische Veröffentlichungen

innerhalb der traditionsreichen Universal-Bibliothek des Hauses Reclam geläufig. In den

Jahren 1900 bis ca. 1920 legte er zahlreiche fundiert recherchierte Einzelstudien von

Standardwerken des Opernrepertoires und Komponistenbiographien vor. Ob ihm im

Zuge dessen auch die Erarbeitung eines Felix Mendelssohn-Portraits übertragen wurde,

wäre noch herauszufinden, aber keineswegs zu hoffen.

 

Ein von Max Chop im Jahre 1916 erstveröffentlichter Führer durch die Musikgeschichte

zumindest entwickelt bereits in der komprimierten Behandlung des Sujets einschlägig-

perfide Dialektik von neuer unvermuteter Qualität.

 

Der Wagnerianer Chop sucht die Person, den Menschen Felix Mendelssohn

nachhaltig zu minimieren, um – quasi vermittels eines Phänomens umgekehrter

Relativierung – das Idol des Musikdramatikers daran ins unermessliche zu erheben.

 

Nach dem klug disponierten Verweis auf Parteienstreit und musikalisch indifferente

Diffamie greift Chop selbst sogleich zu der zuvor angeprangerten Methodik.

 

Originäre Qualität entwickelt dabei eine Praxis inkriminierender Verfälschung

biographischer Fakten, Verkürzung und Umkehrung von Zusammenhängen, ja fiktiver

Behauptungen: musik-“wissenschaftlicher“ Methoden also, welcher sich einzig der

Nationalsozialismus noch vergleichbar bedienen sollte.

 

Daher seien für diesmal den demagogischen Wendungen auch Verweise auf die

eigentliche biographische, musikhistorische Sachlage entgegengestellt.

 

67

 

 


 

Das von Chop nachfolgend imaginierte Zerrbild eines kleinlichen, eifersüchtigen, eitlen

Musikfunktionärs, das beim zeitgenössischen Leser massiv hervorgerufene

Ressentiment gegenüber der Person des Komponisten, negiert die im Anschluss

dargelegte verhaltene, um Differenzierung bemühte, stellenweise bewundernde

Sichtweise auf dessen Musik denn auch erheblich.

 

„Die künstlerische Persönlichkeit (...) Felix Mendelssohns sachlich zu erörtern, ist (...)

eine nicht eben leichte Aufgabe, weil der Streit der Parteien und Meinungen schärfer

denn je um die Werke und deren ästhetische Werte entbrannt ist“. (...) Ohne Frage hat

(...) die tendenziöse Mache und Propaganda gewisser Kreise der ruhigen Abwägung

viel geschadet (...), indem (das ästhetische Sentiment) Mendelssohn gegen die

neudeutsche Kunst ausspielte und seine Stellung Wagner gegenüber ihm (...) zum

Vorwurf (machte). Gewiss: Mendelssohn liebte Wagner durchaus nicht, vielleicht, weil er

von der ersten Bekanntschaft (...) an, das ihn selbst in seiner Machtstellung

gefährdende, kunstrevolutionär gesonnene Genie erkannte.

 

Er dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhause als „warnendes

Beispiel“ (...) und tröstete den Komponisten des „Fliegenden Holländers“ bei der

Dresdner Erstaufführung des Werkes durch den etwas schadenfrohen Zuspruch: Er

könne ganz zufrieden sein mit der Aufnahme, denn sie sei ja, alles in allem, kein

vollständiges Fiasko gewesen".

 

(Mendelssohn wohnte der Berliner Premiere des „Holländers“ im Januar 1844 bei und

„kam nach der Vorstellung auf die Bühne, umarmte mich und gratulierte mir sehr

herzlich.“ Richard an Minna Wagner; 8.1.1844)

 

"Indessen lagen solche Äußerungen in einer menschlichen Schwäche begründet, die

von jeher bei Musikern und Tondichtern fruchtbaren Boden gefunden hat. (...)

Mendelssohn (...) konnte es nicht verwinden, einen Künstler neben sich zu sehen, der

die öffentliche Aufmerksamkeit von ihm auf sich selbst ablenkte. Selbst für Robert

Schumann hatte er kaum ein freundliches Wort übrig,

 

(Uraufführung der 1. „Frühlings“-Symphony und der 2. „C-Dur“-Symphony Schumanns

durch Felix Mendelssohn im Gewandhaus)

 

Chopin bespöttelte er als „Chopinetto“ , Liszt war ihm gänzlich unsympathisch und

Berlioz nannte er „eine vollständige Karikatur ohne einen Funken von Talent“.

 

(Den Zeitgenossen Schumann, Wagner und Brahms vergleichbar sind ästhetische

Vorbehalte Mendelssohns gegen andere musikalische Auffassungen selbstverständlich

schriftlich belegt; Chopin, Liszt und Berlioz waren in den Jahren 1840 und 1843 als

Interpreten eigenen Repertoires Gäste des Gewandhauses. Integrität, menschliches,

musikalisches sowie -im Falle des Gewandhausskandales um Franz Liszt nahezu

extraordinär erwiesenes – organisatorisches Engagement des Gastgebers Felix

Mendelssohn sind jeweils in fundierteren Biographien und Autobiographien der

Genannten nachgewiesen.)

 

(...) Zwischen beiden (Wagner und Mendelssohn) bestand der (...) Unterschied, daß der

eine das (...) künstlerische Vermächtnis eines Bach, Händel, Beethoven (...) sich zu

 

68

 

 


 

eigen gemacht hatte, ohne (...) Konsequenzen in einem dem Zeitgeiste angepassten

Sinne zu ziehen, während beim anderen sich aus dem völligen Aufgehen in den

genannten Meistern heilige Feuer entzündeten, deren leuchtender Schein schon damals

seine Reflexe weit voraus warf.

 

(Wagners Bekenntnis zum Werk Beethovens ist verbürgt; eine Affinität zum

„akademisch“ und „historisch“ apostrophierten Werk Bachs und Händels bestand nicht.)

 

"Wohl die größten Antipoden...– selbst in der äußeren Gestaltung des Lebens, das dem

einen lachenden Sonnenschein und Anerkennung, dem anderen Kampf, Not und

Verkennung schickte! Mendelssohn eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur, Wagner

ein herber, kraftvoller, zäher, dem Explosiven zuneigender Charakter! (Max

Chop; Führer durch die Musikgeschichte, Berlin 1916, ebd. 1922)

 

Intermezzo III: und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhause...

 

Verwirrung gibt es auch um die Aufführung der „Tannhäuser"-Ouvertüre, welche am

12.2.1846 im Rahmen eines Sonderkonzertes zugunsten des Pensionsfonds des

Gewandhausorchesters als Werk zeitgenössisch-avantgardistischer Tonkunst

angesetzt und vom Publikum ausgezischt wurde. Es dirigierte Eric Werner und Stephan

Kohler zufolge nicht Mendelssohn, sondern Ferdinand Hiller.

 

Mendelssohn wirkte nachweislich als Pianist (Beethovens 32 Klaviervariationen in C-

Moll, Op. 36) an diesem Konzerte mit. Bedauerlicherweise verzichtete Werner auf einen

Verweis, woher er die Information eines Hillerschen Dirigates bezog und verwechselt

darüber hinaus Hiller möglicherweise mit einem der anderen als Stellvertreter

Mendelssohns tätigen Kapellmeister wie Gade.

 

Hiller dirigierte die Gewandhauskonzerte stellvertretend während des ersten Berliner

Engagements Mendelssohns, also von April des Jahres 1841 bis Oktober des Jahres

1842; nahm aber, nach vermeintlichem Zerwürfnis mit Mendelssohn, im Jahre 1844 eine

Verpflichtung als Kapellmeister in Dresden an. Möglicherweise dirigierte Hiller bis zum

Tode Mendelssohns oder gar darüber hinaus also niemals mehr am Gewandhause. In

der Saison 1845/ 46 indessen teilte sich Niels W. Gade nachweislich mit Mendelssohn

in die Leitung des Leipziger Konzertwesens.

 

Da gemeinhin Felix Mendelssohn als Dirigent der verunglückten Leipziger Vorstellung

genannt und darüber hinaus auch das Datum diffus gehandhabt wird (so nennt Karl-

Heinz Köhler fälschlicherweise März 1845), liegt möglicherweise der Lapsus einer

genuin aus der Wagner-Literatur hervor-und in die biographische Mendelssohn-

Rezeption übergegangenen, allgemeinhin tradierten Gleichsetzung von Ort und Person

vor.

 

Wagner selbst hatte von dem Konzert lediglich nachträglich aus zweiter Hand erfahren.

In seiner nahezu 20 Jahre später verfassten Autobiographie „Mein Leben“ gibt er

Mendelssohns Dirigat hingegen als Fakt wieder. Da Wagner in „Mein Leben“

zahlreichen Autographen der Jahre 1842-47 von seiner Hand (vor allem den an Felix

Mendelssohn gerichteten Briefen) offenkundig widerspricht, scheidet dieselbe als

seriöse Informationsquelle zu Leben und Werk Mendelssohns größtenteils aus.

 

69

 

 


 

Der spätere Dirigent Hans von Bülow hingegen wohnte als Augenzeuge jenem Konzerte

bei und berichtete 5 Jahre später darüber in dem Essay "Das musikalische Leipzig und

sein Verhältnis zu Richard Wagner" aus dem Jahre 1851. Auch er nennt den Dirigenten

nicht namentlich.

 

"Um sich nicht dem Vorwurfe eines grundlosen Verdammungsurtheils, d. h.

grundsätzlichen Ignorierens der Wagnerschen Musik auszusetzen, beschloss man

daher, die Ouvertüre zum Tannhäuser, als ein größeres, abgeschlossenes Tonstück,

das in Dresden Furore gemacht, in einem Concerte zu Gehör zu bringen.

 

Die Aufführung dieses sehr schwierigen, aber bei gehörigem Fleisse und Sorgfalt im

Einstudieren auch höchst dankbaren und unvergleichlich wirksamen Musikstückes, war

über alle Maßen unerquicklich, eine Execution , im besonderen Wortsinne.

 

Es hätte einer solchen (...) Verhunzung – nicht einmal bedurft, um die Composition

fallen zu lassen: die missmuthige Miene des Dirigenten autorisierte gewissermaßen

schon das Publikum zur Missfallensbezeugung. Mendelssohn hat durch jene herzlichen

Worte, welche er nach einer Aufführung des Tannhäuser in Dresden mit sichtlicher

Ergriffenheit an Wagner richtete, sich vollkommen von diesem trüben Flecken gereinigt;

von Leipzig würden wir es aber recht taktvoll gehandelt wissen, wenn es Wagner eine

réparátion d´honneur (...) nicht länger schuldig bliebe".

 

Nicht allein jenes im Nachsatz vorgebrachtes Resümee lässt wenig auf eine

Interpretationsverantwortung des Gewandhausdirektors für jenen Konzertteil schließen;

vielmehr widersprechen die Verweise auf offenkundig ermangelnden „gehörige(n)

Fleisse und Sorgfalt im Einstudieren“ respektive „unerquickliche“ Ausführung eigentlich

allen überlieferten musikalischen Prinzipien des Dirigenten Mendelssohn hinsichtlich

Sorgfalt in der Orchesterarbeit und unbedingter Aufführungsqualität.

 

Darüber hinaus verweisen auch die Originalrezensionen des Pensionsfondkonzertes in

den führenden Leipziger Fachpublikationen und die im Jubiläumsalmanach des

Gewandhauses vom 1898 enthaltene Konzertchronik nicht auf ein Mendelssohndirigat

der Ouvertüre.

 

Die Rezensionen in der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" aus Leipzig sowie in der

„NZfM“ schweigen sich über den Abenddirigenten vollkommen aus.

 

Das liesse, Mendelssohn am Pult vorausgesetzt, in beiden Fällen erheblich verwundern.

In der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" zeichnete der Lokal-Rezensent L. R. in den

letzten Arbeitsjahren Mendelssohns für die Berichterstattung der Gewandhauskonzerte

alleinverantwortlich. Er ließ es sich zur Gepflogenheit werden, das Dirigat Mendelssohns

jeweils nicht allein dezidiert zu kommentieren, sondern dessen Namen in der Rezension

gar kursiv hervorzuheben. Das Unterschlagen einer musikalischen Leitung durch

Mendelssohn fiele bei diesem Rezensenten also vollständig aus dem Rahmen.

 

Einzig die Besprechung des berüchtigten Novemberkonzertes gleichen Jahres, mit einer

missglückten Uraufführung der C-Dur-Symphony Schumanns und darauf folgenden, auf

die Person Mendelssohns abzielenden „mosaischen“ Unterstellungen der Presse,

schweigt sich über den Abenddirigenten aus.

 

70

 

 


 

Allerdings erfolgte zwischen den beiden Ereignissen ein Redaktionswechsel in der

"Allgemeinen musikalischen Zeitung", der Rezensent der Gewandhauskonzerte wurde

fürderhin nicht mehr genannt und hatte möglicherweise gleichsam gewechselt.

 

Interessanter in diesem Zusammenhang ist eher noch die Besprechung der gleichen

Veranstaltung durch die „NZFM“, welche Franz Brendel höchstselbst vornahm. Auch

dieser lässt den Dirigenten unerwähnt. Nach allem, was bislang über die publizistische

Position Brendels im Leipziger Musikleben erörtert wurde, lässt sich kaum annehmen,

daß in einem renommierten "neudeutschen" Fachorgan die vermeintlich exemplarische

„Verhunzung“ eines wesentlichen Meilensteines der „Neudeutschen Schule“ durch den

führenden Kopf der Leipziger „Traditionalisten“ taktvoll unter den Tisch fallen gelassen

wurde.

 

Während die genannte Orchesterchronik die detaillierten Konzertberichte oftmalig mit

der Verlautbarung: Mendelssohn dirigierte, Hiller dirigierte abschloss, wird auch dort

kein musikalischer Leiter besagten Pensionsfondkonzertes genannt. Dies legt die

Vermutung nahe, daß sich, da Mendelssohn und Gade (Viola-Partie im Quartett-Konzert

für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Orchester von Ludwig Spohr) sich ja auch als

Instrumentalsolisten in das Konzert einbanden, beide möglicherweise als A-oder B-

Dirigenten des Gewandhauses in die Veranstaltung teilten.

 

Publikumsverstörung und Skandal rief die Aufführung der Ouvertüre in jenen Jahren

auch in anderen Musikstädten Europas hervor.

 

Als Generalmusikdirektor Franz Lachner das Werk am 1. November des Jahres 1852 im

Rahmen eines Odeon-Konzertes erstmalig in München vorstellte, wurde es vom

Auditorium einhellig ausgezischt. Hans von Bülow erhob die Stadt München in einer

umfassenden Kolumne polemischer Essays in der „NZfM“ daraufhin eilfertig in den

hohen Rang einer Ordensburg musikalischer Reaktion und eines Zentrums der

„Opposition in Süddeutschland“ („NZfM“, Nr. 22 – 26, 25.11. – 23.12.1853).

Auditoriumseklats infolge konzertanter und szenischer Darbietungen Wagnerschen

Werkes gab es auch in einem vom jungen Hans von Bülow selbst geleiteten Konzert

("Tannhäuser"-Ouvertüre), des gleichen in Wien (dito) und Luzern ("Der Fliegende

Holländer"). Eine im Jahre 1850 geplante Aufführung der "Tannhäuser"-Ouvertüre in der

Union Musicale in Paris scheiterte bereits im Vorfeld am Desinteresse des Orchesters.

 

20. Nur in einem Abstand zu nennen

Wie weitgehend der Einfluss der Wagnerschen Musik-und Rassentheorien sich auf das

Denken und Empfinden der Deutschen jener Zeit auswirkte, wie bindend und

folgerichtig dieselben sich amalgamisch zum Seelenkit der Menschen verdichteten,

dass sogar jüdischstämmige Komponisten die Wagnerschen Seeleninvektiven bewusst

verinnerlichten, beweist ein Brief Kurt Weills an seinen Bruder aus dem Jahre 1919: Er

bezweifelt darin in jugendlicher (und vielleicht auch in völkischer) Unsicherheit die

Eignung zum Komponisten.

 

„Ich war schon fast bei dem Entschluss angelangt, die Schreiberei aufzustecken und

mich nur auf die Kapellmeisterei zu werfen. Wir Juden sind nun einmal nicht produktiv,

 

71

 

 


 

und wenn wir es sind, wirken wir zersetzend und nicht aufbauend; und wenn die

Jugend in der Musik die Mahler-Schönberg-Richtung für aufbauend, für

Zukunftsbringend erklärt (ich tue es ja auch!) so besteht sie eben aus Juden, oder aus

jüdelnden Christen. Niemals wird ein Jude ein Werk wie die Mondscheinsonate

schreiben können. Und die Verfolgung dieses Gedankenganges windet einem die Feder

aus der Hand.“

 

Als originärster Beitrag der Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre zu stereotyper

Mendelssohn Negation in Schlagworten kann jenes des „Abstands“ gelten, die zahlreich

publizierte Behauptung: nur in einigem Abstand zu anerkannten Meistern der

europäischen Musikgeschichte könne Mendelssohn ja rezipiert werden.

 

So hebt Prof. Dr. Ludwig Schiedermeyer in der Monographie „Die Deutsche Oper“

(Quelle & Mayer, Leipzig 1930) gleich zu Beginn einer vergleichenden Darstellung

Schuberts und Mendelssohns als Problemkindern deutschsprachigen Musiktheaters

divergierende Rezeptionsebenen als quasi selbstverständlich und gottgegeben hervor:

 

"In einer gewissen Ähnlichkeit mit Schubert hatten auch Felix Mendelssohn-Bartholdy,

der nur in einem Abstand von diesem genannt werden darf, immer wieder Opernpläne

beschäftigt. (...) Das Missgeschick, das "Die Hochzeit des Camacho" trotz aller

Anerkennung der Mendelssohnschen Verwandtschaft bei der Erstaufführung im Berliner

Schauspielhause (1827) ereilte, enttäuschte den sensiblen, überempfindlichen Jungen

so schwer, daß er fortan nicht mehr ohne Voreingenommenheit (...) der Oper

gegenübertrat".

 

Auch im weiteren Verlaufe der Schiedermayerschen Nationaloperngeschichte wird

Mendelssohn als Maßstab der Mittelmäßigkeit angeführt, wenn es beispielsweise gilt,

Schwächen in der Tonsprache des jungen Richard Strauss zu indizieren.“

 

"Mit der musikalischen Umwandlung, der "Läuterung" der Salome, gelangt nun der

Täufer in den Vordergrund des Dramas, (...). Allein das Jochanaan-Drama setzt sich

nicht durch, da ihm musikalisch wohl gefühlsselige, pastorale Melodien der

Mendelssohnschen Sphäre zugeleitet werden, aber jene Charakterisierung (...) eine(s)

Felsen (in) der Umgebung allgemeiner Verderbnis (vorenthalten bleibt)".

 

Die Suggestion der Zwangsläufigkeit, Naturbedingtheit einer niederen Positionierung

Felix Mendelssohns, welche die Wortmacht Schiedermayers unwillkürlich hervorruft, ist

keineswegs als Marginalie oder Zufallsprodukt aufzufassen. Es bezeugt vielmehr die

komplexe Doppeldeutigkeit chauvinistischer Rhetorik in jener Zeit vor dem

Nationalsozialismus., auf welchen dieselbe bereits hinwies. Wenige Jahre später

mochte Dr. Ludwig Schiedermayer, Prof. der Musikwissenschaft an der Rheinischen

Friedrich-Wilhelm-Universität. Bonn Überzeugungen wie jene , eine Jude sei aus

rassischen, also biologischen Gründen „natürlich“ weit unterhalb des Ariers anzusiedeln,

unumwundener zum Ausdruck gebracht haben. Beauftragt, gemeinsam mit den

Kapazitäten Friedrich Blume, Gotthold Frotscher und Karl Hasse die Ausstellung

„Entartete Musik“ im Mai des Jahres 1938 wissenschaftlich zu betreuen, hatte er ja

exakt zu diesem und anderen Aspekten einschlägig Stellung zu nehmen.

 

72

 

 


 

21. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten!

In den 20ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichte der Musikpublizist

Walter Dahms bemerkenswerte Monographien über die Komponisten Franz Schubert,

Robert Schumann und Felix Mendelssohn. Diese erschienen in einer vom Verlag

Schuster & Loeffler in Berlin konzipierten „Sammlung“ von „Meister-Biographien“

hochrangiger Komponisten. Co-Autor der Reihe war u. a. der namhafte zeitgenössische

Musikschriftsteller Julius Kapp. Die Popularität der Sammlung bezeugt allein schon der

Fakt reichhaltiger Verfügbarkeit der Bände im aktuellen Antiquariat.

 

Die Veröffentlichungen Walter Dahms zeichnen sich durch einen verblüffenden

Ansatz kompetenter, umfassender Darstellung des jeweiligen Sujets auf der Grundlage

präziser Recherche aus.

 

Zeittypisch andererseits sind Einseitigkeit, mangelnde Objektivität in der Sichtweise

kontroverser, problematischer künstlerischer Standortbestimmungen des dargestellten

Komponisten. Die stilistische Einordnung des Schumannschen und Mendelssohnschen

Werkes erfolgt somit vornehmlich aus der nationalkonservativen Perspektive heraus.

 

Gleich zu Beginn der Mendelssohn-Monographie, im „Präludium“ sah sich der Autor

daher der obligaten Notwendigkeit einer „rassischen Einordnung“ Mendelsohnschen

Oeuvres ausgesetzt. Karl-Heinz Köhler nannte es im Jahre 1972 zutreffend: „den

merkwürdigen Versuch., auf antisemitisch-rassenbiologischer Grundlage von

Mendelssohns Werk zu retten, was zu retten ist“ und verweist auf den nachhaltig

hervorgerufenen Eindruck "daß hier ein positives Plätzchen für Mendelssohn gesucht

wird.“ Hauptinstrument des Konstruktes deutschnationaler Vereinnahmung der

Komponisten Mendelssohn (und Schumann) ist die gesuchte Absetzung dessen Werkes

von jenem Giacomo Meyerbeers; die Konstatierung, Mendelssohns Musik sei in

letztendlicher Betrachtung als „deutsch und rein“, das Werk Meyerbeers hingegen als

unverkennbar „jüdisch“ einzuordnen.

 

Dahms begibt sich somit voll Bedauerns in die Verpflichtung „nun von dem Judentum

Mendelssohns sprechen“ zu müssen, „nicht, wie um etwas Unangenehmes oder

Peinliches, von dem doch nun einmal die Rede sein muss, möglichst rasch zu erledigen,

sondern um von vornherein den richtigen Standpunkt in einer so wesentlichen Frage zu

gewinnen. (...) Wir wissen längst, daß das Jüdische keine Sache der Religion, sondern

der Rasse ist. Die Forscher auf beiden Seiten, der Juden und Nichtjuden (...) haben uns

genugsam belehrt (...) daß die Wahrheit in der Mitte liegt. Wir können auf Objektivität

nicht Verzicht leisten.

 

Deshalb dürfen wir auch Richard Wagners Schrift über das Judentum in der Musik nicht

ohne Vorbehalt unterschreiben und unerwähnt lassen. (...) Denn Wagner wusste

ebensogut wie wir, daß Mendelssohns Musik unbeschadet der Würde der deutschen

Kunst und Kultur neben der seinen bestehen konnte (...). Denn Meyerbeers

musikalische Leichtfertigkeit und die Skrupellosigkeit seiner Mittel sind zu offensichtlich,

um geleugnet zu werden. (...) Mendelssohn dagegen ist der einzige grosse und ernste,

für alle Zeiten bleibende Meister, den die Juden der Musik geschenkt haben. Seine

Musik hat deutschen Charakter. Ihn aus der Reihe der „deutschen“ Meister

auszuschließen, wäre eine Verblendung, die nur aus einer gründlichen Verkennung des

vielseitigen Wesens des Deutschtums zu erklären wäre.“

 

73

 

 


 

Nach einer durchaus zutreffenden Betrachtung und Herleitung der Mendelssohnschen

Entwicklung gänzlich aus der musikalischen Tradition sowie dem romantischem Ideal

heraus, konzentriert sich Dahms schliesslich auf die diskreditierende Analyse eines

semitisch-idiomatischen Konterparts, dem Mendelssohn keinesfalls zuzuordnen sei.

 

„Finden wir etwa in seinem Schaffen die von Nietzsche gekennzeichneten

Eigenschaften der Semiten: „die furchtbare Wildheit, das Zerknirschte, Vernichtete, die

Freudenschauer, die Plötzlichkeit? (...) In seiner Stellung zur Romantik lässt sich (...)

vielleicht ein Mangel an typisch deutschen Eigenschaften finden. (...) Wir stoßen noch

einmal auf Nietzsche, wie er von Mendelssohn spricht, „an dem sie die Kraft des

elementaren Erschütterns (beiläufig gesagt)t: das Talent der Juden des alten

Testaments) vermissen (...) Einem Meyerbeer gegenüber dürfen wir, Wagner Folge

leistend, unserem Unwillen freien Lauf lassen.

 

Aber wir müssen uns hüten, Erfahrungen, die wir in der Missgeburt der „großen“ Oper

mit „jüdischen“ Eigenschaften gemacht haben, (...) auf einen Meister wie Mendelssohn

zu übertragen. (...)

 

Ein Meyerbeer und noch viel weniger spätere jüdische Komponisten (möglicherweise

eine Anspielung auf Schönberg, Weill und Schreker, Anm. d. Verf.) dürfen uns den Blick

für Mendelssohns Reinheit und Seelengröße nicht trüben. Vorausgesetzt, daß wir

überhaupt ein Interesse daran haben, das Jüdische in der Musik besonders zu

untersuchen...wie es eben Wagner getan hat.“

 

Bemerkenswerterweise begibt sich Dahms im Versuch semtitisch-musikalischer Analyse

in eklatanten Widerspruch zur gängigen Sichtweise des „Judentums in der Musik“ im 19.

und frühen 20. Jahrhundert. In Bezug auf Nietzsche stellt er „furchtbare Wildheit, das

Zerknirschte, Vernichtete, die Freudenschauer, die Plötzlichkeit“ sowie „die Kraft

elementaren Erschütterns“, eines „Talentes des alten Testaments“ als wesentlichstes

Merkmal des semitischen Idioms heraus. Wie im Vergangenen ausgiebig dargelegt,

hieß es doch, das die Kraft „zu ergreifen, ja zu erschüttern“ sowie das „Dramatische,

das Leidenschaftliche“, also die Ekstase emotionaler Höhen und Tiefen der Musik

Mendelssohns hauptsächlich deswegen abgehe, weil „der Jude“, kosmopolitischer

Beseligung unzugänglich, leidenschaftslos, im Synagogalidiom befangen komponiere

und die Vorbilder europäischer Musik daher glatt und kalt kopiere.

 

Nun argumentieren Nietzsche und Dahms, das dem „Deutschen“ Felix Mendelssohn die

semitische Kraft, Emotion und Schroffheit vollständig fehle, sein Werk daher von

„marmorner, kalter Schönheit“ (Dahms) sei. Die von Nietzsche genannten

(alttestamentarischen) Idiome wiederum träfen sicher – unbesehen übernommen – in

grossen Teilen auf die Wagnersche „Ring des Nibelungen“-Musik zu, nicht nur in jenen

Momenten potentieller semitischer Karikaturen in den Personen Mime, Alberich etc.

 

Somit hätte der von Wagner dezidiert als Jude hervorgehobene "Deutsche" Felix

Mendelssohn unjüdische, der Vollender der Deutschen Oper wiederum „jüdische“ Musik

geschrieben?

 

Da Walter Dahms mit dieser Sichtweise schwerlich eine Neuerörterung des Problems

vermeintlicher musikalischer Idiome in Gang setzte, gibt er lediglich Zeugnis von der

 

74

 

 


 

Fragwürdigkeit und Willkür derartiger Zuordnungen. Oder besser davon; das sich

Wagner, Nietzsche, Dahms u. a. offensichtlich den „Deutschen“ oder "Juden“

zurechtlegten, der ihren Zielen jeweils zuförderlichst war.

 

In den 20ziger Jahren trat auch der Komponist Hans Pfitzner mit antisemitischen

Schriften musikpublizistisch an die Öffentlichkeit. Pfitzner: ein in der damaligen

Musikwelt Deutschlands vereinsamt bestehender Komponist großer, bedeutsamer

Musik konservativer Prägung wie jener Monumentaloper über den Renaissance-

Komponisten Gian-Pierluigi da Palestrina; ein grandios gescheiterter , ja verkannter

deutscher Musiker jener Zeit. Im Jahre 1920 brachte er mit der Broschüre „Die neueÄsthetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom“ eine Denkschrift

heraus, welche im Sinne und Stile des Richard Wagner sich in das Wesen der

zeitgenössischen Kulturtheorien lautstark einbrachte. Pfitzner bezeichnet darin Wagners

„Das Judentum in der Musik“ als eine „ernste, liebevolle und tapfere Schrift“.

 

Der Komponist knüpft in seinem Pamphlet an die wagnerschen Antisemitismen an

und bringt jene erneut, als singulär im deutschen Blätterwald dastehend, zu einer

weithin ausgreifenden Verbreitung und Fortwirkung.

 

Nach 1921 veröffentlichte Professor Dr. Eugen Schmitz die populärgeschichtlich

gehaltene „Illustrierte Musikgeschichte“ des Komponisten, Kirchenmusikers und (von

1873 an) Dozenten am Dresdner Konservatorium Emil Naumann aus dem Jahre 1885 in

der sechsten Auflage. (Das Buch schweigt sich über die Drucklegung der aktuellen

Auflage aus, führt aber neben dem Vorwort zur sechsten Auflage noch das mit dem

Jahre 1921 signierte Vorwort zur fünften Auflage ins Feld.) Die Wiederveröffentlichung

des von 1885 – 1928 bis in die neunte Auflage nachweisbar en Suite herausgegebenen

Standardwerkes zeigt auf, das sogar in den modernistisch geprägten zwanziger Jahren

in der Weimarer Republik die von dem Buch betriebene rückwärtsgewandte

Mendelssohnverkleinerung der Hochzeit der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts

ungebrochen wiederaufgelegt und somit fortgeschrieben werden konnte. Wie groß der

Bedarf an solch reaktionärem Schrifttum in jenen Jahren gewesen sein muss, belegt

allein die Tatsache, dass das Buch von 1921 – 1928, also in weniger als zehn Jahren,

sage und schreibe viermal neu herausgebracht wurde.

 

Obgleich Naumann von 1842-1844 gar ein Schüler Mendelssohns u. a. am

Konservatorium in Leipzig war, fällt in der Gestaltung der „Illustrierten Musikgeschichte“

bereits Eingangs in Sachen Mendelssohns bezeichnenderweise auf, dass unter den

Komponistenartikeln des Buches, welche Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert,

Berlioz, Wagner, Brahms, Liszt und Richard Strauss, Bruckner und Hugo Wolff

gewidmet sind, dieser nicht mit einem eigenen Kapitel vertreten ist. Das Problem einer

wiederum tendenziös ausfallenden musikhistorischen Mendelssohn-Abwicklung findet,

gleichgesetzt der Darstellung von Leben und Werk diverser Kleinmeister wie Louis

Spohr, schliesslich hauptsächlich in dem Kapitel „Schubert und die Romantiker“ statt.

 

Naumann bezeichnet Mendelsohns Werk als epigonal, bezogen auf das Schaffen von

Komponisten wie Carl Maria von Weber, Bach und Händel. Er spricht dabei der so

genannten „Elfenmusik“ sowie den naturimpressionistischen Männerchören Mendelssohns

künstlerische Eigenständigkeit zugunsten einer behaupteten, eindimensional

direkten Nachfolge von Vorbildern Carl Maria von Webers ab, und stempelt darüber

hinaus die Oratorien „Paulus“ und „Elias“ als Früchte angeblich direkten Epigonentums

Bachs („Paulus“) und Händels („Elias“) ab.

 

75

 

 


 

Immerhin gesteht Naumann Mendelssohn in Abrede eines wahrhaft markigen

deutschen Künstlertums verniedlichend die originäre Kreation orchestraler und

instrumentaler Capriccios, wie jenes „kleine, allerliebst für Pianoforte geschrieben

Rondo capriccioso“ zu.

 

Naumann behauptet weiterhin, dass Mendelssohn gegenüber „jenen Altmeistern (Bach

und Händel) an Größe der Empfindung und der Erhabenheit des Ausdrucks zurückstehe".

Nach einer Beschreibung sinfonischer und instrumental-kammermusikalischer

Phänomene in Mendelssohns Werk kommt Naumann schliesslich -wie könnte es auch

anders sein – auf die von Wagner geprägten Invektiven von Gefälligkeit und Glätte in

Mendelssohns Schaffen als Repetition eines allzu geläufigen Totschlagargumentes zu

sprechen: Es heißt dort genau: ...in manchen anderen seiner Instrumentalwerke aber,

namentlich in einem grossen Teil seiner Kammermusik tritt in bedenklicher Weise

äußerlich gefällige Formenglätte an die Stelle des tieferen geistigen Gehalts“.

 

Des Weiteren lesen wir noch: „Als Liederkomponist ist Mendelssohn weniger

bedeutend; (...) seine Sololieder, die namentlich harmonisch sehr dürftig sind, bedeuten

eher einen Rückgang auf den Standpunkt Zelters“.

 

In den Erörterungen der Musik des von Naumann als ein gescheiterter Kleinmeister arg

abgekanzelten Komponisten Robert Schumann schreibt der Autor in Bezug auf dessen

Streichquartette folgende Reprise des einschlägig bekannten Mendelssohn

-Hauptvorurteils fest: „Von Schumanns Kammermusik verraten die drei Streichquartette

mit ihrer fließenden und glatten Liebenswürdigkeit am entschiedensten den Einfluss

Mendelssohns;...“

 

An anderer Stelle beschreibt Naumann ausgiebig die Verdienste Mendelssohns um die

post Bachsche und Händelsche Klavier-und Orgelmusik sowie die post Webersche

Chormusik. In einer Fußnote aber macht er all das zuvor lobenswert gesagte mit einem

Satz wieder zunichte: „In diese Renaissancebewegung (um das Chorlied) trat

Mendelssohn ein; freilich von dem klanglichen Ausdrucksreichtum des Tonsatzes der

Alten (Haydn, Mozart, Schubert, Weber) ist er noch weit entfernt; erst Brahms hat hier

die früheren Vorbilder wieder annähernd erreicht.“

 

Im weiteren Verlaufe des Buches holt Naumann, in Betrachtungen des Lebens und

Werkes des Komponisten und Musikpädagogen Johann Joachim Raff, zum

Rundumschlag gegen Mendelssohns als glatt und gerundet diffamierte musikalischeÄsthetik aus. Er schreibt über Raffs anfängliche musikalische Orientierung an

Mendelssohn und seiner Schule, vor welcher akademischen Ausprägung ihn der später

ausgeübte Einfluss Liszts und seiner „Neudeutschen“ in Weimar augenscheinlich

„rettete“: „Veranlasste ihn das Mendelssohnsche Vorbild zu einem gewissen Kult des

formalistischen Elements, so verdankte er es wiederum den Jahren, die ihn den

geistigen Einwirkungen Liszts näher brachten, dass ihm der Wert einer geglätteten,

abgerundeten Form nicht in dem Grade alles wurde, dass ihm darüber Leidenschaft,

Stimmung und Ausdruck nebensächlich erschienen und ihn zum einseitigen

musikalischen Akademiker werden ließen“.

 

Auch dem Dirigenten Felix Mendelsohn verweigert Naumann dessen kongeniale

Bedeutung für Werden und Bestehen dieser heutzutage so wichtigen musikalischen

Profession.

 

76

 

 


 

Mendelssohns musikalische Leitung der Gewandhauskonzerte kann mit Fug und Recht

als prototypisch für das Berufs-und Erscheinungsbild des modernen Dirigenten; ja des

eleganten Dirigierstars gar gelten.

 

War es in Leipzig vor Mendelssohns Zeiten üblich, dass nur Orchesterkonzerte mit

Vokalanteil von einem Taktschläger geleitet wurden, während das rein symphonische

Repertoire vom Konzertmeister am 1. Geigenpult dirigiert wurde, so übernahm

Mendelssohn sowohl bei der Vokalmusik als auch bei der Symphonik von einer Position

vor dem Orchester gelegen die musikalische und interpretatorische Gesamtverantwortung.

 

 

Nichts davon findet sich bei Naumann. Er erwähnt Mendelssohn lediglich in zwei

Aufzählungen dirigierender, als Vorläufer des modernen Dirigenten geltende

Komponisten (Lully, Jomelli, Spontini, Spohr, Mendelssohn) sowie (Johann Friedrich

Reichardt, Bernhard Anselm Weber, Spohr, C. M. v. Weber, Mendelssohn).

 

Den entscheidenden Verdienst an der Ausprägung des Typus eines modernen

Dirigenten spricht Naumann in Verfälschung der Tatsachen um Mendelssohns

bahnbrechende Verdienste auch auf diesem Gebiete – wie könnte das bei einem derart

parteilichen, einseitigen Text auch anders sein – ausschließlich den Vertretern der

zeitgenössischen musikalischen Moderne wie Berlioz und – natürlich – den

Neudeutschen Richard Wagner und Franz Liszt zu.

 

Im Jahre 1928 veröffentlichte ein Autor namens Anton Mayer in der Deutschen

Buchgemeinschaft GmbH, Berlin eine Geschichte der Musik. Diese war mit ca. 340

Seiten überschaubar gehalten und zeichnet sich dadurch aus, Musik und Wirken Felix

Mendelssohns mit keinem Wort zu erwähnen. Demgegenüber wird dem Schaffen

Richard Wagners die Ehre einer nahezu eigenständigen, umfassenden Abhandlung

über 30 Seiten hinweg eingeräumt. Also nahezu ein Zehntel des Umfanges einer Schrift,

welche die Musikgeschichte von der griechischen Antike bis zur musikalischen Moderne

zur Darstellung zu bringen beabsichtigte.

 

In seiner im US-amerikanischen Exil vorgelegten Abhandlung "Größe in der Musik" legt

der bedeutende deutsche Musikwissenschaftler und Mozartbiograph Alfred Einstein vom

Status Quo der deutschen Mendelssohn-Rezeption in der ersten Hälfte des 20.

Jahrhunderts trefflich Zeugnis ab:

 

„Was ist mit der Büste Mendelssohns? Es versteht sich wohl von selbst, daß wir uns

bemühen müssen, ihm die richtige Stellung zuzuweisen: die Überschätzung zu

vermeiden, die ihm zu Lebzeiten (...) in Deutschland und England zuteil geworden ist,

die Unterschätzung, deren Urheber oder Repräsentant Wagner gewesen ist. Sie könnteheute zu einer neuen Überschätzung führen; aber sie wäre wohltätig, wenn sie zu einer

neuen Schätzung oder Wertung Mendelssohns führen würde, auf der Grundlage neuer

Kenntnis. Denn er ist heute einer der unbekanntesten Musiker der Vergangenheit. Man

kennt von ihm gerade das Unbedeutendste am besten, die Stücke, die von

mittelmäßigen Musikern am meisten nachgeahmt worden sind, weil sie dem bürgerlich-

romantischen Geist der Zeit am meisten entsprachen."

 

77

 

 


 

Angesichts einer niederschmetternden Realität nahezu vollendeter Mendelssohn-

Verdrängung und Verleugnung der zwanziger bis vierziger Jahre musste Einstein mit

dieser (dem Wirken Mendelssohns gegenüber keineswegs unkritischen) Meinung somit

zwangsläufig ein einsamer Rufer in der Wüste bleiben -wenn er denn die Möglichkeit

gehabt hätte, in Deutschland im Jahre 1941 vernommen zu werden.

 

Wie weiland Kurt Weill im Jahre 1919 machte sich im US-amerikanischen Exil Arnold

Schönberg im Jahre 1935 Gedanken bezüglich der Relevanz Wagnerschen Denkens

über die Fähigkeit des Judentums zu Wort, Ton und Schrift. Er zementiert dadurch die

ungebrochen aktivierte, spezielle, fatale Fernwirkung von Wagners Judenmusikthesen

des Jahres 1869 im Denken exilierter Juden. Schönberg stellte also in einem, in Los

Angeles gehaltenen Vortrag, fest:

 

„Meine Damen und Herren, als wir jungen österreichisch-jüdischen Künstler

heranwuchsen, litt unsere Selbstachtung stark unter dem Druck einiger Umstände (...)

man konnte kein echter Wagnerianer sein, wenn man kein Anhänger seines

antisemitischen Aufsatzes über „Das Judentum in der Musik“ war“.

 

Schönberg dokumentiert damit unmittelbar, was nur wenige in dieser Konsequenz

erkannten und aufzeigten: „Es gibt keine Wagnermusik, getrennt von den zersetzenden

Judenfeindlichen und menschenverachtenden Theorien, welche aus der Musik und

damit aus dem musikalischen Ausdruck so reichhaltig hervorgehen, welche die Musik

wiederum so eindeutig inspirierten“.

 

Schönberg setzt fort: „Und das ist nun der Punkt, an dem man den schrecklichen

Einfluss der Rassentheorie nicht auf die Arier, sondern auf die Juden erkennen kann.

 

Letztere, ihres rassischen Selbstbewusstseins beraubt, bezweifeln die schöpferische

Fähigkeit eher als die Arier. Sie waren bestenfalls vorsichtig und glaubten nur dann,

wenn sie von Ariern bestärkt wurden, wie im Falle Einsteins oder Kreislers“

 

Schönberg verdeutlicht, wie schwach, wie eingeschüchtert in ihrem Selbstglauben die

jüdischen Intellektuellen vor einem monumentalen, mentalen demagogischen,

chauvinistisch-rhetorischen Judenvernichtungswerk Wagners also verblieben. Man

musste jenen quasi auf die Schulter klopfen und ermunternd ihnen bestätigen: „ Du

kannst doch auch etwas“. So wie freundlich gestimmte Erwachsene es gelegentlich mit

kleinen verängstigten, verzagten Kindern tun. Wie zahlreich sind die Berichte von

jüdischen Wagnerianern, welche Wagners Schaffen glühend verehrten und welche in im

Bewusstsein der vermeintlich eigenen Winzigkeit vor diesem musikalisch

monumentalem, massiven Gebirge sich in größter, bitterster Not selbst entäußerten:

„Ich bin ein Jude und ich liebe und verehre den Bayreuther Meister“.

 

Schönberg schließt seinen Text: „Aber im allgemeinen glaubten sie lieber an Arier,

sogar an mittelmäßige. Und leider führte der Mangel an Selbstvertrauen oftmals zur

Verachtung jüdischen Tuns.“

 

22. Eine „grosse Lösung“

In der Aufklärungsschrift an die deutsche Nation "Erkenne Dich selbst", als erste

Ausführung zur Schrift „Religion und Kunst“ im Jahre 1881 als Bestandteil der

sogemnannten „Regenerationsschriften“ in den Bayreuther Blättern veröffentlicht,

gemahnte Richard Wagner erneut eindringlich des Juden als “plastischen Dämons des

Verfalles der Menschheit in triumphaler Sicherheit.”

 

78

 

 


 

Er geisselt darin des weiteren den Pluralismus eines Systems wiederstreitender

politischer Parteien als Verderber "ächten deutschen Instinkts" und heimlichen

Deckmantel prosperierenden jüdischen Lebens in Deutschland.

 

Er fordert die Deutschen daher auf, diesen Parteienstreit zu überwinden und sich, "im

Erwachen zu (...) einfach-heiliger" (nationaler) "Würde", vaterländisch einmütig

zusammenzuschliessen.

 

Abschliessend konstatiert er: "nur aber, wann der Dämon, der jene Rasenden im

Wahnsinne des Parteienkampfes um sich erhält, kein Wo und Wann zu seiner Bergung"

unter den Deutschen "mehr aufzufinden vermag, wird es auch keinen Juden mehr

geben". Den Deutschen könne somit "gerade aus der Veranlassung der gegenwärtigen,

nur eben unter uns wiederum denkbaren" (antisemitischen) "Bewegung" eine "grosse

Lösung eher als jeder anderen Nation ermöglicht" sein, "sobald sie ohne Scheu, bis

aufs innerste Mark unseres Bestehens das Erkenne-Dich-selbst vollzögen, vor der

letzten Erkenntnis nicht zurückwichen". Wagner gibt am Ende des Textes zu bedenken:

 

"Dass wir, dringen wir hiermit nur tief genug vor, nach der Überwindung aller falschen

Scham, die letzte Erkenntnies nicht zu scheuen haben würden, sollte mit dem

Voranstehenden, dem ahnungsvollen angedeutet sein".

 

Ob aus diesen bedachtsam verschlüsselt vorgelegten Äußerungen Phantasien von

gewaltsamer Deportation der Juden oder Genozidhandlungen sprechen, ist Gegenstand

germanistischer und musikgeschichtlicher Erörterung. Daß Wagner im Gedanken eines

"Erwachen" Deutschlands im "Erkenne Dich selbst" die Ereignisse des Jahres 1933 Zerschlagung

des Parteienpluralismus sowie der parlamentarischen Demokratie und

triumphales Erstarken einer chauvinistisch-nationalen deutschen Erhebung ideologisch-

literarisch vorwegdenkt, geht aus der Lektüre des Traktates eindeutig

hervor.

 

Adepten des Bayreuther Meisters wussten dessen Gedankengänge denn auch

zielgerecht zu entsprechen, der Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts schließlich

schwang sich zur "letzten Erkenntnis" empor und war zu der Realisierung einer "großen

Lösung" vermeintlicher Judenfrage auf politischem und kulturellem Gebiet bereit.

 

Am 3. April des Jahres 1929 hielt der Demagoge Adolf Hitler eine mehrstündige

Kampfrede im vollständig überfüllten Festsaal des Münchner Hofbräuhauses. Darin

richtete er sich gegen Pläne des Schauspieldirektors Max Reinhardts, an der

Veranstaltung Münchner Sommerfestspiele mitzuwirken.

 

Hitler sprach also u. a.: „Es handelt sich also um den Versuch, uns jüdische Kunst

aufzuoktroyieren (...) dieser Kunstwille entstammt jenem Volk, das aus sich heraus

überhaupt gar kein Kunstempfinden hat, das nicht, wie manche Mitglieder unseres

Münchner Stadtrates meinen, besonders groß ist im Kunstempfinden, sondern das

niemals überhaupt eine eigene Kunst gehabt hat, das grundsätzlich unproduktiv ist und

nur die Kunst anderer Völker zu annektieren in der Lage war, zu allen Zeiten! (...)

 

Jedenfalls hat das Judentum an sich überhaupt keinen ausgeprägten Kunstwillen,

sondern das Judentum sieht in der Kunst genau das, was es in allem sieht, nämlich eine

Geschäftsmöglichkeit. Es trennt sich von unserer Kunstauffassung meilenweit“.

 

Hitlers Rede reproduziert bis in kleinste Einzelheiten Wagners Kampfschrift „Das

Judentum in der Musik“ und bezog sich, Jens-Malte Fischer zufolge, überhaupt explizit

auf Richard Wagner.

 

79

 

 


 

”Anders liegen meines Erachtens die Fälle von Felix Mendelssohn und Joseph Joachim,

die man kaum fremdvölkischen Musikgeschichten in dem Maße wie ihre vorgenannten

Rassengenossen zurechnen kann. Mendelssohns beste Werke (...) haben im

künstlerischen Weltbild deutscher Meister wie Schumann, Brahms, Bülow, Bruch und

Reger ausdrücklich eine Rolle gespielt, die zu den musikgeschichtlichen Tatsachen

jener Zeit gehört. (...)

 

Wenn also auch diese beiden seit 1933 praktisch für Deutschland ausfallen, so

jedenfalls mehr aus der staatspolitischen Notwendigkeit einer Gesamthaftung desJudentums für die versuchte Überfremdung deutscher Kultur, als wegen eines absoluten

Unwerts jener Werke und ihres praktisch-künstlerischen Bemühens. (...) Niemand hat

ihn wärmer bewundert als Schumann, Brahms, Bülow und Reger – das sollte jenen zu

Denken geben, die einen M. heute wegen seiner Rasse glauben herabmindern zu

müssen. “ (Hans-Joachim Moser 1938)

 

In den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes war der Umgang der

Repräsentanten deutschen Musikbetriebs mit dem als klassisch verstandenen Oeuvre

der nunmehr als jüdisch apostrophierten Komponisten Felix Mendelssohn, Gustav

Mahler und Jacques Offenbach von Unsicherheit geprägt. Es lagen vielerorts noch

keine Erfahrungswerte vor, was weiterhin gestattet sei oder nachhaltig zu unterbinden

wäre. So war schwerlich einzuschätzen, wie weit die Forderungen der Machthaber in

den Kontext traditionellen E-Musik-Repertoires einzugreifen beabsichtigten. Ob man

sich mit der Negation der Avantgarde und "Musikzersetzung" jüngeren und jüngsten

Datums befrieden, die rein von politischer Willkür betriebene Konterbewegung vor dem

Reiche der Tonalität zum Stillstand kommen würde.

 

Der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Moser, legte somit im Jahre 1938 eine "Kleine

deutsche Musikgeschichte" vor. Mit Worten wie den soeben zitierten, tastete er sich

vorsichtig in vermeintliche Terra incognita vor, an das "Problem Mendelssohn", wie man

es hier einmal zu Recht benennen könnte, heran. In zahlreichen Fällen blieben Schriften

wie diese, Aufführungen Mendelssohnscher Werke gar, ohne Folgen für Autoren und

Musiker. In anderen Fällen erfolgte die Reaktion rasch und unmissverständlich, stellten

sich die Negativerfahrungswerte mit den Prämissen völkischer Kulturpropaganda

postwendend ein.

 

So auch im Falle der "Kleinen deutschen Musikgeschichte" Mosers:

 

„Wer eine kleine Musikgeschichte schreibt, hat die Juden aus seinen Darlegungen

zwangsläufig auszuschalten.“ beschied eine Rezension im „Westdeutschen Beobachter“

dem als „kulturpolitisch unzuverlässig“ apostrophierten Verfasser Hans-Joachim Moser.

 

Moser hatte diesen Wink offensichtlich verstanden und beherzigt. Wenige Jahre später

trat er wiederum als Publizist von Schriften, welche sich mit rassebiologischen und

musikalischen Fragen auseinandersetzten sowie als Generalsekretär der "Reichsstelle

für Musikbearbeitungen" in Erscheinung. Letzteres stand für eine Behörde, welche

Werken des Opern-, Operetten-und Chorrepertoires vermittels Umdichtung und

Bearbeitung von Text und Handlung völkischen, antisemitischen Charakter verlieh.

 

Andere aber sahen sich vom nunmehr vorherrschenden Ungeist sogleich zu deutlichem

Worte beflügelt. So stellt Dr. Fritz Stege im Mai des Jahres 1933 in der „Zeitschrift für

 

80

 

 


 

Musik“ Betrachtungen über die "Zukunftsaufgaben der Musikwissenschaft" an und

kommt dabei u. a. zu folgendem Ergebnis:

 

"Aber wie es einzelne Meister der Tonkunst gibt, die dem vollendetstem Rassentypus

entsprechen, so unterstehen auch ganze Perioden der Musikgeschichte besonderen

Rasseneinflüssen.

 

In geistvoller Weise hat Richard Eichenauer den Nachweis erbracht, wie sich der

nordische Geist der polyphonen Form bemächtigte, während im Gregorianischen

Gesang orientalische Eigenheiten zum Ausdruck kommen. (...) Und nun werden wir vom

Rassenstandpunkt aus auch die verschiedenen Strömungen unseres heutigen

Musiklebens viel besser verstehen und beurteilen. Der Einbruch vorderasiatischer

Rassenmerkmale in den Geist unserer Tonkunst hat zu einer Auflösung des

abendländischen Harmoniegefühls beigetragen."

 

Dr. Stege unterläuft allerdings, vom Eifer der von rassebiologischer Lehren motivierten

Herabsetzung von Musik beflügelt, ein eklatanter musikhistorischer Fehler. Er

behauptet, dass ein Komponist von vermeintlich vorderasiatischer Herkunft wie

Mendelssohn, als welchen das „III. Reich“ diesen einzuordnen pflegte, die Auflösung

abendländischen Harmoniegefühls betrieben habe. Der sich selbst als Traditionalist

verstehende Mendelssohn habe also letztlich der Auflösung der Tonalität Vorschub

geleistet.

Es ist musikgeschichtliches Allgemeingut, dass die Harmonik und somit die Tonalität in

der deutschen Musik von der Oper "Tristan und Isolde" des "Vollariers" und präpotenten

geistigen Dramaturgen des „III. Reiches“, Richard Wagner aufgebrochen und somit

infrage gestellt wurde.

 

Ein Weg, der in den Werken der Spätromantiker Gustav Mahler, Richard Strauss

sowie des frühen Schönbergs bis in die Atonalität und Zwölftonmusik des 20.

Jahrhunderts hinein konsequent Fortsetzung fand. Der "Vorderasiate" und "Orientale"

Felix Mendelssohn hingegen tat (wie die infolgedessen agierenden Komponisten Robert

Schumann und Johannes Brahms auch) alles in seiner Macht stehende, um das

abendländische Kulturerbe der Harmonielehre und Tonalität vor potentiellen

Zersetzungen zu schützen und zu bewahren. Solcherart Irrtümer also sind die Folgen,

wenn Rassenhass, Ideologie und Demagogie anstelle objektiver musikwissenschaftlicher

und musikhistorischer Darlegung und Beurteilung treten.

 

Im Jahre 1934 forderte der Dirigent und Fachgruppenleiter Musik des "Kampfbundes der

Deutschen Kultur" („KfdK“) auf einer Landestagung der "Reichsmusikkammer" („RMK“)

in Dresden die Anwesenden dazu auf, Mendelssohn als Vergangenheit, überholte

Musikgeschichte zu betrachten und statt seiner künftig neue Komponisten aufzuführen.

 

Die Orientierungslosigkeit musikalisch tätiger Entscheidungsträger, der Dirigenten,

Hochschuldirektoren, Chorleiter, Musikpublizisten etc. wurde erheblich gefördert durch

den Kompetenzwirrwarr und Machtkämpfe, welchen sich die unterschiedlichen Partei-

und Regierungsorganisationen kulturellen Zuschnitts unausgesetzt hingaben.

 

Gerade in den ersten Jahren nationalsozialistischen Machtvollzugs rivalisierten

parteieigene Organisationen ohne Regierungsbeteiligung wie der „Kampfbund für

deutsche Kultur" („KfdK“) des NS-Strategen Alfred Rosenberg mit Regimefunktionären

gesamtstaatlicher, regionaler oder lokaler Zuständigkeit um Majoritätsfragen bezüglich

 

81

 

 


 

zukünftigen völkischen Kulturbetriebs. Führungskräfte des Regimes wie Joseph

Goebbels indes waren bestrebt, die Kompetenzen durch die Einrichtung von Ministerien

wie jenes für „Volksaufklärung und Propaganda" vollständig an sich zu reißen. Als

Propagandaminister und Chef der "Reichskulturkammer" („RKK“) betrieb Goebbels die

Einrichtung einer "Reichsmusikkammer" („RMK“) innerhalb der „RKK“, welche alle

Fragen des Musiklebens in seinen persönlichen Entscheidungsbereich bringen sollte

und im November 1933 offiziell eingesetzt wurde.

 

Nach einem vergleichsweise kurzen und in jeder Hinsicht unrühmlichen Interregnum des

Komponisten Richard Strauss als Präsidenten der „RMK“, stand ab Mitte 1935 mit Peter

Raabe ein Seniordirigent und Prof. Emeritus der „TU Aachen“ und überzeugter

Nationalsozialist der "Reichsmusikammer" vor. Da Goebbels Ende des Jahres 1936 die

Errichtung einer Musikabteilung des Propagandaministeriums verfügte, als deren Leiter

der Dirigent Heinz Drewes fungierte, sah sich Raabe als Präsident der „RMK“ mit einem

weiteren Generalbevollmächtigten Musik im Weisungsbereich Minister Goebbels

konfrontiert. Drewes unterstand als Leiter der Musikabteilung ausschließlich der Person

des Ministers, war aber als Mitglied der „RMK“ wiederum partiell den Anordnungen

Raabes als deren Vorstand unterworfen. Die Supervision des Bereiches Musik unterlag

daher in letzter Konsequenz dem Propagandaminister selbst.

 

Da aber die beiden Funktionäre die Richtlinienkompetenz ihrer Positionen

größtmöglich auszureizen trachteten und sich somit gegenseitig blockierten, liegt die

Neutralisierung und Ineffektivität der Behörde auf der Hand.

 

Darüber hinaus befehdeten sich die auf gleicher Partei-und Verwaltungsebene

angesiedelten NS-Funktionäre auch untereinander. Es verwundert daher nicht, das

neben Goebbels auch der Preussische Ministerpräsident und Generalluftmarschall

Hermann Göring als Generalintendant aller preußischen Theater kulturelle

Kompetenzen beanspruchte und auch der preussische Kultusminister und spätere

Reichsminister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Bernhard Rust über erhebliche

Weisungsbefugnis im kulturellen Bereich verfügte. Auf persönlichen Wunsch Adolf

Hitlers wurde im Jahre 1934 wiederum das Amt Rosenberg ins Leben gerufen, da Hitler

sich dem zunehmenden Machtbereich seines Propagandaministers gegenüber

abzusichern trachtete.

 

Rosenberg, der Vorkämpfer des von Goebbels institutionell neutralisierten „KfdK“

erhielt somit als "Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen

und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der „N.S.D.A.P." erneut Kompetenzen,

welche in der Folgewirkung auf die von Hitler angestrebte vollständige ideologische

Nivellierung europäischen Kulturerbes der Bereiche Kunst und Wissenschaft abzielen

sollte. Da die genannten Einrichtungen mit unterschiedlichen Kompetenzen versehen

administrativ im gleichen Revier, dem Bereich Musik agierten, waren die Amtsleiter

jeweils in kleinlicher Eifersüchtelei auf Besitzstandswahrung und gesteigerte öffentliche

Einflussnahme bedacht. Somit herrschte – den erklärten Zielen vollständiger

ideologischer Kontrolle öffentlichen Lebens gänzlich zuwiderlaufend – stellenweise ein

Richtlinienwirrwarr vor, welches der einflussreiche Berliner Kritiker Hans Heinz

Stuckenschmidt nach dem Kriege als „ganz schwammig, im Grunde unverständlich“

charakterisieren sollte.

 

Dass es somit in den ersten Jahren des Regimes noch zu vereinzelter Propagierung

Mendelssohnscher Musik kommen konnte, ist keinesfalls etwaigen anteilig-libertinären

Grundzügen desselben geschuldet. Das Phänomen resultiert vielmehr aus einer,

letztendlich bis zum Untergang des „III. Reiches“ vorherrschenden, Unfähigkeit der NS

 

 

82

 

 


 

Administration, die Durchsetzung ideologischer Prämisse wirkungsvoll bis in alle

Teilbereiche alltäglichen Lebens durchzuführen. Möglicherweise spielten auch

strategische Erwägungen, Vorbehalte, in das Bemühen um eine nachhaltige

nationalsozialistische Revision des kulturellen Lebens in Deutschland hinein. "Darf bei

Veranstaltungen der N.S.D.A.P. nicht gesungen werden", hiess es bezüglich des

Mendelssohnschen Chorwerks zurückhaltend im Jahre 1934, als das Regimemöglicherweise noch auf Überzeugungsarbeit und Konsens bei den wertkonservativ-

bildungsbürgerlich ausgeprägten Bevölkerungsschichten bedacht war.

 

”Eine grosse Zeit duldet keine Kompromisse. Wenn konfessionelle Kirchenchöre das

nicht begreifen wollen und, wie kürzlich in einer rheinischen Stadt geschehen, ihren

Mendelssohn einfach ohne Nennung des Namens in ein Konzert einschmuggeln, erhebt

sich die Frage nach der politischen Zuverlässigkeit solcher Dirigenten, denen dann das

letzte Hintertürchen für ihre bewusste Sabotage der musikalischen

Reinigungsbestrebungen energisch zugeschlagen wird. Solche Handlungen, die sich

durch ihre Feigheit selbst richten, sind Ausnahmen, die wir nur registrieren, um zu

zeigen, daß das Fischen im Trüben stets den Dunkelmann trifft“, gab der

Hauptschriftleiter Musik F. W. Herzog im Jahre 1937 zu verstehen, als sich das Regime

bis in alle Lebensbereiche hinein verfestigte und qua Diktat über etwaige

bildungsbürgerliche Ressentiments nunmehr gänzlich hinwegsetzen konnte.

 

Im Jahre 1938 erinnert der Generalintendant von Weimar, Hans Severus Ziegler

anlässlich jener berüchtigten Ausstellung Entartete Musik, welche anlässlich der

Reichsmusiktage in Düsseldorf realisiert wurde, daran , dass Wagner als Verfasser

„seinen lieben Deutschen vor nahezu drei Menschenaltern das Judentum in der Musik

einigermaßen deutlich dargestellt hat.“ Er schreibt weiterhin: „Wenn Richard Wagner in

seiner Abhandlung „Das Judentum in der Musik“ schon auf die Scharlatane und

seichten Nachahmer der jüdischen Musikproduktion seiner Zeit hinweist und nachweist

mit welcher Solidarität das Judentum alle deutsche Musik, deren Schöpfer bekämpft hat,

zu einer Zeit, da der jüdische Komponist aus guten Gründen immerhin noch ein

bestimmtes Stilniveau wahrte , so sollten wir Nachfahren Wagners erst recht gewitzt

sein, die viel plumperen Scharlatane der jüngsten Vergangenheit zu entlarven, die

jahrzehntelang unser Opern-und Konzertwesen beherrscht haben.“ Ziegler selbst

verdeutlicht dass die Nationalsozialisten sich in ihrem speziellen Kulturantisemitismus

unmittelbar auf die Lehren und Schriften Richard Wagners beriefen, dass sich dieselben

bis ins „III. Reich“ ungebrochen fortsetzten und daselbst perfektionierten. Dies sei vor

allem jenen Alpha-Wagnerianern (wie weiland Wagner-Urenkelin Katharina Wagner es

in einem TV-Beitrag tat) ins Stammbuch geschrieben, welche eine spezifische

Verantwortlichkeit Wagners für Judenverfolgung und Holocaust so eilfertig und

rundheraus meinen ablehnen zu müssen.

 

Der Meininger Kapellmeister Gustav Adolf Schlemm wurde im Jahre 1933 seines

Postens enthoben, weil er eine Mendelssohn-Komposition, das Klavierkonzert Op. 25

ins Programm eines am 7. Februar im Landestheater gegebenen Jugendkonzertes

genommen hatte; sein Handeln vom Leiter des "Gaukulturamtes der N.S.D.A.P"., Hans

Severus Ziegler als Brunnenvergiftung deutscher Jugend gegeißelt. Der Frankfurter

Dirigent Joachim Martini verdeutlicht in seinem Beitrag zum 1. Leipziger Mendelssohn-

Kolloquium im Juni 1993 präzise die Perfidie, mythologische Sublimität und implizite

psychologische Nachhaltigkeit dieser Metapher: „Bösartig, denn das Bild suggeriert

 

83

 

 


 

nicht nur die seit Jahrhunderten zu Pogromen Anlass gebende Fantasie des Ritual-und

Massenmordes, sondern unterstellt gleichzeitig dem Komponisten die abgefeimte

Intention, die Jugend, die Blüte, die Hoffnung der Nation mit seinem Pesthauch

korrumpieren zu wollen".

 

Der Doyen damaligen deutschen Dirigententums, Wilhelm Furtwängler, hielt in den

Jahren 1933 und 1934 in den Programmen der von ihm geleiteten Berliner

Philharmoniker noch an Mendelssohnschen Orchesterwerken fest. So ist vom Februar

des Jahres 1933 eine Aufführung der Schauspielmusik zum "Sommernachtstraum"

überliefert.

 

Die im Jahre 1933 in der Leipziger Thomaskirche aufgeführte Sylvestermotette des

Thomanerchores brachte u. a. das Neujahrslied „Mit der Freude zieht der Schmerz“ von

Felix Mendelssohn zu Gehör, ohne das NS-Behörden dem Chor zu diesem Zeitpunkt

deswegen Schwierigkeiten bereitet hätten.

 

Die Rezensentin Grete Altstadt Schütze bezeugt im gleichen Jahre im Märzheft der

„Zeitschrift für Musik“ eine zeitnahe Aufführung des Violinkonzertes Op. 64 in

Wiesbaden. Demonstrativ stellt sie sich dabei an die Seite des "aus innerstem Adel

musizierenden Prof. Georg Kulenkampff,...der bewies, dass man Mendelssohns

Violinkonzert in solch meisterlicher Aufmachung noch lieben könne".

 

Gleichsam in Wiesbaden kam es zu Beginn des Jahres 1934 zu erneuter Aufführung

des Violinkonzertes, ohne das die Ausführenden vorab oder im Nachhinein mit

Repressalien konfrontiert wurden. Es spielte der junge Wolfgang Schneiderhan, am Pult

stand Carl Schuricht; beide nach dem Kriege, in den 50ziger und 60ziger Jahren

Kapazitäten ihres Faches.

 

Anfang des Jahres 1935 stellte der Engländer Frederic Lamont in Berlin ein Programm

vor, das ausschließlich aus Werken Mendelssohns bestand.

 

Im Februar des gleichen Jahres brachte der Thomanerchor in Leipzig noch einmal den

Psalm 43 op. 78 Nr. 2 zu Gehör, obgleich mit Karl Straube ein altverdientes

Parteimitglied (Parteieintritt i. J. 1926) die musikalische Leitung des Chores wahrnahm,

welcher im Jahre 1937 denn auch der HJ gleichgeschaltet wurde.

 

Wie stellt sich die publizistische Abhandlung des Sujets Mendelssohn, nunmehr dem

von den Machthabern propagierten "rassebiologischen" Aspekt unterworfen, in der

Frühzeit des Regimes dar?

 

Hans Mersmann vermengt in „Eine deutsche Musikgeschichte“ zeitgeistgerecht die

„rassische“ Belange des musikalischen Vorfalls Mendelssohn mit den tradierten

biographisch-musikalischen Stereotypen Familienclan, Reichtum, omnipotente

musikalische Protektion, Frühreife und –stagnation, formaltechnisch vollendeter

Leerlauf, Klein-(kunst)-meister etc. Wie zahlreiche Musikpublizisten paraphrasiert

Mersmann dabei Thesen aus Wagners Traktat. So spricht Mersmann Mendelssohn die

"stetige wärmende Kraft" ab, welche Wagner zufolge nur in der Verwurzelung im

deutschen Volke reüssieren könne, welche Mendelssohn als Jude ja von Grund auf

verwehrt sei. Die These von der "technischen Meisterschaft", welche "bisweilen schon

als Leerlauf" empfunden würde spielt wiederum auf Wagners Invektive der seelenlos,

technisch vollendeter Kälte in der Musik jüdischer Komponisten.

 

84

 

 


 

So heisst es auf Seite 419 ff:

 

"...Der Enkel von Moses Mendelssohn...war Träger einer...ausgeprägt jüdischen

Familienkultur, in welcher die Musik von jeher eine Rolle spielte. (...) alle

Schwierigkeiten wurden aus dem Weg geräumt. (...)

 

Und so erreichte er verhältnismäßig früh einen Grad von Vollendung, den eine spätere

Entwicklung nicht mehr übertraf. Mehrere Vorzeichen treffen zusammen: Rasse,

schöpferische Begabung, Überzüchtung und eine schon zur Dekadenz hinüberneigende

Familienkultur...: er beginnt mit genialem Schwung (...) und hat dann Mühe, die immer

wieder hinabgleitende Höhe zu halten. (...) Aber hinter dem Werke lebt nicht mehr die

stetige, wärmende Kraft und seine vollendete technische Meisterschaft wirkt bisweilen

schon als Leerlauf. (...) Er ist der erste, dessen entscheidende Äußerungen in der

Kleinkunst liegen.

 

Der "Westdeutsche Beobachter" veröffentlichte am 10.3.1935 ein Traktat Dr. Karl

Grunskys; welcher sich, gänzlich zeitgeistgerecht, "Gedanken über Mendelssohn" gemacht

hatte. Grunsky, ein vormals in Stuttgart ansässiger Musikschriftsteller und

Bruckner-Experte, war bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik als

Vorkämpfer einer "musikalische(n) Erneuerungsbewegung vor der deutschen

Revolution" mit der Publikation antisemitischer Musikrezensionen hervorgetreten. Mit

der Publikation von "Abwehrschriften", welcher der Komponist Hans Gansser in der

Septemberausgabe der "Zeitschrift für Musik" von 1935 "höchst wertvoll und

aufschlußreich" bezeichnete. So veröffentlichte Dr. Grunsky um 1920 herum eine

Studie, welche sich dem einschlägig bewährten Thema "Richard Wagner und die Juden"

widmete und von Rezensent Gassner als "deutsche Tat von bemerkenswerter

Zivilcourage!" eingeschätzt wurde.

 

Des Weiteren versuchte sich Dr. Grunsky bereits im Jahre der "Machtergreifung" in

der Rolle einer publizistischen Denunziation mißliebiger Kollegen des akademischen

und ausübenden Musikbereichs.

 

In einer Schrift mit dem martialisch vorgeprägten Titel "Der Kampf um deutsche

Musik. Der Aufschwung", erschienen im Jahre 1933 in Stuttgart, suchte Grunsky in

anmaßend -subjektiver Schreibweise erfolglos Komponisten wie Hugo Herrmann und

Wolfgang Fortner, Funktionäre wie Prof. Fritz Jöde und Prof. Leo Kestenberg sowie

auch den Dirigenten Wilhelm Furtwängler als wesenssynonym jüdisch und

sozialdemokratisch, als unbelehrbare Propagandisten sozialistischen Musikgutes sowie

Marxisten zu diffamieren.

 

Kaum verwunderlich, daß Grunskys "Gedanken über Mendelssohn" somit nur von

brachial zu Werke gehender Subjektivität und Polemik sowie ungeschlachter Redeweise

geprägt sein konnten:

 

"Die "Lieder ohne Worte" (schon der Titelwitz verstimmt!) haben eine überlange Zeit

hindurch den musikalischen Geschmack bestimmt, das heisst verderbt; denn was am

Klavier als am Tonwerkzeug des häuslichen Alltags erklang, musste sich auf alle

anderen Neigungen auswirken (...) Die Wut musste einen packen, wenn diese

geschwätzigen Auslassungen wegen besserer Verständlichkeit hoch über Beethoven

emporgerückt wurden. Und spielte die Tochter des Hauses mit einer Freundin gar

vierhändig, so mussten es Mendelssohns Sinfonien sein, weil sie so plätschrig

dahinflossen (....)

 

Damit, daß Mendelssohn als Ersatz für deutsche Meister in unser Musikleben

eindrang, sind wir an dem entscheidenden Punkte angelangt, der unser Verhalten

 

85

 

 


 

künftig regelt; wir brauchen solchen Ersatz nicht mehr, weder im Konzertsaal noch im

Hause! Auch nicht in der Kirche! Als Übungsstoff kam Mendelssohn vielleicht in

Betracht, aber nie als gleichwertige Offenbarung (...)Nicht zu rechtfertigen ist also dieÜberschätzung, die unsere Musikwelt Mendelssohn auf jedem Gebiete zugestanden

hat.

 

In Kretschmars "Führer durch den Konzertsaal" sind Mendelssohns 5 Sinfonien

zusammen 11 Seiten gewidmet; 7 Sinfonien Bruckners, die vor 1890 entstanden waren,

werden auf wenig mehr als einer Seite erledigt, ein krasser Fall des Mißverhältnisses

zwischen Jüdischem und Arischem in einem deutschen Buche!"

 

Im Jahre 1935 legte Christa Maria Rock einen enzyklopädischen Konstrukt vor, welcher

sich bereits im Titel „Judentum und Musik: mit dem ABC jüdischer und nichtarischer

Musik“ als Paraphrase der historischen Publikationen Wagners und Fritschs ausweist.

 

Als Co-Autor firmiert Hans Brückner; die Herausgeber verweisen auf die Auswertung

„authentischer Unterlagen.“ Das Buch erreichte bis zum Ende der

nationalsozialistischen Diktatur eine Auflagenhöhe von insgesamt etwa 200 000

Exemplaren. Tendenziell liegt es ganz auf der Linie jener zahlreichen, im Zeitraum von

1934 – 40 veröffentlichten einschlägigen Publikationen hinsichtlich musikanthropologisch

bemühter „Beweisführung“ einer "rassisch" bedingten arischen Überlegenheit

sowie der "semitischen" Befähigung zur Unterwanderung gewachsener "völkischer"

Strukturen im musikalischen Bereich.

 

Rhetorisch indes vollends dilettantisch ausgeführt, trachtet es, dem Leser vermittels

dezidiert diffamierender Entstellung und Verzeichnung deutsch-jüdischer Vergangenheit,

Persönlichkeiten wie Mendelssohn nachhaltig zu entfremden. Wie deutlich

ersichtlich, beruft Rock sich, im Tonfall der Übersteigerung und Nachereiferung

klassisch-subalternen Adeptentums verhaftet, auf den überkommenen Schlagwort-

Katalog der Wagnerschen Argumentationskette: Mendelssohn = Jude = Eklektizist =

geschmäcklerisch, insubstantiell.

 

Aber auch die von B. A. Marx (Mendelssohn-Synonym: weibisch) und Theodor Uhlig

(Mendelssohn-Synonym: Schaffenwollen und Nicht-Schaffen-Können) seinerzeit

ausgeprägten Rezeptionsstereotypen finden in nahezu identischer Wiederholung

Anwendung.

 

„Felix Mendelssohn Bartholdy (...) war ein Vollblutjude und der Enkel des als Philosoph

gepriesenen Moses Mendelssohn. (...) Seine Frau war die Tochter eines evangelischen

Predigers aus Frankfurt (Main), Cecilie Jeanrenaud, zu deutsch: Johann Fuchs, der

vielleicht auch nicht so ganz rasserein war. Bei Mendelssohns Tod wurden die Zipfel

des Leichentuches von den echten Juden, seinen Freunden Ignaz Moscheles, David,

Moritz Hauptmann und Gade getragen.

 

(Den demagogischen Praktiken derartigen Schrifttums gemäß unterschlägt Rock dabei

die Sargträger Robert Schumann und Julius Rietz. Anderseits entgeht ihr der „Semite“

Ferdinand David. Gade und Hauptmann wiederum waren keineswegs jüdischer

Abstammung. Anmerk. d. Verf.)

 

Mendelssohn ist der Begründer des Sammelsurium-Stils, der dann von den

nachfolgenden Juden noch weiter verwässert wurde. Er gefiel sich besonders in

 

86

 

 


 

Monster-Vorstellungen, ein typisch jüdischer Geschmack, der dann auch von Mahler

besonders übertrieben wurde. Mendelssohns Musik ist überwiegend schwärmerisch und

sentimental, fast weibisch. Sein Schaffen zeigt immer wieder die

Rasseneigentümlichkeit, die gesuchte Anhäufung aller denkbaren Instrumentaleffekte.

 

Immer zeigt sich in ihm der Konflikt des Schaffenwollens und Nicht-Schaffen-Könnens.

Rein jüdisch war auch seine Abneigung gegen Wagner und gegen Beethoven. (...) Ihm

fehlt Naturlaut. Er war nur ein Kolorist der Tonkunst".

 

Rock biegt sich dabei die musikgeschichtliche Sachlage, ganz dem propagandistischen

Zwecke des Buches unterworfen, mit Brachialgewalt zurecht und befleißigt sich

stellenweise der reinen Unwahrheit . Mendelssohns Musik ist von der Stringenz und

Transparenz überschaubarer Besetzungen bei der Vorgabe rascher Tempi geprägt.

 

"Monster Veranstaltungen" laufen dem musikalischen Idiom der Mendelsohnschen

Musik geradezu zuwider. Der Sittenstrenge humanistischen Komponierens verhaftet,

verwahrte sich Mendelssohn gegenüber jedwedem illustrem musikalischen Affektes,

welcher ihm letztendlich (auch in den Werken andere Komponisten) als unseriös

erscheinen mußte. Eine Abneigung Mendelssohns Beethoven gegenüber entspringt des

Weiteren der puren Erfindung Rocks. Beethovens Symphonien spielten eine

wesentliche Rolle in der Konzeption der Gewandhausprogramme Mendelssohns,

Beethovens Vorbild war in zahlreichen Kompositionen desselben lebendig.

 

Die Publikation Rocks und Brückners war in der Lesart und Recherche allerdings

derart schlampig verfertigt, daß das Autorenpaar eine Reihe von Prozessen auf sich

zog, angestrengt von Personen und Einrichtungen, welche sich durch eine irrtümliche

Konstatierung jüdischer Identität in diesem Buch in ihrem Ruf geschädigt sahen.

 

Im Sommer des gleichen Jahres leitete Franz von Hoeßlin im Schloßgarten der

Hohenzollern in Breslau ein Serenadenkonzert, welches u. a. auch Scherzo und

Notturno aus der "Sommernachtstraum"-Musik zu Gehör brachte. Die Presse

kommentierte diese Aufführung zweier Kompositionen eines zunehmend als Juden

verfemten Musikers dessen ungeachtet als "unvergänglich schön".

 

Gleichsam im Sommer des Jahres 1935 trat die Frankfurter Museumsgesellschaft (eine

noch heute bestehende großbürgerliche Konzertgesellschaft) in außerordentlicher

Mitgliederversammlung mit dem Ziele zusammen, das Konzertprogramm der nächsten

Saison festzulegen. Der Komponist Dr. phil. h.c. Alexander Friedrich Prinz von Hessen

riet der Versammlung dabei nachdrücklich, "in Zukunft auch wieder dem Werk

Mendelssohns gebührende Beachtung zu schenken" (Prieberg), ohne sich mit dieser

Position bei der Museumsgesellschaft durchsetzen zu können.

 

Fred Prieberg, dessen, im einschlägigen Themenbereich langjährig führenden Studie

"Musik im NS-Staat" die Daten regimekontroverser Aufführungen von Mendelssohn-

Musik größtenteils entnommen wurde, listet des weiteren folgende Theateraufführungen

des "Sommernachtstraums" mit der Mendelssohnschen Schauspielmusik auf: 1934 vom

Friedrich-Theater in einer im Dessauer Luisum veranstalteten Vorstellung; im April des

gleichen Jahres in Ulm, in den Ostertagen des Jahres 1935 in Meinigen.

 

87

 

 


 

Dem standen im gleichen Zeitraum aber bereits von der NS-Kulturpolitik initiierte

Surrogat-Untermalungen mit Grammophonplatten (so am Freilichttheater Märkisches

Museum in Berlin), mit Instumentalmusik aus Purcells „The Fairy Queen“ bei den

Heidelberger Schlossgastspielen des Jahres 1934, mit einer nicht näher genannten

Barockmusik an der Naturbühne in Thale/ Harz sowie eine von Erwin Baltzer mit

Ausschnitten von Carl Maria von Webers „Oberon“ am Neuen Stadttheater Greifswald

zusammengestellte Kompilationsmusik. Die wahrscheinlich letzte Aufführung des

Schauspiels in der Vertonung Mendelssohns im Nationalsozialismus fand im Juni des

Jahres 1937 am Stadttheater Brandenburg/ Havel statt.

 

Auch im Verlagswesen konnte sich Mendelssohns Werk noch einige Jahre behaupten.

Die Verlage nutzten dabei offenkundig ein Schlupfloch innerhalb nationalsozialistischer

Verordnungen, welche ein Angebot von Musikmaterialien jüdischer Komponisten füreine bestimmte Übergangszeit scheinbar zu dulden gestatteten.

 

Hören wir dazu Joseph Goebbels in einem Artikel der Zeitschrift für Musik aus

Regensburg vom 1. Januar 1936.

 

Er verfügte darin: "daß wegen allenfallsiger Schädigung der betreffenden Verlage und

aus der Erwägung heraus, daß die Bekanntgabe von Werken jüdischer Komponisten

weder deren Ankauf noch deren Aufführung zufolge haben wird, ein Verbot der

betreffenden Verlagsverzeichnisse nicht ausgesprochen wird. Für die Zukunft jedoch hat

bei Neudruck von Katalogen selbstverständlich jedwedes Anbieten von Werken nicht

erwünschter Komponisten zu unterbleiben“.

 

So bot der Musikverlag Hampe weiterhin ein Posaunenchorarrangement des

Kriegsmarsches der Priester aus Mendelssohns Schauspielmusik zu Racines Drama

"Athalia" zur Aufführung an. Ein Katalog des namhaften Musikverlages Bote & Bock in

Berlin wiederum bot Musikalben an, welche Mendelssohnsche Kompositionen und jene

anderer jüdischer Tonsetzer gar mit Werken nationalsozialistischer Komponisten wie

Georg Blumensaat, Johannes Günther und Hans Miessner vereinten.

 

Im Jahre 1939 erklang Mendelssohn noch einmal an der Musikhochschule in Weimar.

Der Direktor des Instituts, Felix Oberborbeck, wurde daraufhin von seinem Posten

suspendiert Österreichische NS-Funktionäre erschlossen ihm daraufhin einen neuen

Wirkungsbereich an der Musikhochschule in Graz.

 

23. Auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen

Die Reichsleitung der „N.S.D.A.P“. war von den Vorgängen um die dilettierenden

Publizisten Rock und Brückner hinreichend gewarnt; diese hatten beträchtliche

Zahlungsbefehle hinsichtlich Schadensersatz gegen NS-treue Verlage mit sich gebracht

und diskreditierten das Unterfangen antisemitischer "Säuberung" der deutschen Kultur

in Gesamtheit im Vorfeld erheblich. Also beschloss die ranghöchste Ebene der NS-

Kulturpropaganda die Vorlage eines von offizieller Seite initiierten musikalischen

Judenkatechismus: des "Lexikon der Juden in der Musik"

 

In den Jahren 1934/35 erschien ein Hauptwerk aggressiven nationalsozialistischen

Rassenschrifttums unter dem Titel „Handbuch der Judenfrage“. Wie im Titel bereits

verdeutlicht, handelt es sich dabei um eine aktualisierte, dem NS-Gedankengut

spezifisch Rechnung tragende Bearbeitung des berüchtigte "Handbuch der Judenfrage",

 

88

 

 


 

welches der Antisemit Theodor Friztsch bereits im Jahre 1887 erstveröffentlichte. Da

das Handbuch der antisemitischen Breitenbewegung Deutschlands seit jeher als

Zentralorgan galt, hatte es bis zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Wiederauflagen

erfahren: Allein bis zum Jahre 1907, also für einen Zeitraum von nur 20 Jahren, werden

26 Auflagen genannt.

 

Ob bereits die Neupublikation des "Handbuch der Judenfrage" auf Initiative und

Förderung der NS-Administration zurückging, ist nicht klar. Offiziellen Rang erhielt es

allerdings bereits dadurch, daß es in den Bestand sämtlicher Bibliotheken in

Deutschland einzog.

 

Im "Handbuch der Judenfrage" von 1935 greift Hans Koeltzsch in einem Kapitel gleichen

Namens auch den Gedanken vom "Judentum in der Musik" erneut auf.

 

Im Verweis auf Aspekte wie: "Glanz und Glitter des Theaters" (ein Beitrag über

Giacomo Meyerbeer); "Frivolität, Zynismus und Erotik" (...über Jacques Offenbach);

"Operettenschmierer" (...über jüdische Operettenkomponisten); "Oberflächliches

Mitmachen jeder Stilsensation" (...über Kurt Weill) betreibt er darin detaillgenaue

Demontage jüdischer Komponisten und deren Werke:

 

"Judentum in der Musik, das ist eine kurze, erschreckende und sehr vielfältige

Geschichte von Aufnahme fremden Gedankengutes, bar jeder urtümlichen

Schöpferkraft; von größeren jüdischen Meistern (Mendelssohn, Mahler) in schmerzlicher

Tragik empfunden, gegen die anzukämpfen vergeblich blieb. (...) Fassen wir zusammen:

auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen. (...) Darum kann es im

weiteren Felde des neuen deutschen Musiklebens keine “Politik der mittleren Linie”

mehr geben, keine Duldung, Verständigung, keine Humanität; wir alle haben

vielmehr...die Pflicht, das Judentum in der Musik restlos auszuschalten”.

 

Der Autor dieser Zeilen reüssierte nach 1945 als “namhafter Hamburger

Musikwissenschaftler” und Chefredakteur des 2. UKW-Programms des

Nordwestdeutschen Rundfunks Hamburg. Er veröffentlichte u.a. in den 60ziger Jahren

einen Standardopernführer, der über Buchgemeinschaften verlegt, zahllosen

Haushalten zum Allgemeingut wurde und unentwegt vernichtende Urteile bezüglich

"Sommernachtstraum" und Meyerbeers gesamtes Opernschaffen verkündet.

 

Die von der nationalsozialistischen Propaganda synonym zu „jüdisch“ aufgewandten

Begriffe ”Atonalität” und “Entartet” waren der Entwöhnung von den harmonisch-

melodischen Kompositionen des Spätklassizisten Mendelssohn wenig dienlich. Zwang

administrativer Verordnung trat an die Stelle propagandistischer Rhetorik. Musikvereine,

Orchester und Konservatorien ließen vom Werke Mendelssohns ab und seine Musik

verstummte in Deutschland und Hitler-Europa für nahezu 12 Jahre.

 

Das im Jahre 1912 in der Berliner Staatsbibliothek zur Aufnahme und Exposition des

Nachlasses errichtete Mendelssohn-Zimmer wurde im Jahre 1933 umbenannt, die im

Jahre 1878 von den Erben und dem Preussischen Staat errichtete Mendelssohn-

Stiftung zur Förderung begabter Studenten der Fächer Komposition, Dirigat und Klavier

1934 eingezogen.

 

Der umsichtigen Sorge des Musikwissenschaftlers und Musikfunktionärs Prof. Georg

Schünemann als Direktor der Handschriftensammlung der Berliner Staatsbibliothek ist

 

89

 

 


 

es einzig zu verdanken, daß der unmittelbare schriftliche und musikalische Nachlass

Felix Mendelssohns die Zeiten des „III. Reiches“ und des II. Weltkrieges weitgehend

unbeschadet überstand.

 

Auch die Musikstadt Leipzig hatte sich der Erinnerung an den bedeutenden einstigen

Mentor hiesigen Musiklebens rasch entledigt, eine Entwicklung, der mit der Vernichtung

des Mendelssohn-Denkmals vor dem Gewandhause öffentlichkeitswirksam besiegelt

wurde.

 

Zum Beweis dessen ein Blick in zwei Publikationen des maßgeblich auf die Initiative

Felix Mendelssohns im Jahre 1843 gegründeten und von diesem bis zum Todesjahre

1847 geleiteten Leipziger Konservatoriums.

 

Direktor Prof. Walther Davisson umriß in jenen Jahren in einem Editorial unter dem

Titel: "Das Landeskonservatorium" (ohne Datumsangabe) die Geschichte seines

Hauses folgendermaßen:

 

"Drei grosse Institute: Thomaskirche, Gewandhaus und Konservatorium haben den

Ruf Leipzigs als Musikstadt begründet und tragen heute noch Leipzigs Künstlernamen

in alle Welt. Das Landeskonservatorium nimmt unter ihnen als Musikbildungsstätte eine

sehr wichtige Stellung ein. Es wurde am 2. April 1843 als erstes großes deutsches

Musikerziehungsinstitut mit der Bezeichnung "Konservatorium für Musik" eröffnet und

unterstand der Aufsicht der Gewandhausdirektion. Unter den ersten Lehrern finden wir

Namen wie: Moritz Hauptmann, Dr. Robert Schumann, Christian August Pohlenz, Carl

Ferdinand Becher, Ernst Friedrich Richter und Nils W. Gade.

 

Das nachfolgend wiedergegebene (pädogogische) Eröffnungsprogramm, das in

seinen Hauptgedanken noch bis zum heutigen Tage Gültigkeit hat, zeigt uns, daß schon

die Gründer der neuen Musikschule von der Notwendigkeit einer umfassenden

künstlerischen Ausbildung überzeugt waren: Der zu erteilende Unterricht umfasst

folgende Gegenstände: Komposition, Violinspiel, Klavierspiel, Orgelspiel und Gesang.

(...) Als Bildungsmittel für die Zöglinge bieten sich ferner dar: der unentgeltliche Besuch

der in jedem Jahr stattfindenden Abonnemontskonzerte im Gewandhaus und der

diesfälligen Proben sowie der Quartettunterhaltungen.

 

Auch der Besuch der vom Thomanerchor allwöchentlich aufgeführten

Kirchenmusiken und der Vorstellungen der städtischen Oper wird zur musikalischen

Fortbildung beitragen können".

 

Davisson streicht dabei in erheblichem Maße die auf Felix Mendelssohn Bartholdys

Wirken beruhende ungebrochene musikalische Tradition Leipzigs, die historische

Bedeutung des Konservatoriums, den Modellcharakter des im Jahre 1843 vorgelegten

Ausbildungskonzeptes heraus. Des weiteren scheute er keineswegs das umfangreiche,

anonyme wortwörtliche Zitat aus dem Programm, welches der totgeschwiegene oder mit

der Chiffre "Gewandhausdirektion" verkleidete Direktor Felix Mendelssohn zur Eröffnung

des Instituts verfasste.

 

Davisson geriet einige Zeit nach Vorlage des Artikels selbst in politische

Schwierigkeiten, da Zweifel an seiner "arischen" Herkunft aufkamen. Obgleich er die

Anfechtung der "Reinrassigkeit" stets durch die Pflege dezidiert völkischer Rhetorik zu

entkräften suchte, wurde er infolge des Verdachtes der Leitung des Konservatoriums

enthoben, das Institut einer kommissarischen Leitung anvertraut.

 

Getreu der Joseph Goebbels-Losung: "Judentum und deutsche Musik, das sind

Gegensätze, die ihrer Natur nach in schroffstem Widerspruch zu einander stehen“

erging an die Musikwissenschaft der Auftrag, das Idiom deutscher Musik zu definieren.

 

90

 

 


 

Dies vermochte sie ebenso wenig auf der Basis empirisch gesicherter Erkenntnisse zu

leisten, wie Wagner seinerzeit ein vermeintlich semitisches Idiom von Glätte, Kälte,

seelenlos-perfektionistischer Eleganz im Werk Mendelssohns seriös nachweisen

konnte.

 

Im Zuge dessen bemühte sich beispielsweise der Musikwissenschaftler Robert

Pessenlehner "Vom Wesen der deutschen Musik" (Gustav Bosse Verlag, Regensburg,

1937) ultimative Kunde zu geben. Er stellt darin die Behauptung daß "die höchste

Formvollendung in den Werken aller Zeiten und Epochen (...) nur in den Werken der

Deutschen Tonkunst" gleichsam als zentrale These, als Losung über die gesamte

Thematik auf. .

 

An zahlreichen Fallbeispielen sucht Pessenlehner, die vom Propagandaministerium

eingeforderte Beweisführung einer spezifischen Vorrangstellung Deutscher Tonkunst im

Konzert der Völker und Nationen vorzunehmen.

 

So beklagt er eine "allmähliche Umwandlung des arischen Rhythmusgesetzes in ein

ausserarisches" als vormals schädlichen Prozess, zersetzend für die Deutsche

Tonkunst und stellt dieser Entwicklung einen Kanon unverbrüchlich-ewiggültiger

"Wesensmerkmale -Symbole der Deutschen Musik" entgegen. Als grundlegendes

"Wesensmerkmal", als "Symbol" hebt er beispielsweise die Synkope hervor.

 

Der Fall Mendelssohn, des "Kronzeuge(n) für die jüdische Musik, die erkenntlich ist

am Fehlen der deutschen Symbole, vor allem der Synkope", dessen Musik ja "jeglicher

Synkopen" ermangele, erledige sich im Benehmen, jener sei vorgeblich ein Deutscher

Komponist gewesen, somit ja von alleine.

 

Thesen wie jene, "innerhalb der deutschen Musikwelt" sei es das Phänomen der

Synkope, welches "ganz besonders arische und nichtarische Tonsetzer" unterscheide,

oder Betrachtungen wie "Deutsch sein heisst unklar scheinen" schließen sich an.

 

Die Subjektivität, der vordringlich im Obsessiven, Pathologischen wurzelnde Versuch

um die Definition eines einzigartigen Idioms deutscher Musik; das persönliche Scheitern

Pessenlehners an dieser Aufgabe, ja die Vergeblichkeit derselben, streicht jener selbst

unzweideutig hervor:

 

Die Erklärung der "Merkmale der Deutschen Musik" wäre letztendlich "nach dem

Stande der gegenwärtigen Forschung auch nicht einzig und allein dem

Rassengrundsatz (zu) übertragen (...) Gewiß ist die Scheidung zwischen arischer und

nichtarischer Rasse die Grundlage für die gesamte Abhandlung. Aber innerhalb der

arischen Rasse ergeben sich von der Musik her Abwandlungen, für deren Bestimmung

die bisherigen Ergebnisse der Rassenforschung nicht ausreichen."

 

Wolfgang Boettcher, dessen Funktion innerhalb der nationalsozialistischen Rezeption

Felix Mendelssohns noch ausführlich zur Sprache kommen soll, hebt in einem im März

des Jahres 1938 im Monatsheft "Die Musik" des Gustav Bosse Verlages Regensburg

erschienenen Essay denn auch die Fragwürdigkeit des Pessenlehnerschen Versuches

unmissverständlich hervor. Begreiflicherweise kapriziert sich der Habilitant Boettcher,

der nach 1945 eine ausgewiesene musikwissenschaftliche Karriere durchlief,

vorwiegend auf die Wahrung musikakademischer Belange:

 

"Wenn man Pessenlehners Buch zur Hand nimmt, stellen sich zunächst Zweifel ein,

ob man es mit einer ernstgemeinten Darstellung zu tun hat oder ob sich der Verfasser

(...) in karnevalistischer ironisierender Form mit Fragen beschäftigt, die nur von höchster

fachlicher und weltanschaulicher Warte aus beantwortet werden können.

 

91

 

 


 

Das Buch ist vom Verfasser ernst gemeint. Das geht nicht zuletzt aus der

Selbstsicherheit , mit der Pessenlehner (bis dato der deutschen Musikwelt ein

Unbekannter) sich selbst auf einem ganzseitigen Bilde -dem einzigen des 193 Seiten

starken Buches -darbietet. (…) Nach schweren Angriffen auf die deutsche Musikkultur

der Gegenwart (...) kommt bei Pessenlehner die deutsche Musikwissenschaft unters

Messer (...) Pessenlehner meint ironisch: "Die Männer, die einst an der Zeitschrift der

Internationalen Musikgesellschaft mitschufen", behaupteten im Januar 1934, sie hätten

"den Ruf", sich "zu neuer nationaler Einheit und Geschlossenheit zusammenzufinden,

wohl verstanden. Er entlarvt den "Ungeist", der die Deutsche Musikwissenschaft seit

ihrer Entstehung durchzieht" (...) Während er dem Deutsche Musikgelehrten die Ehre

abschneidet, berührt es peinlich, daß er den Juden Moritz Bauer ( + 1932, u.a. seit 1918

Professor & Universitätsmusikdirektor in Frankfurt a. M., Widmungsträger der

Dissertation Pessenlehners) aus begreiflichen Motiven kein einziges Mal erwähnt".

 

Während zahlreiche Autoren in Kampfschriften das Phänomen einer vermeintlich

nachhaltig "durchrassten" Deutschen Tonkunst bloßzulegen trachteten, negierte eine

systemkonforme, übergreifend agierende Musikwissenschaft das Lebenswerk Felix

Mendelssohns vollständig.

 

”Es ist nicht Aufgabe einer deutschen Musikgeschichte, sich mit ihm und seinen

Ouvertüren, Sinfonien und Oratorien, seinen Liedern und seiner Klaviermusik zu

befassen” (Josef Müller-Blattau, Professor der MW in Frankfurt (1935) und Freiburg

(1937) in seiner "Geschichte der deutschen Musik", Berlin 1938) Sie gewärtigte sich des

Weiteren des Problems: Ist das Judentum eines musikgeschichtlich unumgänglich

aufzuführenden Komponisten durch die Formulierung ”der Jude Mendelssohn, der Jude

Mahler” oder durch Voranstellung eines Davidsterns oder in Klammern gesetzten J`s in

Text oder Register hervorzuheben?

 

Die Zerstörung des klassizistischen Mendelssohn-Denkmals vor dem Gewandhause zu

Leipzig im November 1936 -von jener wird noch ausführlicher die Rede sein -initiierte,

einer Initialzündung entsprechend, gleichsam eine Flut Deutscher Musikgeschichten,

welche das erklärte Bemühen um rassemusikalische Deutungen und Verurteilungen

Felix Mendelssohns vorzunehmen trachteten. Es scheint fast -nun das Denkmal

gefallen und damit ein Damm gebrochen, welcher Verunsicherte und zögernde bislang

in Bann hielt -, als ob sich ein Exorzismus, ein Massenphänomen gleichsam entfesselte,

der deutschen Tonkunst den bislang arrivierten, verehrten Musikjuden ein für alle Mal

auszutreiben.

 

Im gleichen Jahre referierte der Komponist und Musikdozent Walter Trienes -er war

seit 1925 Mitarbeiter des Konservatoriums in Hagen -in der Septemberausgabe des

"Repetorium(s) der Musikgeschichte. Das Wichtigste aus der Musikgeschichte aller

Kulturvölker in Frage und Antwort", welche in Köln erschien, über das Thema "Die

Entwicklung des Judentums in der Musik seit der Emanzipation". Trienes konstruiert in

diesem Beitrag das Unternehmen eines jüdischen "Vormarschs...um die Herrschaft in

der Musik".

 

Das Oeuvre Mendelssohns immerhin war dem Autor dabei eine "siebende und

sichtende Prüfung" wert, mit der Zielsetzung "welchen Wert wir den eigenen Leistungen

des Tonsetzers bei(zu)messen" fürderhin imstande zu sein vermögen".

 

Das Resultat entsprach vollständig den Vorgaben der von den Machthabern

propagierten völkischen Ideologie: Musikalischen Charaktermangel und musikalisches

 

92

 

 


 

Unvermögen attestierte Trienes dem Mendelssohnschen Schaffen und streicht erneut die

Musikwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts paraphrasierend -die fehlende

"Kraft, wirklich zu erschüttern" hervor. Auch die Analyse anderer Meister jüdischen

Glaubens oder jüdischer Herkunft resultiert somit in Verurteilung und Diskreditierung

derselben. So repräsentiere die Grand Opera Meyerbeers irreversibel nur "hohles

Pathos", habe Mahler sich in seinem Schaffen lediglich einer "stetigen Selbsttäuschung"

hingegeben, wenngleich Trienes der Person Mahlers mehr Charakterfülle als jener

Mendelssohns zugesteht.

 

Trienes Darlegungen eines vermeintlichen Phänomens unausgesetzten Bemühens um

feindliche Übernahme des europäischen Geisteserbes durch "das Judentum",

sekundiert von "Stimmungsmache" durch „jüdische Pressemagnaten“ und eines

 

erfolgreichen "Geschichtsbetrugs", kulminieren schliesslich in der apokalyptisch

anmutenden Gewißheit des vollendeten Triumphes dezidiert jüdischkulturpessimistischer

Strategien:

 

"Der Steilabhang führte über die "Versachlichung" und Vernüchterung, über die

Ausmerzung der Werte des Charakters, der Kriegserklärung allem Gefühlsmäßigen, der

Objektivierung und Mechanisierung, über die Entfesselung von rhythmischen Orgien zu

dem absoluten Tiefstand ethischer Zersetzung...."

 

Trienes Argumentationsgang zufolge war es also Mendelssohn, welcher vermittels

"Versachlichung und Vernüchterung" (leere Formverbundenheit), "Ausmerzung der

Werte des Charakters" (anämische Schöngeistigkeit), der "Kriegserklärung allem

Gefühlsmäßigen" (Aversion gegenüber dem Affekthaften, innere Kälte) sowie

Objektivierung und Mechanisierung (Unterordnung des musikalischen Ideals unter

sachfremd philosophische; formelle Konventionalität) die deutsche Musik nachhaltig auf

den Weg zum "absoluten Tiefstand ethischer Zersetzung" brachte. Diesen sah Trienes

schliesslich im Werke Kurt Weills erreicht.

 

Nimmt man Trienes indes als Autor eines nationalsozialistisch-völkischen Traktates

wahr, verdeutlicht sich rasch die Affinität jener Mendelssohn-These zu den bekannten

Wagnerschen Stereotypen vom seelenfremden jüdischen Objektivierer und Kopisten

deutscher Kunst.

 

Gleichsam im Jahre 1936 befasste sich Richard Litterscheid in der Märzausgabe der

"Musik" mit der Frage nach "spezifisch jüdischem Formwillen" oder dem "Schöpfertum

aus zweiter Hand", dargestellt an den Beispielen Mendelssohn und Gustav Mahler.

 

"So gesehen besteht kein Zweifel, dass auch Mendelssohns Schöpferkraft davor

versagt hat, ganz und gar in der großen deutschen Gefühls-und Formsprache zu reden

(...) Seine Werke vermögen trotz ihrer klassischen Haltung - an welchen Vorbildern auch

konnten Sie sich bilden! - vor einer strengen Prüfung nicht zu bestehen

 

(...) Die Lieder ohne Worte, einst die bevorzugte Hausmusik gefühlvoller

Backfische, besitzen des Unechten, Sentimentalen zuviel; sein sonst über alles gelobtes

Violinkonzert rutscht in den grossen Kantilenen immer wieder ins Gefühlsselige aus;

seine "Sommernachtstraum"-Musik bleibt (...) ohne schöpferische Stoßkraft in

musikalisches Neuland entworfen (...) in ihren Gefühlswerten unecht. Man wende nicht

ein, daß es gleichzeitig auch deutsche "Sentimentaliker" gegeben habe. (...)

Mendelssohn (...) der nicht neben sie, sondern neben Schubert und Schumann gestellt

zu werden pflegt, muss und kann nur mit diesen deutschen Meistern verglichen

werden". Nach der Definierung Mendelssohns als "Sentimentaliker", wendet sich

Litterscheid

 

93

 

 


 

der vermeintlichen Ursache solch auffälligen Sentiments zu, welche der Autor

zwangsläufig im Rassenproblem erkannte. Wenig verwunderlich, daß dabei auch wieder

Wagnersche Thesen paraphrasiert werden.

 

"Dann aber enthüllt sich die wahre Seele der Mendelssohnschen Musik, nicht als die

eines anderen Charakters, nein, eben als die einer anderen Rasse (...) Doch zu eigner

jüdischer Musik drang Mendelssohn eben nicht vor und zur vollendeten Gestaltung im

Sinne des deutschen Gastvolkes aus dessen spezifischem Gefühlsleben auch nicht. So

ist die Berechtigung gegeben, trotz der relativ großen Leistung dieses Mannes davon zu

sprechen, daß der Jude nicht eigenschöpferisch, jedenfalls nicht wie das deutsche

Genie (...) ist, und niemals sein kann".

 

Im Jahre 1937 erörterte Richard Eichenauer in nationalsozialistischem Geiste

Sachgebiete wie "Musik und Rasse". Dieser Versuch akribisch vorgenommener

Definition eines Phänomens "musikalischen Judentums" auf der Grundlage

rassebiologischer Theorien, unterteilte jüdische Herkunft und Wesensart pauschal in 2

Kategorien: ein "vorderasiatisches" und ein "orientalisches" Judentum. In der

rassistischen Interpretation der jeweiligen Lebensumstände ordnete Eichenauer die

herausragenden Persönlichkeiten jüdischer Herkunft in der Musikgeschichte einem der

genannten "Stämme" zu.

 

Person und Wirken Felix Mendelssohns hingegen ordnete der Autor gar beiden

genannten "Stämmen" zu. Den Schwerpunkt jener vermeintlich semitischen Kontur in

Person und Musik Mendelssohns, die Ursache der von Eichenauer erneut

paraphrasierten Wagnerschen Invektiven von "Glätte", "Kälte"; "Nachprägung" sowie

einer vorgeblich seichten Emotionalität Mendelssohnscher Kompositionen sah er aber in

der spezifischen Verwurzelung in der "vorderasiatischen" Wesensart.

 

"Felix Mendelssohn Bartholdy zeigt körperlich die Züge beider Hauptrassen des

Judentums, der vorderasiatischen und der orientalischen; dazu ist gerade bei ihm der

starke Umwelteinfluß höchstgesteigerten deutschen Geisteslebens nicht zu vergessen.

 

Aus ihm sprechen lauter vorderasiatische Rassenzüge: Gabe der Einfühlung in

fremdes Seelenleben, der gefälligen Ausnutzung bestehender Formen, ein gewisser

Mangel an jenem Schwergewicht, das für nordisches Empfinden zu einem "grossen"

Menschen gehört".

 

Der Musikforscher Ernst Bücken bekundete wiederum in "Die Musik der Nationen. Eine

Musikgeschichte", welche zeitgleich in Leipzig herausgegeben wurde, dass der "Grund

einer gewissen Eintönigkeit" Mendelssohnscher Musik "in der oft leierig werdenden

Rhythmik (liegt), die schon H. von Waltershausen als ein fühlbar durchschlagendes

rassisches Merkmal" derselben "angesprochen hat".

 

Bücken veröffentlichte im Nationalsozialismus des Weiteren ein Wörterbuch der Musik,

Leipzig 1940, eine "Musik des 19. Jahrhunderts", eine "Musik der Deutschen" Köln

1941, welche unausgesetzt gegen avantgardistische Musik agitieren und, wenig

verwunderlich, von Thesen rassistisch-antisemitischer Prägung durchsetzt sind.

 

Im Jahre 1939 stellte Prof. Richard Blessinger -seit 1920 als Dozent an der Münchner

Akademie für Tonkunst tätig -in der Denkschrift "Judentum und Musik Ein Beitrag zur

Kultur-und Rassenpolitik" Felix Mendelssohn" explizit als Initiator einer

"Zerstörungsarbeit des Judentums an unserer Musik" heraus. Vornehmlichstes Anliegen

des Pamphletes war es denn auch anhand "des Wirkens dreier jüdischer Musiker (...)

bestimmte Etappen dieses Zerstörungswerkes" zu veranschaulichen.

 

94

 

 


 

Blessinger behauptet infolgedessen, dass jene "drei Männer" (...) welche "dabei

gleichzeitig in klarer Weise drei jüdische Typen darstellen, die an Gefährlichkeit

einander gleich, im Auftreten und in den Methoden sich deutlich voneinander

unterschieden. Mendelssohn, der das Zerstörungswerk eingeleitet hat, erscheint als der

Typus des sogenannten Assimilationsjuden; Meyerbeer, der mächtigste Mann der

zweiten Etappe, ist der skrupellose Geschäftsjude; Mahler, der Beherrscher des dritten

Stadiums, stellt den fanatischen Typus des ostdeutschen Rabbiner dar".

 

Dem bis in die Titelgebung des Pamphlets hinein offenkundig reflektierten Vorbilde

Wagner gemäß, übte Blessinger sich in der Konstruktion eines mit wissenschaftlicher

Akribie aufgeführten antisemitischen Argumentationsgebäudes, welches er vermittels

historischen Querverweisen anthropologisch zu untermauern trachtete. So wird die Lyrik

des märkischen Dichters Theodor Fontane dazu mißbraucht, die Denunziation des

"Juden als Kulturparasiten" durch die Aussage einer unangezweifelten Autorität zu

sanktionieren.

 

Blessinger geht in der Recherche seines Konstruktes tief in die deutsche Geschichte

zurück. Die Aufhebung der jüdischen Ghettos habe somit die voranschreitende

Infiltrierung des europäischen Geisteserbes vermittels Taktik und Tarnung bedingt. Eine

maßgebliche Funktion dabei erkannte Blessinger Mendelssohns Großvater, dem

Philosophen Moses Mendelssohn zu, dem es "in der Hauptsache zuzuschreiben (wäre),

daß die Juden, die unter rabbinischer Führung bisher geistig in ghettoartiger

Abgeschlossenheit gelebt hatten, nun aus dieser heraustraten und eine neue Taktik, die

der "Assimilation", der scheinbaren Angleichung an das Leben des Wirtsvolkes

anwendeten, um ihr erstrebtes Weltherrschaftsziel zu erreichen.“

 

Blessinger geißelt dabei im Besonderen Moses Mendelssohns "vollständige

Umwertung des Begriffes der Philosophie" in den "geistreichen Plauderton einer

"gebildeten Konversation", welche alleinig beabsichtige "immer recht zu behalten, auch

wenn der andere im recht ist".

 

Die Folgewirkungen dessen monierte Blessinger am Phänomen des jüdischen

Salons, einer vermeintlichen Stätte subversiver Kultivierung des Degenerierens von

Körper und Geist: "Hier sehen wir ganz deutlich, worauf es den ,,Häuptern" ankam.: die

Menschen bei ihren schwachen Seiten zu packen, diese Schwächen als etwas im

Grunde genommen geradezu Wertvolles hinzustellen und sie dadurch innerlich zu

spalten...Parasitäre Aneignung der Geschmackskultur durch die Juden" hätten somit

wesentliche Bereiche großbürgerlichen Lebens dahingehend "umgebogen", dass es

einer "wirklich deutschen Romantik" nunmehr unmöglich gewesen sei "echte

Tiefenwirkung" zu erreichen und "der Jude Mendelssohn" somit als "echtester

musikalischer Künder (...) vielgepriesenen deutschen Gemüts" wahrgenommen wurde.

 

Einem Umriß nationalsozialistischer Rezeption von Person und Musik Felix

Mendelssohn Bartholdys stellte Blessinger eine Analyse der "Machenschaften" durch

den Funktionär Mendelssohn voran. Mit der Eloge vom "jüdischen Interesse", welches

Mendelssohn angeleitet habe, knüpft er an das Verdikt des Leipziger Tagblattes von

den "mosaischen Interessen" im November 1846, in Zeiten des Vormärz an und

verdeutlicht somit die ungebrochene Tradition pathologisch übersteigerter deutscher

Fremdenangst.

 

Mendelssohns Leistungen als Dirigent seien also "in Äußerlichkeiten" verblieben,

hätten vielmehr "die tieferen Werte der Werke verschlechtert," Mendelssohns Musik

hingegen "formalen Schematismus, (...) Mangel an wirklicher Schöpferkraft", Tonrede

"ohne wirklich etwas zu sagen" demonstriert. Dabei handele es sich "in der Hauptsache

 

95

 

 


 

(...) doch um eine Übertragung magischer Beschwörungsformeln des Orients in unseren

Bereich, (...) einer Formel, die so unablässig wiederholt wird, prägt sich dem Hörer

unauslöschlich ein, und will ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen". Infolgedessen habe

"der Jude seinen Zweck erreicht,: seine Musik ergreift Besitz von den Menschen selbst

wider deren Willen".

 

Wieder einmal vertieft sich ein Demagoge hier so sehr in den Gegenstand seiner

Betrachtung, dass er den Bezug zur Basis objektiver Betrachtung desselben verlor und

sich Aussagen somit in Gegensatz zur Intention des Autors stellen.

 

Als Verweis darauf, dass die von Blessinger angeführten Mendelssohnschen

Verführungstechniken wohl eher auf das Werk Richard Wagners zuträfen, sei dessen

These folgende Einschätzung des Wagner-Biographen Robert Gutman

entgegengestellt:

 

"Wagner sprach vom "unvergleichlichen Zauber" seiner Werke -ihr stärkster Zauber

war die Musik. Ein Prospero mit Buch und Zauber-Musik, der zu herrschen suchte über

eine Welt niederer Geister, benutzte er die Musik, um die Sinne zu unterwerfen, um ein

Publikum, dem er alle Frage abgenommen hatte, zu fesseln, zu knebeln, zu belehren.

 

Seine Musik zwang zum Glauben, ihre herrliche Instrumentierung geht -wie

Nietzsche bemerkte -aufs Nervensystem, sie hat die Kraft, das Rückenmark zu

bezaubern und überredet selbst noch die Eingeweide".

 

Auch Blessinger bemüht sich um den Nachweis einer spezifisch rassischen

Beschaffenheit in der Musik jüdischer Komponisten. Dabei paraphrasiert er implizit die

Theorien Wagners:

 

"Zwischen organischer Formgestaltung deutscher Art und jüdischer Formkonstruktion

besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Der schöpferische deutsche Genius gestaltet

ein Kunstwerk als Kosmos, der eine lebendige Einheit bildet (...) und in dem jede

Einzelheit trotz ihrer eigenständigen Bedeutung in das Ganze sich einordnet.

 

Der Jude aber, unschöpferisch, wie er ist, vermag nie die Einheit des Ganzen auch

nur zu sehen., geschweige denn selbst zu gestalten.

 

Für ihn löst sich das Ganze in einer Unmenge selbstständiger Einzelheiten auf, die

höchstens durch künstliche Mittel, niemals aber organisch miteinander verbunden sind,

(...) es ist im Grunde dasselbe, ob die Urheber des Talmud das "Gesetz" in eine

unübersehbare Menge von Einzelvorschriften aufteilen, ob ein Moses Mendelssohn den

geordneten Gang philosophischen Denkens durch geistreich sein sollende Einzelsätze

stört, oder ob ein Felix Mendelssohn rein verstandesmäßig aus dem Schaffensprinzip

deutscher Tonmeister ein totes Formschema mechanisch herausdestilliert.

 

Und wenn heute noch immer Musiker und Musikfreunde es bedauern, dass ihre

Lieblingskompositionen, die "Sommernachtstraum"-Ouvertüre, die Hebriden-Ouvertüre,

das Violinkonzert usw. aus den Programmen verschwunden sind, so ist dem zuerst

entgegenzuhalten, dass es unendlich viel bedauerlicher ist, daß hochbedeutende Werke

deutscher Komponisten, wie das Schumannsche Violinkonzert, uns durch jüdische

Machenschaften ganz verlorenzugehen drohten".

 

(Eine signifikante nationalsozialistische Fehlinterpretation musikhistorischer Fakten: das

Violinkonzert d-moll Schumanns war von Clara Schumann, auf Anraten des jüdischen

Violinvirtuosen Joseph Joachim, postum von einer Veröffentlichung zurückgehalten

worden, da beide die hohe Qualität Schumannschen Schaffens in diesem Falle nicht

 

96

 

 


 

mehr gegeben sahen. Das Werk erfuhr eine propagandistisch-sensationell aufbereitete

Uraufführung im deutschen Nationalsozialismus des Jahres 1937. Der aus rein

künstlerischen Erwägungen heraus erteilte Rat des Robert und Clara Schumann-

Freundes Joachim wurde also, im Hinblick auf dessen jüdische Herkunft, als

einschlägiger Beweis jener genannten "jüdischen Machenschaften" zu Lasten eines

bedeutenden deutschen Meisterwerkes; eines dezidiert vorgetragenen Anschlages auf

den Bestand der nationalen Tonkunst im Sinne rassisch-nationalsozialistischer

Propaganda mißdeutet.)

 

Blessinger fährt fort:

 

"Und zum zweiten ist festzustellen, dass vor 1914 allgemein in Musikerkreisen die Musik

Mendelssohns nicht mehr ernstgenommen wurde, dass man mit einem

geringschätzigen Achselzucken über sie zur Tagesordnung überzugehen pflegte, und

dass erst der unselige November 1918 diese Musik wieder in den Vordergrund stellte.

 

Mendelssohn war, abgesehen von den Liedern ohne Worte in den Musikmappen der

höheren Töchter und von dem Chor Wer hat Dich, Du schöner Wald vor dem ersten

Weltkriege so gut wie vergessen.

 

Erst die Juden der Nachkriegszeit haben versucht, ihn endgültig unsterblich zu

machen. Machen wir uns ein für alle Ml von dieser jüdischen Suggestion los, dass der

Verzicht auf Mendelssohn eine Verarmung unserer Musik bedeute".

 

Walter Trienes, jener Komponist, welcher der nationalsozialistischen These einer

Verschwörung des Weltjudentums zur Infiltration und Vorherrschaft in der deutschen

Musik bereits eigenständig publizistisch Vorschub leistete, rezensierte am 30. Januar

1939 im „Westdeutschen Beobachter“ eine Veröffentlichung Blessingers, welche im

Jahre 1938 unter dem Titel: "Mendelssohn, Meyerbeer und Mahler: drei Kapitel

Judentum in der Musik als Schlüssel zu Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts" in Berlin

herausgegeben wurde.

 

Der Autor trachtete darin, die in "Musik und Rasse" erhobenen Theorien (Berlin 1938) in

der Folge detailliert darzulegen und zu erhärten. Dem Geiste der eigenen Publikation

und der NS-Ideologie gemäß, sekundiert Trienes dem Parteimitglied und "namhaften

Münchner Wissenschaftler und Pädagogen" Blessinger bereitwillig. Das

Hauptaugenmerk seiner Betrachtungen richtet Trienes somit auf den Komplex jener

Verschwörungstheorien, welche auf Tendenzen jüdischer Beeinflussung, Beherrschung

und Machtvervollkommnung innerhalb der deutschen Tonkunst reflektieren. Sie lassen

sich in direkter Linie erneut auf das Motiv und die Argumentationsweise von Wagners

Traktat zurückführen.

 

Trienes schreibt also:

"In den drei Hauptvertretern des Judentums in der Musik erblickt der namhafte

Münchner Wissenschaftler und Pädagoge Karl Blessinger den Schlüssel zur

Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Vielleicht tut man den Juden zu viel Ehre an,

wenn man ihnen für diese erste Zeit bereits eine zentrale Stelle einräumt, die sie (...) in

Deutschland nach dem Weltkriege mehr und mehr einnehmen konnten. Ohne Zweifel

war ihre musikalische Machtposition allerdings auch in der Romantik schon weit stärker,

als es dem flüchtigen Blick infolge der geschickten Verschleierungskünste ihrer wahren

Absichten zunächst scheinen mag.

 

Der Verfasser enthüllt uns eine Reihe dieser Tarnungsmanöver und deckt die

 

97

 

 


 

heimlichen Regietricks des Erfolgs auf, die den jüdischen Komponisten den

entscheidenden Vorsprung vor den nichtjüdischen sicherten. Mendelssohn wird ihm für

diese Taktik zu einem wichtigen Präzedenzfall. Blessinger kommt in einem besonderen

Abschnitt auf die Legende von Mendelssohns vorgeblichen Verdiensten um das Werk

Bachs zurück. (...) Aufschlußreich sind die Untersuchungen über seine Kompositionen,

über den Unterschied der Gefühlsäußerungen deutschen und jüdischen Wesens in der

Musik, den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen organischer Formgestaltung

deutscher Art und jüdischer Formkonstruktion und nicht zuletzt die Herkunft seiner

besten melodischen Einfälle."

 

24. Alles, alles wurde dem Juden zugesprochen

Der Generalsekretär des Salzburger Mozarteums Erich Valentin veröffentlichte im Jahre

1940 ein Musiklesebuch mit dem Titel "Ewig klingende Weise. Von deutscher Musik"

(Regensburg). Der Verfasser lässt darin den gebotenen Anspruch objektiv musikalischer

Betrachtungen vermissen und befleißigt sich vielmehr einer subaltern anderen Autoren

nachempfundenen antisemitischen Attitüde. Er beklagt somit, der Jude habe den

schwer um den Erfolg arbeitenden Deutschen stets um die Früchte seiner Arbeit zu

berauben verstanden.

 

Daher habe auch der Komponist Felix Mendelssohn -"Der Fremdling" -, wie die

nachfolgend wiedergegebenen Ausführungen Valentins denn auch überschrieben sind,

mit leichter Hand lediglich geerntet, was Heroen der Deutschen Musik wie Bach oder

Mozart einst mühsam gesät:

 

"In der Maske des Bettlers war er gekommen. Nun betrat er geltungsheischend die

Stufen von Theater und Konzertsaal, um über sie zu den Stufen der Throne zu

gelangen. (...) Das Zepter der Musik ergriff einer, dem das Kämpfertum wie allen seines

Blutes, die nach ihm kamen, erspart blieb: Felix Mendelssohn Bartholdy, der

Bankierssohn, dem sich Ruhm, Glück, Erfolg und Macht zuwandten. Alles, alles wurde

ihm zugesprochen, selbst das Verdienst der Erweckung Johann Sebastian Bachs. (...)

 

In mehr als einem Jahrtausend gewachsenes sollte in die Hände des ungerufenen

Fremdlings gegeben werden. An die Wurzeln des kraftstrotzenden Baumes wurde die

Axt angelegt.(...) Judentum, hiess der Fremdling. (...) Weltbürgertum und Judentum zwei

Namen für denselben Begriff -befleckten die Unantastbarkeit der ewig klingenden

Weise. Der Kampf der hundert Jahre nahm seinen Anfang."

 

Der Publizist Otto Schumann, (auf ihn soll aus gegebenem Anlass erst anlässlich einer

seiner Nachkriegspublikationen detailliert eingegangen werden), veröffentlichte im

Nationalsozialismus u. a. eine "Geschichte der Deutschen Musik" (bibliographisches

Institut, Leipzig 1940) und "Meeres Opernbuch" (ebenda, 1935).

 

Die verfestigte völkische Gesinnung Schumanns offenbart sich bereits im Vorwort der

"Geschichte der Deutschen Musik":

 

"Musik gilt dem Verfasser nicht als "tönend bewegte Form", sondern als tönender

Ausdruck eines geistigen Leitbildes. Eine deutsche Musikgeschichte hat sich somit zu

beschäftigen mit der Frage, in welcher Weise die deutsche Tonübung im Laufe der

Jahrhunderte und Jahrtausende das geistige Leitbild der deutschen Volkheit verwirklicht

hat. Es muss also der Versuch gemacht werden, nicht nur die Form, sondern vor allem

auch den Inhalt musikalischer Schöpfungen darzustellen.(...) Die Mittel dazu liefern uns

die neuzeitliche Ausdruckskunde und Rassenkunde. Während nun der Verfasser das

Ausdruckskundliche (...) mit gebotener Behutsamkeit eingearbeitet hat, wurde im

geschichtlichen Ablauf größter Nachdruck auf das rassische Grundwesen der deutschen

Tonübung gelegt.

 

98

 

 


 

Die Beschäftigung mit rassekundlichen Fragen ist (...) für den Verfasser zwangsläufig

aus der Beschäftigung mit der Tonkunst hervorgegangen: als sich auf Fragen, warum

die Tonkunst bestimmter Zeitalter (...) so und nicht anders geartet sei (...) keine

befriedigende Antwort mehr einstellte, wurde die (...) Rassenkunde herangezogen (...)

Und wenn auch das vorliegende Buch keine Rassengeschichte der deutschen Musik ist,

(...) so ist es doch eine deutsche Musikgeschichte auf rassekundlicher Grundlage."

 

Obgleich der Autor eine "zwangsläufig" aus "der Beschäftigung mit der Tonkunst"

hervorgegangene, ihm also vom Sujet schlüssig vorgegebene Erörterung amusikalisch

"rassekundlicher Fragen" beteuert, hat er in Wahrheit -neben Erich Valentin -erneut

ein Werk vorgelegt, welches die "rassekundliche" Belange bereitwillig über jene der

Musik stellte.

 

Dass das Sujet Mendelssohn unter diesen Voraussetzungen nurmehr in zersetzender

Weise zur Erörterung kommen konnte, wenngleich es nicht totgeschwiegen wurde, wie

es im Opus Müller-Blattaus geschah, verwundert kaum. Im Kapitel "Beginnender Einfluß

des Judentums" erörtert Schumann zu Beginn den "Einbruch" des "Judenproblems in

die deutsche Musikgeschichte" in der " ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" im

Allgemeinen:

 

"Nach der sogenannten Judenbefreiung tauchten sogleich in vielen künstlerischen

(...) Tätigkeitsbereichen jüdische Menschen auf, denen es gelang, in erstaunlich kurzer

Zeit erheblichen Einfluß auf das deutsche Geistesleben zu gewinnen. Namen wie der

des Popularphilosophen Moses Mendelssohn, der Schriftsteller Heine und Börne, von

Rahel Varnhagen und Henriette Herz, in deren "Salons" die geistige Welt Berlins sich

ein Stelldichein gab, kennzeichnen zur Genüge den Einbruch jüdischen Wesens in die

deutsche Welt."

 

Traditionsgemäß greift der Autor wiederum auf zentrales Wagnersches Gedankengut

zurück; der These vom Trieb jüdisch-deutschen Amalgamierens.

 

Thesen wie jene hatten sich vermittels unausgesetzter unreflektierter

Paraphrasierung zu diesem Zeitpunkt offenkundig längst zu Klischee und Stereotyp

vergröbert. Dennoch erweist sich die grundlegende Bedeutung Wagnerschen Denkens,

die Rezeption und Folgewirkung seiner von rassebiologischen Obsessionen

durchprägten Kulturtheorien, gleichsam in Vorlage, Verkündigung und posthumer

Vollendung des Konzeptes eines deutschen Radikalantisemitismus an diesem Beispiel

eindeutig. Lesen wir zuerst den Adepten des Jahres 1940:

 

"Erleichtert wurde ihnen das durch die erstaunliche Fähigkeit des Juden (...) sich

geschmeidig und schnell der besonderen Artung des Volkes anzupassen, bei dem er

lebt. Rechnet man dazu die formale Gewandtheit des Juden, seine oft verblüffend

wirkende zergliedernde (...zersetzende) Denkweise und die Fähigkeit, nicht

zusammengehörendes zu einer Schein-Einheit zusammenzudenken, so begreift man,

warum der Einfluß jüdischen Wesens sich gerade während der Romantik, dem Zeitalter

rassischer Auflösung, so mächtig durchsetzen konnte".

 

Und nun das Demagogenwort Freigedank/ Wagners aus dem Jahre 1850, welches

sowohl jene aktuell genannten, als auch im weiteren Verlaufe wiedergegebenen

Aussagen Schumanns bis ins kleinste Detail vorwegnimmt:

 

"Von nun an tritt also der "gebildete Jude" in unsrer Gesellschaft auf. (...) Der

gebildete Jude hat sich die undenklichste Mühe gegeben, alle auffälligen Merkmale

seiner niederen Glaubensgenossen von sich abzustreifen: in vielen Fällen hat er es

selbst für zweckmäßig gehalten, durch die christliche Taufe auf die Verwischung aller

Spuren seiner Abkunft hinzuwirken. (...) Von dieser Gemeinsamkeit der Natur, (...) dem

 

99

 

 


 

Zusammenhange mit seinem Stamme gänzlich herausgerissen, konnte dem

vornehmeren Juden seine eigene erlernte und bezahlte Bildung nur als Luxus gelten .

(...) Ein Teil dieser Bildung waren nun aber auch unsre modernen Künste geworden, (...)

namentlich diejenige (...), die sich am leichtesten eben erlernen lässt, die "Musik" (...)

 

Was der gebildete Jude...auszusprechen hatte, wenn er künstlerisch sich kundgeben

wollte, konnte natürlich eben nur das Gleichgültige und Triviale sein (...), unwillkürlich

horcht er auf unser Kunstwesen (...) nur ganz oberflächlich hin, (...) ihm wird daher die

gefälligste Äußerlichkeit der Erscheinungen auf unsrem musikalischen Lebens-und

Kunstgebiete als deren Wesen gelten müssen. (...) So wirft der jüdische Musiker auch

die verschiedensten Formen und Stilarten aller Meister und Zeiten durcheinander. (...)

 

Die Zerflossenheit (...) unseres musikalischen Stiles ist durch Mendelssohns

Bemühen, einen unklaren, fast nichtigen Inhalt so interessant und geistblendend wie

möglich auszusprechen (...) auf die höchste Spitze gesteigert worden." (...)

 

Es ist zwecklos, den Aufwand künstlerischer Mittel zu beschreiben, deren er

(Meyerbeer, Anm. d. V.) sich bediente,(...) genug, daß er es (...) vollkommen verstand,

zu täuschen, (...) namentlich damit, daß er jenen (...) Jargon (...) als modern pikante

Aussprache aller Trivialitäten aufheftete" (...)

 

So lange die musikalische Sonderkunst ein wirkliches organisches Lebensbedürfnis

in sich hatte, bis auf die Zeiten Mozarts und Beethovens, fand sich nirgends ein

jüdischer Komponist: unmöglich konnte ein diesem Lebensorganismus gänzlich fremdes

Element an den Bildungen dieses Lebens teilnehmen. Erst wenn der innere Tod eines

Körpers offenbar wird, gewinnen (...) ausserhalb liegende Elemente die Kraft sich seiner

zu bemächtigen, (...) um ihn zu zersetzen; dann löst sich...das Fleisch dieses Körpers in

wimmelnde Viellebigkeit von Würmern auf. (...) Der Geist (...) floh von diesem Körper

hinweg zu ( ..) Verwandtem, und dieses ist nur das Leben selbst: nur im wirklichen

Leben können wir auch den Geist der Kunst wiederfinden, nicht bei Ihrer würmerzerfressenen

Leiche."

 

Von solcher Lehre durchdrungen wendet sich Schumann nunmehr Felix Mendelssohn

zu:

 

"Felix Mendelssohn...galt eine Zeitlang als "die" Leuchte romantischen Musikschaffens

in Deutschland. (...) Nun wird niemand das außerordentliche Können Mendelssohns

bezweifeln. (...) Aber dieses formsichere Bewegen, die glatte Problemlosigkeit, dieses

schmiegsame Anpassen an Deutsches erscheinen uns verderblicher als die

rücksichtslose Selbstbehauptung des "atonalen Mißtöners" Arnold Schönberg, der ja

gleichfalls Jude ist. (...)

 

Wie immer war das süße Gift gefährlicher als das bittere: Mendelssohns süßliche

Schönmusik schmeichelte sich (...) in Ohr und Herz, (...) und so liess man sich in einen

Dornröschenschlaf singen und ist mancherorts (...) ein wenig ungehalten, daß der

weckende Prinz mit den Dornen und Spinnweben auch die Röslein zerhauen hat.

 

Die fast ein Jahrhundert währende Mendelssohn-Schwärmerei ist umso

unbegreiflicher, als zu allen Zeiten Männer aufstanden, (...) denen seine Musik allzu

glatt erschien. (...) Der Fehler lag wohl darin, daß man sich mit der Feststellung des

"Allzu-Glatten" zufrieden gab, (...) nicht weiter forschte, welche Rückschlüsse sich

daraus ziehen lassen. Hätte Mendelssohn eine Musik geschrieben, die seiner

rasseseelischen Beschaffenheit entsprach, dann könnte sich vielleicht das Judentum

eines grossen Komponisten rühmen Da er aber solchen echten Stil nicht aufzubringen

vermochte, erschöpfte er sich in Nachbildung deutscher Eigentümlichkeiten. Diese

wiederum konnte er aus rassischen Ursachen nicht von innen erfassen. (...)

 

100

 

 


 

So erklärt sich das bloß Gefällige seiner Musik, ihre fließende Glätte und mangelnde

Tiefenwurzelung (...) Mendelssohn erschaute die künstlerischen Fragen seiner Zeit mit

wachem Verstand und kühlem Herzen; das konnte er, weil sie ihn als Fremdrassigen im

Grunde nicht bewegten. (...) Da sein Geschmack ohne Zweifel geläutert war, gelangen

ihm Werke, deren glatte, gefeilte Außenseite ihm zu Unrecht den Namen eines

deutschen Meisters eingetragen haben."

 

Werfen wir noch einen Seitenblick auf die Schumannsche Betrachtung der Komponisten

Giacomo Meyerbeer und Jacques Offenbach sowie auf dessen Bestreben, der

Wagnerschen Prämisse vollgültig zu entsprechen:

 

"Als Gegenstück zu ihm schrieb der Jude Meyerbeer bald in deutschem, bald in

französischem und bald in italienischem Stil, mischte auch wohl die drei Stilarten

durcheinander. (...) Wer (...) so haltlos auf die Ausdrucksweise verschiedener Nationen

schaut, ohne seinen eigenen, geschweige denn den Stil seiner Rasse zu finden, der

mag wohl vorübergehend als theaterdonnernder Zeus angehimmelt werden (...)

 

Mendelssohns wohlerwogene Beschränkung auf das Nachempfinden und

Nachahmen eines volkischen (des deutschen) Stils hatte immerhin zur Folge, daß sein

Werk länger zu wirken vermochte. (...) Meyerbeers Verzettelung auf die Nachahmung

mehrerer Volksstile hat ihn schneller gerichtet. (...)

 

Der in Deutschland geborene Offenbach aber meisterte musikalisch den

französischen Witz wie ein Pariser aus Paris. Wiederum also diese fast unheimliche

Einfühlungsgabe des Juden bei gleichzeitiger Preisgabe jeglichen rassischen Eigenstils"

 

Am Ende des Kapitels steht Schumanns Bemühen, den Volksgenossen in nahezu

beschwörendem Tonfall darzulegen, warum eine Musik, die erklärtermaßen "schön" ist,

keineswegs "schön" sein darf. Dabei setzt er wie etliche Vorläufer das Element

umfassend gepflogener Spekulation gegen die Anforderungen von Objektivität,

Stichhaltigkeit, wissenschaftlicher Erkenntnis.

 

Das vielschichtig konstruierte, sprachlich gedrechselt und gewundene Wagnersche

Thesengebäude erfährt durch die Ausführungen des Adepten respektive die dabei

nahezu eins zu eins vorgenommene Übertragung einer musikalischen "Problemstellung"

in eine rein völkische denkbar größte Banalisierung in Form und Inhalt. Die Definition,

welche Art von Musik ein rassisch "echter" Stil Mendelssohns oder "rassischer Eigenstil"

möglicherweise hervorgebracht hätte, bleibt der Autor hingegen vollends schuldig.

 

"Ein rassisch gesundes und (...) rassebewusstes Volk würde Erscheinungen wie

Mendelssohn, Meyerbeer und Offenbach (...) ohne besondere Gefahren ertragen

können. (...) Aber das 19. Jahrhundert war eben ein Zeitalter rassischen Verfalls, in dem

die natürlichen Widerstandskräfte erlahmten. (...) Die aus seiner Anpassungsfähigkeit

entspringende Begabung des Juden, beachtenswerte nachschaffende Leistungen

hervorzubringen, wurde (...) als Beweis für musikalische Kultur betrachtet. (...) Wohin

das geführt hat, ist bekannt: das Judentum in Deutschland hat nicht eine einzige

musikalisch-schöpferische Persönlichkeit hervorgebracht, wohl aber den "Betrieb" mit

Dirigenten, Sängern und Spielern weitgehend beherrscht und entdeutscht.

 

Das muss gerade denjenigen vor Augen gehalten werden, die auch heute noch eine

Ehrenrettung Mendelssohns und seiner Musik versuchen. Nicht darauf allein kommt es

an, ob jemand die Töne kunstvoll und liebenswürdig zu setzen weiss (das verstand

Mendelssohn wirklich), sondern auf den Geist und die Haltung seines Werkes. Sie erst

machen das Wesen eines Kunstwerks aus. (...) Wollte ein deutscher, italienischer oder

französischer Musiker von Rang hingehen und ausschließlich "im jüdischen Stil"

komponieren, so würde er sich bei seinen Volksgenossen lächerlich und verächtlich

 

101

 

 


 

machen. Mit dem gleichen Recht betrachten wir den Juden, der sich in der Nachahmung

anderer erschöpft, als lächerlich, verächtlich - und gefährlich. Auch Mendelssohn."

 

Karl Blessingers "Judentum und Musik" erfuhr im Jahre 1944, in Zeiten kontinuierlich

erfolgenden militärischen Rückschlags der Deutschen Wehrmacht auf nahezu allen

Kriegsschauplätzen und regulären Bombenterrors gegen Deutsche Städte, eine

inhaltlich erweiterte Wiederauflage und erreichte somit eine Gesamtzahl von 24 000

Exemplaren. Das beweist, allen nach 1945 erfolgten Beteuerungen vermeintlich

kollektiver Unwissenheit von Rassenwahn und Pogrom zum Trotze, den auch gegen

Kriegsende anhaltenden Bedarf an ideologischem und "rassekundlichem" Schrifttum,

die unausgesetzte Aufnahmebereitschaft für einschlägige Indoktrination.

 

Der Rezensent Erwin Völsing hebt in der Zeitschrift "Musik im Kriege" denn auch

wohlwollend hervor, dass das "wohltuend klar und stets fesselnd geschriebene Buch (...)

neue wichtige Erkenntnisse und höchst aufschlußreiche Ergebnisse historischer

Forschung" vermittle. Blessingers Thesen konform streicht auch der Rezensent einen

lobbyistisch herbeigeführten, zersetzenden Einfluß des "jüdischen" Klassikers

Mendelssohn demagogisch hervor:

 

"Wie gefährlich die vom Judentum mit allen Mitteln einer geschäftstüchtigen Reklame

herbeigeführte angesehene Stellung Mendelssohns sich auswirken konnte, ist uns

heute eindeutig klar geworden. (...)

 

Hatte sich Mendelssohn als Kapellmeister fast ständig am Geist der Deutschen Musik

vergangen, (...) so war auch sein kompositorisches Können von den Juden und einer

"kraftlos gewordenen deutschen Bürgerlichkeit" maßlos übertrieben eingeschätzt

worden".

 

Im gleichen Jahre des totalen Krieges 1944 veröffentlichte der als Musikreferent des

Stiftes St. Ingbert im Saarland tätige Musikologe Albert Georg Niklaus die Studie "Liszt Schumann

-Mendelssohn" im Hahnefeld Verlag in Berlin, welcher auch Blessingers

"Judentum und Musik" herausbrachte. Da die Studie in der gleichen Edition

kulturtheoretischer Betrachtungen erschien wie Blessingers "Judentum", jenes inhaltlich

in Behandlung vermeintlicher semitischer Infiltration Robert Schumanns und

biedermeierlichen Musiklebens gar vertiefte, wurde sie der Leserschaft in einer Anzeige

mit folgenden Worten angekündigt:

 

„Niklaus zeigt treffend die jüdische Einflußnahme auf das Deutsche Musikleben am

Beispiel der Geschichte der "Neudeutschen Schule" und des Liszt-Wagner-Kreises.

 

Dieses bewegte Kapitel deutscher Musikgeschichte ist ein weiterer Baustein zu der

von Blessinger begonnenen Forschungsarbeit zum Thema Judentum und Musik."

 

Intermezzo IV:

Die "Hohe Schule" I: kulturelle Neuordnung –

nicht nur für Europa, sondern für die Welt

 

 

Im Jahre 1940 wurde der konzeptionellen Grundstein zur Errichtung eines gigantischen

Projektes nationalsozialistischer Bildungspolitik gelegt, dessen Struktur und Systematik

unmittelbar auf „Führerbefehle“ („FB“) Adolf Hitlers zurückgingen. Mit der Umsetzung

war Rosenberg beauftragt, der sich seit dem Jahre 1937 mit Vorbereitungen des

Projektes getragen hatte

 

102

 

 


 

Die so genannte "Hohe Schule" sollte, Rosenberg zufolge, „die Spitze der gesamten

Erziehungsarbeit für die „NSDAP“ (...) bilden, praktisch somit eine geistige Erziehungsund

Lenkungszentrale für das ganze Deutsche Volk" sein.

 

Neben der Errichtung einer Zentralbibliothek aller in Deutschland und Europa

konfiszierten Schriften „weltanschaulicher Gegner“, beinhaltete das Projekt vor allem die

Gründung übergeordneter Institute und Fachbereiche der parteikonformen

akademischen Elite. Die Niederlassungen der Institute sollten sich ursprünglich über das

gesamte Reichsgebiet erstrecken. Aufgabe derselben war einzig die ideologischeKomprimierung und Transformation europäischen Wissens hin zur Überhöhung einer

rassisch-hybriden, alleingültigen sozialdarwinistisch-faschistischen Überzeugung und

Lehre. Die Bibliothek wurde zu Beginn des Jahres 1939 in Berlin gegründet, das

Zentralinstitut sollte in einem monumentalen Neubau im Chiemgau angesiedelt werden;

des weiteren Fachbereiche und Dependancen in namhaften deutschen Städten.

Wesentlichstes Anliegen der „Führerbefehle“ war die Errichtung eines Institutes zur

Abhandlung der Jüdischen Frage.

 

Es erstand im März des Jahres 1941 als erste Fachschaft der Hohen Schule in der

Stadt Frankfurt am Main. Ein "Führerbefehl" vom 2. April wies Rosenberg zur

Ausweitung der hiesigen „Fachbibliothek der Judenfrage“, "errichtet „nicht nur für

Europa, sondern für die Welt“, an.

 

Dem Befehl zufolge, sei „das Material, (...) unerwartet viel Material", * welches der

Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg („ERR“) Juden und freikonfessionellen

Vereinigungen besiegter europäischer Länder fortwährend raubte, „zu

Forschungszwecken“, hinsichtlich einer „weltanschaulichen, politischen und kulturellen

Neuordnung Europas nach Kriegsende“ („FB“ v. 2.4.1940) sämtlich der „Hohen Schule“

zuzuleiten. (zitiert nach de Vriess, dessen Buch "Sonderstab Musik" die Informationen

zur „Hohen Schule“ entnommen sind)

 

Da die "Hohe Schule" hierarchisch in „Kerngebiete“ (Biologie, Anthropologie,

Rassenlehre, indogermanische Geistesgeschichte, Erforschung der Judenfrage,

Theologie etc.) und „Randgebiete“ (Philosophie, Bildende Kunst, Ostforschung,

Erziehungswissenschaft, Geschichte, Theater etc.) untergliedert wurde, kam es erst im

April des Jahres 1943 zur Institutionalisierung eines Fachbereiches der "Hohen

Schule" in der Kategorie 8 mit dem Titel " Schule Sachgebiet Musik." Die Niederlassung

erfolgte im Gebäude der ehemaligen höheren israelitischen Schule in Leipzig, die

Institutsleitung hatte Dr. Phil. Habel. Herbert Gerigk inne. In einem Schreiben an den

Magistrat Leipzigs berief sich Rosenberg dezidiert auf „den traditionsreichen Ruf,

gerade auf musikalischem Gebiete“.

 

Ein Ruf, der ja, wie man seinerzeit im Amte Rosenberg und in der Stadt Leipzig längst

ignorierte oder vergaß, in dezidierter Ausprägung und Vollendung seinerzeit dem

Wirken Mendelssohn Bartholdys zu verdanken war.

 

25. Das Lexikon der Juden in der Musik

Im Jahre 1940 beauftragte die "Hohe Schule" in der Person des Amtsleiters Alfred

Rosenberg die "Hauptstelle Musik" der „DBFU“ Alfreds Rosenbergs („Dienststelle des

Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und

weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“) mit der Realisierung eines

Buch- und Rassenprojektes; einer Enzyklopädie musikalischen Judentums.

 

103

 

 


 

Infolgedessen legte ein Team promovierter Musikwissenschaftler (Wolfgang Boetticher,

Dr. Marlise Hansemann, Dr. Herrmann Killer, Dr. Lily Vietig-Michaelis, Teophil Stengl)

noch im gleichen Jahre das "Lexikon der Juden in der Musik -Mit einem

Titelverzeichnis jüdischer Werke" vor. Als Supervisor und Herausgeber fungierte der

Leiter der „Hauptstelle Musik“ sowie des „Amtes Musik im Einsatzstab Reichsleiter

Rosenberg“ („ERR“) als auch des Sachbereichs Musik der späteren "Hohen Schule" in

Leipzig, Dr. Phil. Habil. Heinz Gerigk.

 

(Die Aktivitäten und Wirkungsbereiche der genannten Institutionen lassen sich oftmals

kaum voneinander trennen, da es sich ja stets um den Arbeitsstab Gerigk handelte)

 

Die Publikation firmierte als Band 2 der „Veröffentlichungen des „Institutes der NSDAP

zur Erforschung der Judenfrage“ („IEJ“) in Frankfurt, dem erwähnten Gründungsinstitut

der „Hohen Schule“. Allein das von Gerigk verfasste Vorwort liest sich wie eine

Bekenntnisschrift pathologischen Rassenwahns. So war die „Reinigung unseres Kultur-

und (...) Musiklebens von allen jüdischen Elementen (nunmehr) erfolgt.“

 

Da „von unserer Seite ja nicht eine Verewigung der jüdischen Erzeugnisse geliefert

werden“ sollte, verzichtet das Lexikon folgerichtig „auf Werkverzeichnisse und

erschöpfende bibliographische Angaben". Da „die berühmtesten Sängerinnen für die

jüdische Rasse“ widerrechtlich beansprucht würden, ließen „die Namensänderungen

und die Gepflogenheiten vieler Juden, (...) die vorgeschriebene polizeiliche Meldepflicht

nicht zu vollziehen“, die Bemühungen „zu überprüfen“ bis „an die Schwelle der

Gegenwart (...) langwierig werden."

 

Das Lexikon listet in dem sich über 2 Seiten hin erstreckenden (selbstverständlich mit

Bindestrich versehenen) "Felix Mendelssohn-Bartholdy"-Eintrag den einschlägig

vertrauten, im Tonfall lediglich nochmals verschärft vorgebrachten Katalog stereotyper

Mendelssohndiffamierungen auf. Ferner halten spezifisch neuwertige Absurditäten; pure

Behauptungen, Umkehrungen historisch verbürgter Tatsachen aufgrund verfälschter

authentischer Dokumente Einzug in denselben. Ohne das die Ausführungen einem

einzelnen Mitarbeiter durch Namensnennung oder Sigle zuzuordnen wäre, ist im

einzelnen u. a. zu lesen, das Felix Mendelssohn „bekanntlich einer reichen jüdischen

Bankiersfamilie entstammte, (...) der „Mendelssohnkultus bereits zu Lebzeiten von einer

grossen Zahl von Rassegenossen entfacht wurde, (...) die Lieder ohne Worte (...) die

deutsche Romantik, die in ihren Anfängen eine starke Hinneigung zum Volkstum und

(...) deutscher Innerlichkeit gezeigt hatte (...) verwässert(en).“ Der Beitrag zitiert

ausführlich aus Wagners „Judenthum“ und verweist auf die (verfälschten)

Tagebuchaufzeichnungen Robert Schumanns, von denen anschließend noch die Rede

sein wird.

 

Bemerkenswert ist darüber hinaus ein Konstrukt, gebildet aus Originalzitaten Carl

Friedrich Zelters und geschichtsfälschenden Rückverweisen auf das Wirken der Berliner

Singakademie Zelters, welches Felix Mendelssohn jedweden Verdienst um die

seinerzeitigen Neubewertung der "Matthäus-Passion" abspricht.

 

Es heisst dort also:

"Daß der Verdienst dieser wegweisenden Bachaufführung M. gebühre, der wohl als

einziger die wahre Grösse des Barockmeisters begriffen habe, ist eine Verfälschung

geschichtlicher Tatsachen. (...)

 

 

104

 

 


 

Aus den Darstellungen Alfred Morgenroths und Georg Schünemanns geht einwandfrei

hervor, daß das Verdienst um das Zustandekommen dieser Aufführung fast

ausschließlich Karl Friedrich Zelter gebührt , der (...) die (...) Singakademie (...) zu einer

in ihrer Art damals einzig dastehenden Stätte der Bachpflege (gemacht hatte. So (...)

erhielt (...) Mendelssohn durch die Teilnahme an den Proben die entscheidenden

Anregungen. So konnte er ohne viel eigenes Zutun an die Aufführung der

Matthäuspassion gehen, zumal Zelter die hierzu erforderlichen Proben meist selbst

leitete und ausserdem seinem Schüler dirigiertechnische Anweisungen gab. Hierüber

schrieb (Zelter) an Goethe 1829: "Felix hat die Musik unter mir eingeübt und wird sie

dirigieren, wozu ich ihm meinen Stuhl überlasse".

 

Gerigk, dem es bereits vor seiner Ernennung zum NS-Funktionär niemals gelang, eine

akademische Berufung zu erlangen, blieb – nachdem er sich als Dienststellenleiter des

 

III. Reiches exponiert hatte – eine akademische Karriere auch nach 1945 versagt.

Einer Tätigkeit als Musikfeuilletonist der „Dortmunder Ruhr Nachrichten“ stand

indessen nichts entgegen. Auch nicht der Umstand, nunmehr Musik rezensieren zu

müssen, welche er wenig zuvor als „zersetzend“, „jüdisch, „kulturbolschewistisch“

apostrophierte; ja beruflich mit Musikern zusammenzutreffen, welche er zuvor zur

„schnellsten Ausmerzung (...) aus unserem Kultur- und Geistesleben“ freigegeben hatte.

 

26. ...das Benehmen Mendelssohns, daß er als Director angesehen werden wolle

Der junge Musikwissenschaftler Wolfgang Boetticher, der im Jahre 1941 an der

Universität Berlin mit einer Arbeit über Robert Schumann promovierte, betätigte sich in

den Jahren 1940 und 1942 als Herausgeber von Schumanns Tagebuchaufzeichnungen

und Briefen und Co-Autor des 1940 herausgegebenen "Lexikon der Juden in der Musik Mit

einem Titelverzeichnis jüdischer Werke." Bestärkt von wohlwollenden Beurteilungen

seines Vorgesetzten in der "Hauptstelle Musik" der „DBF“ Alfreds Rosenbergs, Heinz

Gerigk: war er "seit 1.12.1937 als Referent in der Hauptstelle Musik tätig und (...) hat

sich in dieser Zeit stets als ein ausgezeichneter Sachkenner und als instinktsicherer

Nationalsozialist bewährt. (...) Wie mir berichtet worden ist, hat Boetticher den gesamten

Umkreis der Robert Schumann-Forschung unter Berücksichtigung unserer

weltanschaulichen Haltung durchgearbeitet, und ist (...) zu wertvollen Ergebnissen

gelangt, die das Schumann-Bild (...) neu gestalten." (29.3.1940; zit. nach de Vriess,

"Sonderstab Musik")

 

Was verhalf dem jungen Wissenschaftler zu diesen, von Gerigk so wohlwollend

hervorgehobenen, gleichsam unverhofft erbrachten "wertvollen Ergebnissen" und der

"Neugestaltung des Schumann-Bildes", welche zur Vervollkommnung der

"weltanschaulichen Haltung" des Nationalsozialismus so trefflich geeignet schienen?

 

Boetticher verfälschte Schumanns Tagebucheintragungen, Erinnerungen und Briefe an

Felix Mendelssohn Bartholdy durch Hinzufügung oder Unterlassung einzelner Worte

oder Sätze und verlieh ihnen somit einen Tonfall antisemitisch-motivierten Vorbehaltes

Schumanns gegen den Freund und Musikerkollegen Felix Mendelssohn.

 

105

 

 


 

Zur Veranschaulichung dessen folgende Gegenüberstellung eines authentischen sowie

von Boetticher manipulierten Zitates. Robert Schumanns Autograph: "Seine

(Mendelssohns) Gedanken üb(er) das Conservatorium, daß er namentlich den Musikern

auch einen Verdienst zuweisen wollte", "Gründung des Conservatoriums und sein

Benehmen dabei, daß er nie als Direktor angesehen werden wollte."

 

Von diesem Zitat verbleibt in der Publikation Boettichers von 1940/42: (...) "Gründung

des Conservatoriums und sein Benehmen dabei, daß er (...) als Direktor angesehen

werden wolle."

 

Erst der Rückgriff auf die im Jahre 1947 anläßlich des 100. Todestags Mendelssohns

vom Robert Schumann-Archiv in Zwickau zur Verfügung gestellten Autographen

vermochte es, die von Gerigk, Boetticher und Dr. Lila Vietig-Michaelis lancierte

Erkenntnis nachhaltig aufzuheben:

 

"Auch Robert Schumann zählte keineswegs zu den bedingungslosen Bewunderern

(...), wie lange geglaubt wurde. Aus den (...) erstmalig veröffentlichten Notizen (...) und

Briefen geht deutlich hervor, daß Schumann von Anfang an der Erscheinung

Mendelssohns kritisch gegenübergetreten ist". ("Lexikon der Juden in der Musik")

 

Boetticher diente dem Nationalsozialismus auch als Mitarbeiter des „Sonderstabs

Musik“ des Amtes Rosenberg zu systematischer Erfassung und Konfiszierung der

kulturellen Hinterlassenschaften geflohener oder ermordeter Juden in besetzten

Gebieten und Mitglied der Waffen-SS. Dennoch machte er nach 1945 als

Musikwissenschaftler und Publizist hochrangig Karriere in den Positionen: Dozent,

Professor und Dekan der Universität Göttingen (1955/57/72), Gastdozent an den

Universitäten Cambridge und Oxford (1952-72), Kurator der Staatl. Hochschule f. Musik

Hannover (1958), Gastdozent an der Karls-Universität Prag (1963). Daneben erhielt er

die Möglichkeit u. a. zu folgenden Veröffentlichungen: Gesamtausgabe der Klavierwerke

Robert Schumanns/ Henle Verlag München, Essays, Zeitschriftenartikel, Beiträge in

Handbüchern und Enzyklopädien, Nachrufe etc. Boetticher arbeitete nach seiner

Emeritierung weiterhin als Hochschullehrer und musikwissenschaftliche Kapazität an

der Universität Göttingen, bis im Jahre 1999 wachsende Aufarbeitung seines Wirkens

im „III. Reich“ auf internationaler Ebene die Suspendierung von aller Lehrtätigkeit

erwirkte.

 

Intermezzo V:

Juden bleiben Juden. Oder: Von den Ehetagebüchern des Robert Schumann

 

 

Als Glücksfall anzusehen ist es angesichts jener Umtriebe, daß in den 40ziger Jahren

des 20. Jahrhunderts der Schumann-Forschung offensichtlich noch nicht alle schriftliche

Hinterlassenschaften des Musikerehepaares Clara und Robert Schumann zur Edition

und Auswertung zur Verfügung standen.

 

Wie hätten nationalsozialistische Funktionäre der Hauptstelle Musik wie Gerigk und

Boettcher triumphiert, wenn sie anlässlich ihrer Publikationen, auf authentische,

unverfälschte Aussagen Schumanns hätten zurückgreifen können, welche den

Komponisten als offenkundigen Antisemiten und Mendelssohngegner zu bezeugen

geeignet wären.

 

106

 

 


 

Die Musik-und Frauenwissenschaftlerin Beatrix Borchard zitiert in ihrer im Jahre 1985

veröffentlichten Studie "Robert Schumann und Clara Wieck -Bedingungen

künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" eine Passage aus den

Ehetagebüchern, welche bis dahin unveröffentlicht geblieben war und ein zeitweiliges

tiefes Zerwürfnis zwischen dem Künstlerehepaar dokumentiert, in welches Felix

Mendelssohn mental einbezogen wurde:

 

"Clara sagte mir, daß ich gegen Mendelssohn verändert schiene, gegen ihn als Künstler

gewiß nicht -das weißtest Du -hab` ich doch seit vielen Jahren so viel zu seiner

Erhebung beigetragen, wie kaum ein Anderer. Indes -vergessen wir uns selbst nicht zu

sehr dabei. Juden bleiben Juden; erst setzen sie sich zehnmal, dann kömmt der Christ.

Die Steine, die wir zu ihrem Ruhmestempel mit aufgefahren, gebrauchen sie dann

gelegentlich, um auf uns damit zu werfen. Also nicht zuviel, ist meine Meinung. Wir

müssen auch für uns thun und arbeiten. Vor allem laß uns nur immer dem Schönen und

Wahren in der Kunst nahe kommen" (Robert Schumann, Ehetagebücher, 8.-15.11.1840,

Autograph)

 

Vor welchem Hintergrund müssen diese beschämenden, unverhohlen die antisemitische

Vorurteile dieser Zeit reflektierenden Äußerungen rezipiert werden? Obgleich man

Robert Schumann als Herausgeber der „NZfM“ stets einen latenten, auf Besprechungen

des Meyerbeerschen Opernschaffens abzielenden Verbalantisemitismus nachsagt,

lagen ihm radikalantisemitische Positionen -jenen der Jungdeutschen Bewegungvergleichbar -denkbar fern. Über jeden Zweifel erhaben waren die privat und beruflich

gepflegten Beziehungen der Familie Schumann zu dem Komponisten, Musiker und

Musikfunktionär Felix Mendelssohn, wie die in den Jahren 1835 -47 im Tonfall einer

nachgeradezu hymnischen Verehrung niedergeschriebenen Gedenknotizen Schumanns

eindeutig belegen. (Vergl. dazu Arnd Richter, Mendelssohn -Leben, Werke,

Dokumente, Piper -Schott 1994, s. 313-17) Die Behauptung, er, Robert Schumann,

habe als Autor und Herausgeber der „NZfM“ maßgeblich zur Protektion des

Komponisten Mendelssohn beigetragen, kann als Zeichen der Selbstüberschätzung und

puren Wunschdenkens genommen werden, da Mendelssohn seit den Zeiten

wiedergewonnener Matthäus-Passion und Düsseldorfer Generalmusikdirektorats als

Komponist und Dirigent derer nicht mehr bedurfte.

 

Nun, die Äußerungen resultieren aus einer Situation vermeintlicher Zurücksetzung,

welcher sich Schumann als mindererfolgreicher Komponist in den Jahren 1840ff

ausgesetzt sah. Voller Eifersucht sah er, dass die den Schumanns gewidmete

öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschließlich seiner Frau, der gefeierten Pianistin

Clara Schumann galten, während seine Kompositionen vor allem im kleinen Kreise von

Kennern und Liebhabern rezipiert wurden. Somit sind unausgesetzte Versuche

wissentlich oder unwillkürlich begangener Herabminderung der Interpretin Clara

Schumann nachweisbar. Schumann widersetzte sich hartnäckig allen Bestrebungen

Claras, überregionale oder europäische Konzerteinladungen anzunehmen, stellte das

Metier des Komponierens dem des Konzertierens als erhaben gegenüber, mäkelte

fortwährend an ihrer Spielweise und Interpretation herum. Legendär die Befürchtung

des Komponisten, ob ihr Hausstand denn die Bereitstellung und professionelle

Betätigung zweier Flügel zu kompensieren in der Lage sei.

 

107

 

 


 

Clara Schumann indes war durch all diese innerfamilliär verübten Widrigkeiten Mobbing

würde es im Sprachgebrauch unserer Tage heissen -zutiefst verunsichert

worden und nahm vom Gedanken öffentlichen Konzertierens mehr und mehr Abstand.

 

Allein in der Person und Begegnung Mendelssohns fand sie Hilfestellung in dieser

ausweglosen Lage. Jener bestärkte sie in der Position einer musikalisch autonom

rezipierenden und handelnden Interpretin, leitete sie freundschaftlich auf ihrem Wege

zurück auf das lange gemiedene Podium des Gewandhauses und überwand durch

persönliche Fürsprache stetig Schumanns Widerstände gegen das Projekt neuerlicher

Konzertreisen. Schumann sah durch das persönliche Verwenden Mendelssohns

offensichtlich das künstlerisch kurzzeitig in Händen gehaltene Heft sich neuerdings

entgleiten. Er reagierte sich quasi durch genannten, auf Mendelssohn als

Hauptschuldigem an Claras neugewonnenen musikalischen Mute, abzielenden Anwurf

schriftlich ab. In jenem Affekt, welcher für Schumanns labilen Gemütszustand vor allem

in späteren Jahren symptomatisch und berüchtigt war.

 

In jenem Affekt, welcher auch für zahlreiche massive Verbalinjurien Wagners und von

Bülows unmittelbar verantwortlich zeichnete. Während ersterer, durch Cosima Wagners

getreuliche Aufzeichnungen von "Tischgesprächen" in der Verkündigung von

Gewaltrhetorik seine Verewigung erfuhr, sah sich jener ja genötigt, im Alter manches

vorher gesagtes zu relativieren oder gar zu konterkarieren.

 

Ein neues Feld wiederum eröffnen die im Jahre 1847 getätigten, abfälligen,

unerträglichen Bemerkungen Schumanns, welche man Mendelssohn offenkundig

zugetragen hatte und ihn zum endgültigen Bruch mit dem Kollegen veranlaßten. In

einem Brief an den Dichter und Freund Karl Klingemann beklagte sich Mendelssohn,

Schumann "habe sich sehr zweideutig gegen ihn benommen und ihm eine recht

häßliche Geschichte eingerührt, die ihn in seinem Eintreten für Schumann sehr

abgekühlt habe. Mehr wissen wir nicht" (Dahms, S. 94) Ob Schumann sich neuerdings

im Affekt zu radikalantisemitisch munitionierten Schmähungen gegen den ungleich

erfolgreicheren Kollegen Mendelssohn hatte hinreißen lassen und in seinem Wirken

von diesem nicht hinreichend gewürdigt fand? Ob er sich vom beruflich überlasteten und

in den letzten Lebensmonaten kräftemässig rapide abbauenden Mendelssohn

persönlich hintangesetzt fühlte und im Kollegen- oder Freundeskreise darüber beklagte?

 

Ob er sich der musikalischen Öffentlichkeit gegenüber mißbilligend über ein Werk aus

der letzten Schaffensperiode Mendelssohns geäußert hatte? Was immer es konkret

gewesen sein mag, es wäre eine eigene Untersuchung wert.

 

27. Denkmalspflege; nationalsozialistisch

Ein in der Anonymität verbliebener Zeitzeuge gab im Nachhinein zu Protokoll, was

Leipziger Bürger explizit von einem Vorfall wahrnahmen, dessen Inszenierung sich

„insgeheim“ abspielte, dessen Wirkung aber offenkundig wurde. Wann, in welchem

Zusammenhang, auf welcher Behörde der Bericht gegeben wurde, ist nicht angegeben.

Das Leipziger Stadtarchiv hat ihn in der Sammlung StV u R, Nr. 8617, Bl. 12 der

Nachwelt überliefert.

 

108

 

 


 

„Am Morgen des 10. November raunte es in Leipzig einer dem anderen zu, die

Mendelssohn-Statue sei in der Nacht von ihrem Sockel gerissen und die allegorischen

 

Figuren losgewuchtet worden; der Granitsockel sei in Stücke zertrümmert. Die ganze

Nacht hätten die Preßlufthämmer gerattert und gedröhnt, um den massiven Sockel samt

seinem Unterbau zu zerstückeln und die Stätte dem Erdboden gleichmachen zu

können. Man habe die Absicht gehabt, die Stelle als Blumenbeet anzulegen und Gras

über den Standort wachsen zu lassen, um jede Spur zu tilgen. Das Fundament habe

sich aber bis zur Morgendämmerung nicht mehr herausstemmen lassen, so daß man

sich begnügen musste, die Stelle mit Kleinsteinpflaster zu befestigen, das allerdings den

Standort nicht verheimlichen konnte."

 

Erste Stimmen seitens der NS-Administration, welche die Beseitigung des

Mendelssohn-Denkmals vor dem alten Gewandhause einforderten, erhoben sich im

Frühjahr 1936, also genau 3 Jahre nach der Machtergreifung.

 

So schrieb die Kreisleitung der „NSDAP“ Leipzig in Person des Beauftragten Leiters des

Kulturamtes Eckert an den Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Dr. Carl Friedrich

Goerdeler z. H. des Leiters des Kulturamtes, Stadtrat August Hauptmann am 8. Mai d.

 

J. 1936:

"Aufgrund verschiedener Beschwerden bei uns fühle ich mich verpflichtet; sie darauf

hinzuweisen, dass das vor dem Gewandhaus aufgestellte Denkmal des VollblutjudenMendelssohn-Bartoldie öffentliches Ärgernis erregt. Die Leipziger Bevölkerung, die zum

weitaus grösstenteil gut nationalsozialistisch denkt, ist der Auffassung, dass dieser Jude

in „Erz" besser in einem Museum aufzubewahren wäre: Ich bitte Sie als Beauftragten

Leiter des Kulturamtes beim Rat der Stadt Leipzig zu erwirken, dass dieses Denkmal

entfernt wird..."

 

Dies war der Auftakt einer Kampagne seitens Leipziger NS-Gremien, welche die

endgültige und kompromißlose Beseitigung des "Juden" Felix Mendelssohn aus dem

Stadtbild zum Ziele hatte. Einmal mehr zeigt sich, wie sehr sich das Regime in allen

Lebensbereichen in diesen 3 Jahren bereits verfestigt hatte. Die Forderung nach

publicityträchtiger Entfernung eines Monumentes wie des Leipziger Mendelssohn-

Denkmals wagte das Regime zu Anfang nicht. Es beschränkte sich im Jahre 33ff vorerst

auf die Beseitigung der regimefeindlichsten Ehrentafeln, Strassennamen etc.

 

Noch hatte man beispielsweise auf die Reaktionen des Auslandes Rücksicht zu

nehmen. Nun, nach stetiger Verfestigung der Machtvollkommenheit der NS-

Administration, kündigte sich mit der Forderung nach Beseitigung des Mendelssohn-

Monumentes aber eine zweite radikalisierte Welle der Denkmalszerstörung an. Diese

brachte deutschlandweit die Zerstörung öffentlicher Mahnmale und Gedenkstätten an

Juden und Regimegegnern mit sich. Die Forderung nach Beseitigung des Mendelssohn-

Monumentes erhob und vollzog sich zeitlich analog der zunehmenden Verdrängung des

Mendelssohn-Werkes von Konzertpodien und aus den Hochschulen.

 

3 Wochen nach dem erwähntem ersten Schreiben an Stadtrat August Hauptmann

verlangte der Kulturbeauftragter der Kreisleitung der „NSDAP“ Eckert in einem weitern

Schreiben verschärften Nachdrucks, unter Ankündigung des Hinzuzugs weiterer NS-

Stellen in Sachen Forderung nach Denkmalsentfernung. So schreibt er am 27. Mai 1936

also:

 

109

 

 


 

"Bei dieser Gelegenheit teile ich Ihnen mit, dass ich mich des Weiteren mit dem Kreis-

Propagandaleiter Pg. Krüger in Verbindung gesetzt habe, damit auch von dieser Seite

das Notwendige veranlaßt werden kann."

 

Die Stadt Leipzig in der Person des Stadtrates August Hauptmann kündigte daraufhin

"eine sehr genaue Prüfung der Angelegenheit" an.

 

In einer Sitzung des Stadtrates vom 19. Juni wurde schliesslich der Vorschlag

unterbreitet, das Mendelssohn-Denkmal abzutragen und an dessen Stelle die Statue

eines anderen "bedeutenden deutschen Musikers" (Sitzungsprotokoll) zu errichten. Das

Sitzungsprotokoll führt des weiteren an:

 

"Oberbürgermeister Dr. Goerdeler erklärt diesen Vorschlag für prüfbar. Man werde im

Herbst in die Prüfung eintreten. Dann müsse aber auch das Mendelssohn-Denkmal auf

anständige Weise beseitigt und anständig untergebracht werden."

 

Dr. Goerdeler erwies sich als erklärter Gegner einer Kulturschändung durch Abriß des

Mendelssohn-Denkmals. Durch die Ankündigung eines längerwierigen

Prüfungsverfahrens seitens der Stadt Leipzig vermochte er es somit, etwas Zeit

gegenüber den lokalen NS-Einrichtungen zu gewinnen. Zeit welche er benötigte, um

Verbündete auf höherer Parteiebene in Berlin in Sachen Erhalt des Mendelssohn-

Denkmals zu gewinnen. Der NS-Beauftragte für „jüdische Kulturfragen“, Hinckel, sprang

Goerdeler schliesslich bei und teilte ihm mit: "er könne auch im Namen von Goebbels

und damit im Namen Hitlers sagen, dass das Denkmal stehen bleiben solle. Solche

Bilderstürmerei würde nicht gewünscht." (Aufzeichnung Goerdeler a. d. Nachlass)

 

Daraufhin erklärte Dr. Goerdeler im Namen der Stadt den Erhalt des Denkmals, sehr

zum Ärger des nationalsozialistischen 2. Bürgermeisters Rudolf Haake; des

entschiedensten Goerdeler-Gegners und erklärten Mentors eines Denkmalabrisses.

 

Am 16. September d. J. 1936 erschien in der Leipziger Tageszeitung ein Pamphlet,

welches sich unter dem Titel "Um jüdische Musik und das Denkmal eines Juden"

öffentlich für die Beseitigung des Denkmals einsetzte.

 

Es heisst darin u. a.:

 

"Bei uns aber, in der Öffentlichkeit, ist die Existenz des Denkmals eines Juden auf

die Dauer eine Unmöglichkeit. Dem dürfen weder Gründe der Pietät, noch rein

künstlerische Erwägungen entgegenstehen. Solche Pietät und solche Erwägungen

gehören nicht mehr in unsere Zeit, die in ihren Entscheidungen ausschließlich den

Stimmen des Blutes und des völkischen Gewissens zu folgen hat".

 

Der Chefredakteur der Leipziger Tageszeitung rechtfertigte die Veröffentlichung des

Pamphlets in einem Schreiben vom 16. September 1936 an Dr. Goerdeler

folgendermaßen:

 

"Ich habe die Glosse erst nach langen und ernsten Überlegungen in die Zeitung

gebracht. Ich glaubte aber um die öffentliche Diskussion dieser Frage nicht mehr

herumzukommen, nachdem ich (...) schon seit langem aus Kreisen der

Altparteigenossenschaft mit mehreren Zuschriften bedacht worden war. Nachdem mir

jetzt gedroht wurde, die Angelegenheit dem "Stürmer" zu übergeben, der eine recht

sensationelle Sache daraus gemacht hätte, zog ich es doch vor, die Sache in der

Tageszeitung zu behandeln.

 

110

 

 


 

Die Dinge liegen nicht einfach so, dass der einfache Mann es nicht begreift, wenn ihm

immer wieder gesagt wird, es bestehe kein Unterschied zwischen guten und schlechten,

wertvollen und minderwertigen Juden und er auf der anderen Seite sehen muss, dass

ein Denkmal stehen bleibt mit der Begründung: Die Musik dieses Juden sei eine

wertvolle.

 

Wir müssen in diesen Dingen gerade im Hinblick auf den kleinen Mann konsequent

sein. Ich glaube, dass die vorgeschlagene Lösung, das Denkmal dem jüdischen

Kulturbund zur Verfügung zu stellen, auch dem Ausland gegenüber den Vorwurf

etwaiger Bilderstürmerei abmildern wird."

 

Haake machte sich den öffentlichen Druck, den die Behandlung der Forderung nach

Beseitigung des Mendelssohn-Denkmals in der Leipziger Presse nach sich zog,

zunutze. Er insistierte bei Goerdeler erneut auf eine Vernichtung desselben. So schrieb

er an Dr. Goerdeler im Jahre 1936 im Rückblick auf die Ereignisse:

 

"Ich sah in dieser Anfrage nur ein Abschieben der Verantwortung auf die

Reichsregierung, weil Sie selbst aus ihrer inneren Einstellung zur Judenfrage heraus

diese Verantwortung nicht glaubten tragen zu können."

 

Haake entschloß sich, nach dem letzten ablehnenden Entscheid Goerdelers zum

Thema der Denkmalsbeseitigung, zu eigenmächtigen Handeln bei der nächsten sich

bietenden Gelegenheit. Er schrieb wiederum im Rückblick auf die Ereignisse: "...war ich

fest entschlossen, bei der nächsten geeigneten Gelegenheit (...) zu handeln und die

Verantwortung zu übernehmen. Mein Gewissen als Nationalsozialist liess in dieser

Frage keinen Kompromiß mehr zu."

 

Im November 1936 weilte das London Philharmonic Orchestra unter der Leitung des

berühmten englischen Dirigenten Dirigent Sir Thomas Beecham einige Tage in Leipzig,

um im dortigen Gewandhaus zu konzertieren. Beecham dürfte der einzige Dirigent

internationalen Ranges gewesen sein, der mit dem NS-Musikbetrieb im Rahmen

aufwendiger Operngesamtaufnahmen wie jener reichsdeutschen "Zauberflöten"Produktion

kooperierte. Möglicherweise gab also eine ideologische Verbundenheit des

Künstlers zu Positionen des Regimes beiderseits den Ausschlag zur Realisierung des

zu diesem Zeitpunkt bereits außerordentlichen Gastspielvorhabens eines englischen

Klangkörpers auf faschistischen Territorium. Strittig scheint zu sein, an welchem Tag

das Orchester im Gewandhaus vor das Leipziger Publikum trat, da diesbezüglich von

einander abweichende Aussagen vorliegen. Entscheidend hingegen ist, daß es im Zuge

des Leipzigbesuches des Orchesters zum Abbruch des Mendelssohn-Denkmals durch

die NS-Administration kam.

 

Der Zeitzeuge Kurt Sabatzky schilderte die Umstände des Besuches und der

Denkmalsvernichtung später folgendermaßen:

 

"Etwa 2-3 Jahre vor dem Krieg unternahm das Londoner Philharmonische Orchester

unter Leitung von Sir Thomas Beecham eine Kontinental-Konzertreise, die es auch nach

Leipzig führte. Sir Thomas fragte vorher bei Goerdeler an, ob es wohl erwünscht sei,

wenn er mit einer Abordnung seines Orchesters am Mendelssohn-Denkmal eines Kranz

niederlege. Im Hinblick darauf, daß Mendelssohn eine besondere Brücke im Musikleben

von Leipzig nach London geschlagen habe.

 

111

 

 


 

Goerdeler erklärte darauf, daß er eine solche Ehrung begrüssen würde.

Unglücklicherweise befand sich Goerdeler zurzeit des Konzertes, das einen grossen

Erfolg für die Londoner Philharmoniker darstellte, gerade auf Urlaub." (Meine

Erinnerungen an die Nationalsozialisten, Manuskript Nr. 3015 im Archiv von The Wiener

Library, London)

 

Als Beecham, Sabatzky zufolge, am darauf folgenden Morgen also von Mitgliedern des

Orchesters begleitet, vor dem Mendelssohn-Denkmal einen Kranz niederlegen wollte,

musste er feststellen, daß es verschwunden, genauer, auf Befehl Rudolf Haakes in der

Nacht abgetragen und im Keller eines öffentlichen Gebäudes zerschlagen worden war.

Haake hatte somit, gemeinsam mit dem Ratsherrenältesten Otto Wolf die Gunst der

Stunde, die Abwesenheit Dr. Goerdelers genutzt und nächtlings zugeschlagen.

Hinsichtlich der Abwesenheit Dr. Goerdelers, welche das Denkmals Attentat, verübt

durch subalterne Magistratsmitglieder ja erst ermöglichte, irrt Sabatzky allerdings in der

Begründung derselben: Dr. Goerdeler befand sich zu diesem Zeitpunkt keineswegs im

Urlaub; vielmehr kam er durch eine Reise nach Skandinavien diplomatischen

Verpflichtungen nach.

 

Schwerlich erstaunlich, daß eine Berichterstattung des Vorfalls in der damaligen

Presselandschaft nahezu ausblieb; das Ausland, genauer: das "Allgemeen

Handelsblad" in Amsterdam führte es in einer Meldung vom 18.11.1936 u. a. auf eine

Anweisung Dr. Goerdelers an die Leipziger Lokalpresse zurück, den Vorfall in der

Berichterstattung zurückzuhalten.

 

Die Position Dr. Goerdelers war, angesichts offener Insubordination untergeordneter

Magistrats-und Parteigremien, welche ideologische Belange über die Richtlinienkompetenz

des Stadtoberhauptes erhoben, somit nahezu unhaltbar geworden. Nirgends fand

er Rückhalt bei den Forderungen, die eigenmächtige Untergrabung der

Richtlinienkompetenz des Oberbürgermeisters durch untergeordnete oder externe

Gremien zu ahnden und das Mendelssohn-Denkmal auf Kosten der Partei

wiederherstellen zu lassen. Etwa 14 Tage nach Abbruch des Denkmals reichte Dr.

Goerdeler seinen Rücktritt vom Amte des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig ein. Er

begründete diesen Schritt mit der mangelnden Entschlossenheit des Magistrats und

übergeordneter Behörden wie des sächsischen Innenministeriums "den offenbaren

Ungehorsam meines Vertreters so zu ahnden, wie ich es verlangen musste, wenn

meine Autorität gewahrt werden sollte. Also hatte ich Folgerungen für meine Person zu

ziehen. Sie konnten nur in dem Antrag bestehen., mich aus meinem Amte zu

entlassen."

 

Im Jahre 1944 faßte Dr. Carl Friedrich Goerdeler in einer Niederschrift im Gefängnis den

Rücktrittsentschluss rückblickend noch einmal folgendermaßen zusammen:

 

"Damals führte ich den klaren Entschluß aus, nicht die Verantwortung für eine

Kulturschandtat zu übernehmen. Mendelssohns Lieder haben wir alle mit Entzücken

gehört und zum Teil gesungen, ihn zu verleugnen wäre feige und lächerlich gewesen.

 

Aber ich hoffte im Stillen, eines Tages wieder in reiner Luft dem Vaterlande dienen

zu können. Auch dafür und für die Stellung des deutschen Volkes im Ausland wollte ich

meinen guten Namen wahren. Vor aller Welt hatte ich mit meinem Abschied gegen den

Sturz des Mendelssohn-Denkmals protestiert und so wurde dies auch überall

aufgefaßt."

 

112

 

 


 

Dr., Carl Friedrich Goerdeler fiel 9 Jahre nach den Vorgängen der Denkmalsschändung

als führender Widerständler den Hinrichtungen, die dem 20. Juli 1944 folgten, zum

Opfer.

 

Der Dirigent Fritz Busch, der sich als Generalmusikdirektor des Dresdner Staatstheaters

der geforderten Entlassung jüdischer Künstler verweigerte und 1935 emigrierte,

kommentiert diesen Vorgang in seinen Lebenserinnerungen mit wenigen eindringlichen

Worten:

 

”In Vertretung Arthur Nikischs habe ich wiederholt im Gewandhaus dirigiert, an jener

klassischen Stätte edelster Musikpflege, auf die Deutschland stolz sein durfte, bis man

Felix Mendelssohns Denkmal und den Geist deutscher Kultur von dort entfernte”.

 

28. Ein nordischer Sommernachtstraum

Partiell erwies sich die befohlene Verneinung der Werke Mendelssohns als

unrealistisch, gemessen an den Bedürfnissen alltäglichen kulturellen Lebens: Wie wären

die zahlreichen Gesangsvereinigungen des Landes der Pflege längst ins

Allgemeinmusikgut eingegangener Chorsätze zu entheben gewesen? Nachhaltig aus

dem Geiste der hohen Romantik hervorgegangene Kanzonen, welche in formeller

Schlichtheit Eichendorff -Zeilen wie: ”O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald,

du meiner Lust und Wehen andächtger Aufenthalt...” in vollkommener Übereinstimmung

von Wort und Musik interpretierten. Verboten als Entwürfe eines “vorderasiatischorientalischen

Juden" (Eichenauer, Musik und Rasse, München 1937), wie die völkische

Rassenlehre Felix Mendelssohn einstufte.“ ?

 

Der Nationalsozialismus fügte sich der Verbundenheit der Liedertafel zu Mendelssohns

Chorwerk schliesslich und wies an: daß man den Vortrag dieser Sachen weiterhin

gestatte, allerdings hätten die Chöre zu verschweigen, wer sie komponiert hatte.

 

Das Theater sah sich durch das Verbot der romantischen Bühnenmusik zu

Shakespeares Komödie "Ein Sommernachtstraum" erheblichen Problemen ausgesetzt.

 

Da jene im Bewusstsein des Publikums mit der Dichtung kongenial einherging und

der Rückzug der Musik die Aufführungszahlen des Shakespeare-Stücks zeitweise

deutlich minimierte. So vermelden die Shakespeare-Jahrbücher des Jahrgangs 1933

nur noch 11, des Jahres 1934 20, des Jahres 1935 wiederum 11, des Jahrgangs 1936

13, des Jahrgangs 1937 12, des Jahrgangs 1938 17, des Jahrgangs 1939 17 und des

Jahrgangs 1940 bereits 20 "Sommernachtstraum"-Produktionen an deutschen

Theatern. Auffällig ist die gegen Ende der Dreißiger Jahre leicht ansteigende Anzahl

von Produktionen. Dies muss unmittelbar mit den nachfolgend detaillierter

beschriebenen Versuchen um Ersatzlösungen für Mendelssohns verfemte Komposition

zusammenhängen. In den ersten Jahren des Regimes behalfen sich die Theater,

welche den Rückgriff auf Mendelssohns Schauspielmusik nicht mehr wagten, oftmals

mit diversen Kompilationsmusiken, welche aus Barockmusikvorlagen oder romantischer

Klaviermusik zusammengestellt wurden.

 

Zwar hatte es bereits in den zwanziger Jahren einige, rein künstlerisch motivierte

Versuche gegeben, das Shakespeare Stück in einem anderen musikdramaturgischen

Kontext als jenem Mendelssohns zu setzen.

 

113

 

 


 

Schauspielmusikkompositionen von August Halm und Alexander Laszlo, von dem

Dirigenten und Komponisten Bernhard Paumgartner im Jahre 1924 für Wien, von

Christian Lahusen im Jahre 1925 für Otto Falckenberg in München, und von Ernst

Krenek für den Dichter und Intendanten Hugo Hartung und die Heidelberger Festspiele

des Jahres 1926 erarbeitet, sind überliefert. Aber diese Kompositionen müssen den

diversen Kulturfunktionären des NS-Regime entweder stilistisch oder hinsichtlich Person

und Abkunft der Komponisten mißfallen haben. Oder wurden seinerzeit über ihren

lokalen Wirkungsbereich hinaus schlichtweg nicht wahrgenommen. Jedenfalls ist von

einem Rückgriff auf diese Musiken anlässlich von "Sommernachtstraum"-Aufführungen

des "III.-Reiches" nichts bekannt.

 

Bereits im Jahre 1934 wurden indes erste Versuche unternommen, die verfemte

Mendelssohn-Schauspielmusik durch Neukonzeptionen und Surrogate zu ersetzen.

 

Kam anlässlich der "Sommernachtstraum"-Vorstellung der Naturbühne Märkisches

Museum vom 12. Juli 1934 die Begleitmusik noch von der Grammophonplatte - Titel und

Stil derselben wurden nicht überliefert -; so wurde am 20. Juli 1934 bei den

Heidelberger Festspielen ein erster Rückgriff auf Barockmusik von Henry Purcell

vorgenommen. Friedrich Baser forderte in einem Kommentar in der Zeitschrift "Signale

für die musikalische Welt" vom 5. September 1934 denn auch behende die zeitgerechte

Kreation eines "nordischen" Shakespeare-Stiles gegen die südöstliche"

("vorderasiatisch-orientalische"?!) Dominanz einer "semitischen" Felix Mendelssohn-

Ästhetik aus der Romantik ein:

 

"Hier fiel der Musik die bedeutsamste Aufgabe zu, und schon die Wahl des

Komponisten musste nach neuen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Galt es

doch, statt der sinnlich-prächtigen Musik südöstlicher Farbe, wie sie durch

Mendelssohns Komposition ein Jahrhundert lang restlos das Feld beherrscht hatte,

einen nordischen "Sommernachtstraum" erstehen zu lassen".

 

Ein fortwährender, auch über das Jahr 1934 hinaus bestehender, Rückgriff auf

Kompilationen wurde dauerhaft als unbefriedigend empfunden. Somit suchten NS-

Organisationen wie das "Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda" in Person

des Ministers Dr. Joseph Goebbels und der "Volkskulturbund Kraft durch Freude" in

Person des Reichsorganisationsleiters Dr. Robert Ley, Komponisten ersten und zweiten

Ranges zur einer definitiven Neukomposition des "Sommernachtstraums" anzuregen.

 

Der Komponist Edmund Nick war der erste, der im Zuge der eingeforderten

Neukomposition in arischem Auftrage Hand an das "Sommernachtstraum"-Sujet legte.

 

Nick verdingte sich dem Regime auch als "Bearbeiter" "rassisch" verfemter

Musikvorlagen; umgewandelt in "arisch" unbedenkliche Fassungen im Auftrage der

„Reichsstelle für Musikbearbeitungen“ und ihres Leiters GMD Dr. Heinz . Da er, wie er

im Jahre 1964 in einem Brief an Fred Prieberg schilderte, im Zuge dessen offenkundig

"die Mendelssohn Musik sowie das "Elfenlied" von Hugo Wolf studiert hatte" konnte sein

Werk nur wenig befriedigen. Zahlreiche Theaterkritiker waren sich noch des

Mendelssohnschen Originals bewusst. Der Rezensent Fritz Stege gab in der Zeitschrift

Berliner Musik in der Oktoberausgabe des Jahres 1934, nach der Premiere von Nicks

Komposition, welche am 15. September des Jahres 1934 im Grossen Schauspielhaus in

Berlin über die Bühne ging, denn auch zu bedenken:

 

"Man mag gegen Mendelssohn auch berechtigte Bedenken vorzubringen haben, so

lässt sich nicht leugnen, dass Mendelssohn den Zauber des Waldes in einer Weise

eingefangen hat, die im Stimmungsinhalt einmalig bleibt.

 

114

 

 


 

Von Mendelssohn hätte Nick lernen können, wie man dem Wesen der dramatischen

Vorlage gerecht zu werden vermag, ohne sich auf die Abwege musikalischer

Geistreicheleien oder trivialer Salonmusik zu begeben. Ich möchte es dahingestellt

lassen, wen von beiden der Vorwurf der Sentimentalität mit größerer Berechtigung trifft.

 

Wobei ausserdem noch festzustellen bleibt, dass Mendelssohns so genannte

"Sentimentalität" gar nicht in seinem Wesen, sondern nur in der Fälschung des

Aufführungsstils nachzuweisen ist. Nein: zum Sommernachtstraum gehört nun einmal

Mendelssohns Musik. Es gereicht keinem Bearbeiter zur Ehre, dieses künstlerische

Meisterwerk anzutasten."

 

Bemerkenswert an Steges Ausführungen ist nicht allein ein gewisser publizistischer Mut

-wie eingangs dargelegt, war es angesichts indifferenter Richtlinienerfahrungen

zahlreicher Musiker und Publizisten in den ersten Jahren des Regimes allerdings noch

gefahrloser, für Mendelssohn einzutreten als in späterer Zeit. Mehr noch dessen klarer

Hinblick auf die Verfälschung von Mendelssohns Werk durch eine, dem Musizieren in

breitem spätromantischen Stil verhafteten Idiom - ein Umstand, auf den allein Karl-Heinz

Köhler in späteren Jahren umfassend verwies.

 

Stege, ein erklärter Nationalsozialist, Verfechter der Rassenlehre, Parteimitglied und

„KfdK-Genosse“, versuchte später, nach Kriegsende, in „BRD“-Zeiten, sein Plädoyer für

Mendelssohns "Sommernachtstraum"-Musik, also eine vergleichsweise harmlose

publizistische Aktion in Zeiten nationalsozialistischer Kompetenzwirren, als exorbitante

Heldentat zu deklarieren. So schrieb er am 7. Juni 1966 an Fred Prieberg:

 

"Vergessen ist, daß ich mehrfach Kopf und Kragen riskiert und mit einem Fuß im KZ

gestanden habe, als ich den Mut aufbrachte, 1934 öffentlich für Mendelssohn

einzutreten (,..) .gegen den gesamten Völkischen Beobachter ein

Ehrengerichtsverfahren einzuleiten usw. Und niemand wird je eine Ehrenrettung für

mich wagen:"

 

Immerhin wurde Fritz Stege in seinem Eintreten für Mendelssohns Musik, gegen Nicks

Surrogatkomposition des "Sommernachtstraum"-Sujets, von Rezensenten wie Karl

Heinz Ruppel unterstützt. Jener schrieb in seinem Artikel "Sommernachtstraum im

Herbst" im Hamburger Fremdenblatt vom 19. September 1934 u. a.:

 

"Die kongeniale Inspiriertheit der von Goethe so hochgeschätzten

"Sommernachtstraum"-Musik des jungen Mendelssohn vermag Nick nicht zu ersetzen."

 

Ende September 1934 erfuhr der "Sommernachtstraum" Premiere im Stadttheater

Hagen, mit einem vom Solokorrepetitor Kurt Nichterlein vorgelegten Carl-Maria von

Weber-Arrangement.

 

Bemerkenswert dabei bleibt der erneute Versuch, stilistisch und dramaturgisch in der

von Mendelssohn mustergültig definierten Aura romantischen Waldeszaubers zu

verbleiben, ohne Mendelssohn spielen zu müssen.

 

Im Herbst des Jahres 1934 eröffnete der Leiter der Musikabteilung der „NS-

Kulturgemeinde“ („NSKG“) und Reichsschriftleiter Friedrich W. Herzog eine erneute

Initiative seitens der NS-Machthaber, renommiertere Komponisten zur arisch-definitiven

Neukomposition des Sujets zu bewegen.

 

115

 

 


 

Das Ersuchen erging somit unter anderem an die Komponisten Werner Egk, Gottfried

Müller, Hans Pfitzner, Rudolf Wagner-Regény, Julius Weismann und Winfried Zillig.

 

Herzog sekundierte dem Ansinnen, eine Musik zu initiieren, welche Mendelssohns

Schauspielmusik endgültig verdrängen und ersetzen sollte, publizistisch in dem Aufsatz

"Eine neue Musik zum "Sommernachtstraum" vom 2. November 1934. Dabei offenbart

er unmittelbar den Zwiespalt eines völkisch bewegten traditionsbewußten deutschen

Bildungsbürgers. Jener trug die Konventionen des deutschen Theaters und Musiklebens

und somit auch die Beziehung zum überkommenen verehrten Shakespeareoeuvre "des

Juden" Felix Mendelssohn tief in sich und konnte, aller Versuche nationalsozialistischer

Autosuggestionen zum Trotze, schwerlich gänzlich vom tradierten musikalischen Vorbild

loskommen:

 

"Wenn die NS-Kulturgemeinde (...) als ersten Kompositionsauftrag eine neue Musik

zu Shakespeares "Sommernachtstraum" bestellt, so will sie damit gleichzeitig einen

durch die nationalsozialistische Revolution herbeigeführten "Notstand" beseitigen. Denn

die Musik Mendelssohns ist im Dritten Reich mit den unumstößlich und kompromißlos

gültigen Gesetzen von Primat der Rasse und des Blutes nicht mehr zu verantworten.

Diese Musik ist genialisch, aber unbeschadet ihrer musikalischen Werte ist sie für eine

völkische Kulturbewegung untragbar."

 

Hans Pfitzner wies es vermittels knapper Mitteilung auf einer Postkarte zurück: "Es gibt

bereits eine hervorragende Musik zum "Sommernachtstraum!" und gab in späteren

Jahren seinem Biographen Ludwig Schrott zu Protokoll:

 

"Denken Sie, man ist an mich herangetreten und wollte, daß ich den

"Sommernachtstraum" neu komponieren solle, weil die jüdische Mendelssohn-Musik

nicht mehr tragbar sei. So etwas ist doch eine Gemeinheit! Ich habe diesen Burschen

aber heimgeleuchtet. Mendelssohns "Sommernachtstraum" habe ich erklärt, ist

schlechthin kongenial, eine Leistung, die der Schlegel-Tieckschen Shakespeare-

Eindeutschung gleichkommt. Ich wäre nie in der Lage, eine bessere Musik zum

"Sommernachtstraum" zu schreiben als Mendelssohn."

 

Gleichzeitig verwies Pfitzner auf den Umstand, allen späteren anders lautenden

rechtfertigenden Beteuerungen von "Sommernachtstraum"-Komponisten des III.

Reiches zum Trotze, das man einen entsprechenden Kompositionsauftrag

zurückweisen konnte, ohne Gefahr für Besitz, Leib und Leben zu laufen.

 

Werner Egk verwahrte sich somit des Kompositionsansinnens "mit einem gewissen

Vergnügen mit dem Hinweis auf" (seine) "Bewunderung der musikalischen

Ausdrucksfähigkeit des jungen Mendelssohn, (...) was um diese Zeit ohne schlimme

Folgen wohl möglich war."

(Brief an Fred Prieberg vom 6.7.1964)

 

Rudolf Wagner-Régenyi indes liess sich zur Komposition einer "Sommernachtstraum"Musik

verleiten. Wagner-Régenyi wird als Komponist heute nurmehr marginal

wahrgenommenen , machte aber nach dem Kriege in der DDR eine gewisse Karriere;

beispielsweise als Professor für Komposition in Ostberlin.

 

Möglicherweise haben einige Vorleistungen des Regimes den Ausschlag zu dieser

Entscheidung, den „Sommernachtstraum“ „arisch“ zu komponieren, gegeben.

 

So ist von Zusagen, die Rede, das Werk nach der Vollendung mit Garantiertheit im

„NSKG“-eigenen Musikverlag herauszubringen; des weiteren von der ersten

 

116

 

 


 

Veröffentlichung einer Wagner-Régenyi-Biographie mit dem Titel "Rudolf Wagner-

Régenyi. Bildnis eines Schaffenden", erschienen in der Musikalischen Schriftenreihe der

NS-Kulturgemeinde, mit welcher der Komponist geködert wurde. Auch war der Auftrag

mit einem Honorar von 2000 RM lukrativ dotiert.

 

Wagner-Regenyi versuchte nach 1945 die Willfährigkeit zu kaschieren, mit welcher er

mit dem Regime in der Person des musikalischen Leiters der „NSKG“, F. W. Herzog

kooperierte. So schrieb er u. a.:

 

Die "Sommernachtstraum"-Musik war ein (peinlicher) Auftrag (...) Zu Shakespeare ist

die Musik niemals gespielt worden." (Brief Wagner-Regenyis an Fred Prieberg vom

30.10.1963)

 

Wagner-Regenyis Bemühungen um eine definitive musikalische Neufassung des Sujets

parallel, erging ein entsprechender Auftrag auch an den Komponisten Julius Weismann.

 

Beide Kompositionen erfuhren ihre konzertante Uraufführung in der zweiten Hälfte

des Jahres 1935 anlässlich der „Reichstagung der Nationalsozialistischen

Kulturgemeinde“ („NSKG“) und ernteten nur verhaltene Zustimmung seitens des

Theaterbetriebes und der Presse. So schrieb der Rezensent W. Wesselhoeft in der

„Kölnischen Zeitung“, Abendblatt vom 7. Juni 1935 über Wagner-Regényis

"Sommernachtstraum"-Opus:

 

"Seine Musik ist bewusst grob, holzschnittmässig, mit einfacher, dicker Linienführung

und stark rhythmisch betont. Die zarten Farben, das Mondlicht, die Poesie fehlen; (...)

So bleibt das Werk im wesentlichen trocken und ohne Reiz."

 

Wesselhoefft fordert somit entschieden eine Rückkehr des Theaters zur bewährt-

romantischen Aufführungstradition ein, freilich ohne den Namen Mendelssohn zu

erwähnen. Dies beweist einmal mehr, wie tief das Verständnis des

"Sommernachtstraum"-Stoffes in Deutschland von der musikalischen Auffassung Felix

Mendelssohns geprägt und verwurzelt war.

 

Ähnlich erging es der Komposition Weismanns: Anläßlich ihrer Bühnenpremiere im

Stadttheater Freiburg vom 20. Oktober 1935 schrieb der Rezensent A. Weber am 11.

März 1936 in erneutem Rückverweis auf das übermächtig im Bewusstsein der

damaligen Zeit verankerte Mendelssohnsche Original:

 

"So hocherfreulich die Arbeit ist - und sie wird immer als wertvoller Beitrag zu diesem

Thema gewertet werden müssen -, so vermag sie doch nicht die Erinnerung an das

vollkommenere Vorbild zu verwischen."

 

Wagner-Regenyis "Sommernachtstraum"-Musik wurde am 1. Oktober 1935 im Theater

Harburg-Wilhelmsburg erstmalig im Zusammenhang mit einer Bühnenproduktion des

Stücks aufgeführt und ab dem Jahre 1938 u. a. von den Theatern in Gießen, Gotha-

Sonderhausen und Oldenburg übernommen. Es stimmt einfach nicht, dass dieselbe "zu

Shakespeare niemals gespielt wurde".

 

Weismanns Komposition entwickelte sich Fred Prieberg zufolge nahezu zum

Erfolgsstück und wurde von zahlreichen Theatern -so dem Stadttheater Hanau, dem

Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin und der Freilichtbühne Birten bei Xanten nachgespielt.

 

 

117

 

 


 

Ungeachtet eines anfänglich verhalten vorgebrachten Presseechos frohlockte die

„NSKG“ angesichts des erfolgreich vollbrachten "Neuanfangs" bühnenmusikalischer

"Sommernachtstraum"-Rezeption sowie des allgemeinen Durchbruchs, welche vor allem

die Weismann-Komposition noch in dem Jahre ihrer Uraufführung in die Theaterpraxis

erfuhr.

 

So schrieb Rudolf Sommer in dem Aufsatz "Aus der Musikarbeit der NS.Kulturgemeinde"

im "Deutschen Musikjahrbuch" des Jahres 1937:

 

"Diese beiden Bühnenmusiken sind geeignet, den Juden Mendelssohn abzulösen."

 

F. W. Herzog versuchte nach Kräften, die von ihm in Auftrag gegebenen Kompositionen

Wagner-Regenyis und Weismanns bei weiteren Bühnen unterzubringen, in der

Hoffnung diese könnten sich als allgemeingültig im Theatergebrauch etablieren. Da sich

zahlreiche Theater Herzogs Bemühungen entzogen und weiterhin auf Lösungen

setzten, welche auf Barockmusik, beispielsweise auf Werke Purcells zurückgriffen,

unterstellte er den Intendanten in versteckter Anspielung die Sabotage

nationalsozialistischer Erneuerungsbestrebungen. Quasi den konspirativen Rückzug

auf das bewährt historische Terrain und dadurch möglicherweise die heimliche

Solidarisierung mit dem kulturellen Erbe eines Felix Mendelssohn.

So schrieb Herzog in "Die windgeschützte Ecke" vom 6. März 1937:

 

"Unser völkisches und sittliches Empfinden macht es uns (…) unmöglich, ein Werk

wie Shakespeares "Sommernachtstraum" mit jüdischer Begleitmusik zu ertragen. (...)

Nun gibt es aber zahlreiche Theaterleiter, die aus Gründen, denen nachzugehen zu weit

führen würde, die neue Musik von vornherein ablehnen und sich lieber in die

windgeschützte Ecke der Vergangenheit zurückziehen. Der alte Engländer Purcell wird

plötzlich aus dem Historienschrein hervorgeholt und hergerichtet."

 

Nach dem Kriege versuchte auch der ehemalige „Reichsschriftleiter“ F.W.Herzog,

zahllosen Repräsentanten und Mitläufern des Regimes vergleichbar, sich vermittels

Behauptungen, Verdrehungen und Unterdrückung von Fakten der Verantwortung für

nationalsozialistisches Tun -in diesem Falle ein erklärtes Bemühen um Ausmerzung

des "Juden" Mendelssohn aus dem Kontext deutschen Kulturlebens - zu entziehen.

 

So konstatiert er im Rückblick auf die an Rudolf Wagner-Régenyi und Julius

Weissmann ergangenen Kompositionsaufträge in einem Schreiben an Fred Prieberg

vom 20. Dezember 1964:

 

"Ich kannte beide Komponisten seit Jahren und wußte, daß sie gute Arbeit leisten

würden.

 

Nachdem Herzog einmal den Anstoß zur "arischen" Neuvertonung der Shakespeare-

Komödie gegeben hatte, drängten zahlreiche Theaterintendanten und Regisseure ihre

Hauskomponisten zu eigenen Neukompositionen. Das Phänomen gemahnt unmittelbar

an die Flut antisemitischer, mendelssohnverächtlicher Musikpublizistik, welche nach der

Initialzündung des Leipziger Denkmalabbruchs im November 1936 so übermäßig

einsetzte.

 

So schrieb der Komponist Alfred Irmler eine Schauspielmusik für das Deutsche

Nationaltheater Weimar, die Uraufführung erfolgte am 24. November 1935.

 

Der Komponist rechtfertigte sich im Jahre 1964 in einem Schreiben an Fred Prieberg

vom 4. Mai:

 

118

 

 


 

"Ob diese Musik nun mit oder ohne Auftrag geschrieben wurde, ist unwesentlich (...) Der

"Sommernachtstraum" reizt immer wieder die Komponisten, dazu die Musik zu

schreiben. (...) Das hindert mich nicht, die Schönheit der Mendelssohnschen

"Sommernachtstraum " Musik voll und ganz anzuerkennen. Ich bin 1935 als Dirigent der

Meininger Kapelle noch für sie eingetreten, trotz des Widerstandes der Parteistellen."

 

Am 9. Oktober 1935 erfuhr am Landestheater Coburg eine "Sommernachtstraum"-Musik

die Premiere, welche Werner Creutzburg, seinerzeit als Kapellmeister und

Schauspielmusiker am Theater Trier tätig, geschrieben hatte.

 

Robert Tants, Direktor der Schauspielmusik am Münchner Residenztheater,

komponierte das Sujet für eine dortige Hausproduktion, die Premiere erfolgte am 7. Juli

1936.

 

Die Waldbühne Tannenkamp in Hannoversch-Gmünden bemühte Musiken für Streicher

von diversen nichtgenannten Komponisten des 16. Jahrhunderts und setzte darüber

hinaus Waldhornbläser ein. Die Premiere erfolgte am 13. August.

 

Hier nun eine Aufzählung weiterer Neukompositionen und deren Komponisten der Jahre

1936 ff; (Aufzählung nach Fred Prieberg):

 

Festspiele der Naturbühne Luisenburg in Wunsiedel, Komponist Paul Oskar, Premiere

am 29. August; Schauspielhaus Hamburg, eine Reprise der Musik von Edmund Nick,

Premiere am 5. Dezember; Schauspielhaus Hannover; Komponist Siegbert Mees, die

Premiere erfolgte an Sylvester des Jahres 1936, die Produktion blieb über 2 Jahre Im

Spielplan; Schauspielhaus Düsseldorf, dort konfigurierte Heinz Vogt altenglische Musik,

die Premiere fand im Februar 1937 statt; Neues Theater Leipzig, dort bezog man sich

wiederum auf Purcells Musik zu "The Fairy Queen" und beauftrage den Musiker Hans

Stieber mit einer shakespearetauglichen Bearbeitung derselben; Premiere war am 26.

Februar 1937.

 

Zahlreiche Intendanten siedelten das Shakespeare-Stück in den Jahren 1934 -37

dramaturgisch exemplarisch im Historizismus oder der Romantik an und verschlossen

sich neueren Sichtweisen hinsichtlich einer historisch wohl korrekteren,

volkstümlicheren Deutung gänzlich aus der Rüpel-und Zotensprache bzw. einer Ebene

unausgesetzter, derber sexueller Anspielungen des Shakespearischen Originals heraus.

 

Möglicherweise verbarg sich dahinter tatsächlich der Versuch von

Theaterintendanten, sich den Zumutungen unausgesetzter Eingriffe von Parteiorganen

in die künstlerischen Belange und somit der notwendigen künstlerischen Freiheit des

Theater nahezu konspirativ zu entziehen, wie F. W. Herzog es seinerzeit vermutete.

 

Jener Rückzug in eine von F. W. Herzog beargwöhnte "windgeschützte" Ecke also.

Die Musik Mendelssohns stand ihnen bei dem Bemühen, dem Stück die überlieferte

romantische Aura deutscher Aufführungstradition zu bewahren, allerdings nicht mehr

zur Verfügung.

 

Das Ersuchen der Intendanten an Musiker des „III. Reiches“, ein quasi

Mendelssohnsches Surrogat im romantischen Stil nachzuschaffen, verlief aber oftmals

gegen Ethos autonomen Komponierens jener Musikschaffenden. So blieb erneut nur

wieder der Ausweg der Bearbeitung von Vorlagen originärer, "rassisch unverdächtiger"

Romantiker wie jene Carl-Maria von Webers.

 

119

 

 


 

So erinnerte sich der später auch als Filmkomponist hervorgetretene Bernhard Eichhorn

im Jahre 1967 Fred Prieberg gegenüber eines seinerseits ergangenen

Kompositionsauftrages:

 

"Im Jahre 1937 wollte der damalige Intendant der sächsischen Landesbühne (…) auf

der Freilicht-Felsenbühne bei Rathen (…) den "Sommernachtstraum" aufführen. Da die

Mendelssohnsche Musik im tausendjährigen Reich verboten war, bat er mich, eine neue

romantische Musik dazu zu schreiben. Gut -man kann durchaus eine neue Musik

schreiben, die modern ist und dem eigentlichen -englischen Charakter dieses Werkes

in seiner naturhaften -stellenweise bösen -Spukhaftigkeit dramaturgisch mehr

Rechnung trägt als eine romantische. Jedoch, man wollte durchaus eine "romantische".

Die Ehrfurcht vor der nun wirklich genialen Musik Mendelssohns verbot es mir, eine

eigene romantische Musik zu schreiben. Ich verfiel auf den Ausweg, aus (...)

Klavierkompositionen Carl Maria von Webers eine der Mendelssohnschen

einigermaßen adäquate Musik zusammenzustellen, einzurichten und zu

instrumentieren."

 

Die Kompilationsmusik Eichhorns wurde in Rathen am 4. Juni 1937 uraufgeführt und

dort über mehrere Spielzeiten hinweg zu Shakespeares Komödie gegeben.

 

Im Jahre 1939 wurde sie vom Komponisten für das Schauspielhaus Dresden

umgearbeitet und erklang dort erstmalig am 16. Februar. Auch an anderen Bühnen wie

jenen in Heidelberg („Reichsfestspiele“, Premiere 12. Juli 1939), in Hamburg (26.

Oktober 1939) und Schneidemühl (8. November) sollte Eichhorns Version von

"Sommernachtstraum"-Musik im Original oder in Neufassungen zum Einsatz kommen.

Eichhorn komponierte nach dem Krieg u. a. die Filmmusik zu Helmut Käutners

"Schinderhannes"-Melodram aus dem Jahre 1957.

 

Am 28. Dezember 1937 stellte das Kurmärkische Landestheater Luckenwalde eine

"Sommernachtstraum"-Musik des Berliner Kapellmeisters Theo Knobel vor. Im Mai 1938

wiederum wurde von den Städtischen Bühnen Königsberg eine Komposition des

dortigen Chordirektors Egon Bölsche vorgestellt, welche erneut versuchte, das Problem

vermittels ersatzweise erfolgenden Rückgriffs auf romantische Instrumentalmusik zu

bewältigen. Jener hatte offenkundig "den guten Einfall gehabt, aus wenig bekannten

Werken Carl Maria von Webers einen Kranz herrlicher Melodieblüten zu winden und die

unsterbliche Dichtung damit zu schmücken." Natürlich sei darin auch "die "blaue Blume"

der Romantik, hauptsächlich aus "Euryanthe" und "Oberon" bezogen" gewesen, wie der

Rezensent Hans Wyneken im Jahre 1938 "Aus den Königsberger Theatern" in der in

Berlin herausgegebenen Zeitschrift "Die Musikwoche" vom 11. Juni 1938 berichtete.

 

Das Theater Erfurt brachte im Jahres 1938 die "Sommernachtstraum"-Musik op. 14 von

Ernst Roter aus dem Jahre 1920 neu heraus und stellte sie anlässlich der Premiere vom

 

6. April in Anwesenheit des Komponisten dem Publikum vor. Auch das Staatstheater

Württemberg griff noch im gleichen Jahre auf diese Version zurück.

Im Jahre 1938 machte sich gar ein Engländer daran -der junge Komponist Walter

Leigh -das Sujet für die Belange des nationalsozialistischen Kulturbetriebs tauglich

musikalisch aufzubereiten. Leigh komponierte eine dem Schulorchester der auf Schloß

Bieberstein in der Rhön residierenden Hermann-Lietz-Schule gewidmete Suite in

Sinfonietta-Besetzung. Das Orchester wurde schliesslich sogar eingeladen, die Suite

Leighs im Ausland, genauer: in mittel- und südenglischen Internatsschulen aufzuführen.

Leigh fiel im Jahre 1942 in Nordafrika im Kampf gegen die Deutschen.

 

120

 

 


 

Damit wurde das Moment fortschreitender, zielstrebig vorgenommener Mendelssohn-

Entwöhnung erstmalig in die so wesentliche Ebene der Jugendmusikpflege

hineingetragen. Dem Regime war es offenkundig nicht nur darum zu tun, den "Juden"

Mendelssohn aus der Erinnerung älterer Generationen von Kulturfreunden zu

verdrängen; auch eine Begegnung der Jugend mit ihm und seinem Werk sollte also

kategorisch vermieden werden. Leigh, der seine musikalische Ausbildung in

Deutschland absolvierte und an der Berliner Musikhochschule bei dem später

gewaltsam entfernten und in die Emigration getrieben Paul Hindemith studierte, machte

sich dadurch faktisch zum Helfershelfer der kulturpolitischen und propagandistischen

Ziele des Regimes.

 

Gleichsam im Bereich der NS-Jugendmusikpflege, also im Bemühen um Unterbindung

jedweden Kontaktes der damaligen deutschen Jugend zum Werke des um die

Musikpädagogik dieses Landes so verdienten Felix Mendelssohn Bartholdy, tätig war

Hilmar Höckner.

 

Er trug als Musikpädagoge für die Pflege der Tonkunst an den Landschulheimen des

Kreises Fulda, darunter auch Schloß Bieberstein, Verantwortung und gab somit im

Jahre 1938 eine Suite von 10 Tanzsätzen heraus, welche er der "Fairy Queen"-Musik

Henry Purcells entnommen hatte. F. Mahling attestierte der Kompilation in "Völkische

Musikerziehung", Berlin, Leipzig vom 6. Juni 1938 dass sie, " zwar eine ganz andere

Haltung zeigt, als die im 19. Jahrhundert so beliebte Bühnenmusik Mendelssohns, es

aber gerade deshalb wohl verdient der Vergessenheit entrissen und wieder praktisch

verwendet zu werden."

 

Es mutet nachgerade als musikhistorische Ironie an, dass man sich im Vollzuge von

Bestimmungen der NS-Kulturpolitik darum bemühte; Komponisten und deren Musik der

Vergessenheit zu entreißen, um einen anderen Komponisten willentlich der

vollständigen Vergessenheit anheimgeben zu können.

 

Nun des weiteren eine Aufzählung von "Sommernachtstraum"-Bühnenproduktionen

sowie den dazugehörigen Schauspielmusikern aus dem Jahre 1938. Als Quelle dient

wieder Fred Prieberg.

 

Hannover, 1. Januar/ Siegbert Mees; Bonn, 4. Januar/ Robert Tants; Stendal, 9. Januar/

Heinz Joachim Fritzen; Erfurt, 6. April/ Ernst Roters; Königsberg, 14. Mai/ Kompilation

von Musik C. M. von Webers durch Egon Bölsche; Felsenbühne Rathen, 4. Juni/ die

Kompilation von Musik C. M. von Webers durch Bernhard Eichhorn; Berlin-

Friedrichshagen, 17. Juni/ Leo Spies; Hungerturm-Festspiele Priebus, 18. Juni/ Helmut

Bernert; Baden-Baden, 7. Juli/ Edmund Nick; Marburg, 13. Juli/ Kompilationsmusik aus

der Symphony Nr. 9 in e-moll "Aus der neuen Welt" Antonin Dvoraks und Edvard Griegs

Norwegischem Tanz (Eselstanz); Koblenz, 16. September/ Leo Spies; Allenstein, 17.

September/ Leo Spies; Gießen, 28. September/ Rudolf Wagner-Regényi; Gotha-

Sondershausen, 3. Oktober/ Rudolf Wagner-Regényi; Oldenburg, 21. Oktober/ Rudolf

Wagner-Regényi; Stuttgart, 25. Dezember/ Ernst Roters; Deutsches Volkstheater Wien,

 

31. Dezember/ Ludwig Maurick.

Im Anschluss die Produktionsdaten der "Sommernachtstraum"-Inszenierungen des

Jahres 1939:

 

121

 

 


 

Prinzregenten-Theater München, 2. Januar/ Robert Tants; Linz, 14. Februar/ Robert

Tants; Dresden, 16. Februar/ C. M. von Weber-Kompilation durch Bernhard Eichhorn;

Essen, 28. Mai/ Winfried Zillig; Reichsfestspiele Heidelberg, 12. Juli/ Neufassung der C.

 

M. von Weber Kompilation von Bernhard Eichhorn; Elbing, 5. August/ kein Komponist,

Arrangeur genannt; Bremen; 6. September/ Theodor Holterdorf; Regensburg, 13.

September/ Paul-Oskar Nebelsiek; Burgtheater Wien, 20. September/ Franz Salmhofer;

Münster, 26. September/ Wolfgang Rößler; Frankfurt am Main, 14. Oktober/ Carl Orff;

Hamburg, 26. Oktober/ C.M.von Weber Kompilation von Bernhard Eichhorn;

Schneidemühl, 8. November/ C.M.von Weber Kompilation von Eichhorn; Göttingen, 7.

Dezember/ Carl Orff; Wesermünde, 25. September/ Theodor Holterdorf.

Von welcher Seite man es auch angehen mag; bleibt offen: war es künstlerische

Profilierungssucht und Karrierismus, völkisch-rassistische Überzeugungstat,

indifferentes Mitläufertum oder schlichtweg politisch-ästhetische Unbedarftheit als

Beweggrund?

 

Alle diese Komponisten, Arrangeure und Schauspielmusikdirektoren machten sich

schuldig. Schuldig des Tatbestandes, als willfährige Helfershelfer eines inhumanem,

mörderischen, rassistischen Regimes zur Hand gewesen zu sein, um einem verbrieften

Kapitel deutscher Theatergeschichte, also deutscher Kulturgeschichte letztendlich den

Bezug auf ein zentral bedeutsames Werk des Komponisten Felix Mendelssohn

Bartholdy auszutreiben. Eine Schuld, welcher man sich, wie in so vielen Bereichen der

NS-Täterschaft unisono geschehenem, nach 1945 zumeist weder zu stellen, noch

einzugestehen und aufzuarbeiten bereit war. Auch dies mangelnde Schuldbekenntnis

hinsichtlich tätiger Ausmerzung von lebendiger gewachsener kultureller Tradition ist ein

wesentlicher Aspekt der so lange Zeit nachgeradezu verhinderten, vermißten

ausgleichenden Rehabilitation des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy.

 

Fred Prieberg bringt dies Phänomen völkisch-kulturellen Exorzismus und die Schuld der

musikalischen Helfershelfer trefflich auf den Punkt, indem er zu dem Schluß kommt,

"daß sämtliche neuen "Sommernachtstraum"-Musiken zwischen 1933 und 1945 -so

viele wie nie zuvor oder danach in einem Jahrdutzend -nur eine einzige Aufgabe hatte:

Mendelssohn zu ersetzen. Wer auch immer in dieser Periode mit einer Partitur zu

Shakespeares Werk befaßt war, trug wissentlich und willentlich dazu bei, den "Juden"

Mendelssohn abzuschaffen. (...) Daß Musiker weithin den politischen Stellenwert ihrer

Beteiligung an der historischen Liquidierung Mendelssohns nicht begriffen, wofern sie

ihre Beteiligung später nicht überhaupt bestritten, lehrt eine andere Episode vielleicht

noch eindringlicher"

 

Dennoch wurde keine der genannten Kompositionen theaterübergreifend als dauerhaft

befriedigend eingeschätzt, wurden sie vielmehr als lokale Verlegenheitslösungen

angesehen. Keine derselben konnte den Rang einer spezifischen, "gültigen",

allgemeinverbindlichen Vertonung des Sujets einnehmen, so wie Mendelssohns

"Sommernachtstraum"-Musik bis zum Beginn des "III.-Reiches" ja empfunden wurde. So

war es überdies auch eine offenkundige grosse Ausnahme hinsichtlich eines

musikalischen Gesamtwerkes, dessen Wertschätzung ja aus Gründen einer

umfassenden Nivellierung bereits vor 1933 erheblich im Schwinden begriffen war.

 

Der Rezensent Hans Wyneken erhob in der „Deutschen Musikwoche“ VII vom 29. Juli

1939 im Rückblick auf die „Heidelberger Reichsfestspiele“ (dort spielte man ja die

Weber-Kompilation Eichhorns) denn auch die Frage nach einer definitiven

Neuvertonung des Sujets:

 

122

 

 


 

"Trotz alledem bleibt der Wunsch nach einer ganz neuen, auf eigenen Füssen

stehenden Sommernachtstraum-Musik offen. Wer schreibt sie?"

 

29. Von bajuwarischen Sommernachtsträumen

Neben Rudolf Wagner-Regenyi erbot sich mit Carl Orff der einzig prominente Komponist

den Machthabern zur Komposition des "Sommernachtstraumes"; ja der einzige, dessen

Prominenz eingeschränkt bis in unsere Tage andauert. Freilich nur aufgrund eines

einzigen Werkes, jener Cantiones profanes nach der alten Benediktbeurischen

Handschrift "Carmina Burana", deren ungemein erfolgreicher Premiere in Frankfurt am

Main im Jahre 1937 der Komponist einen kometenhaften Aufstieg verdankte.

 

Die Initiative zu einer weiteren "Sommernachtstraum"-Vertonung ging vom

Generalintendanten der Frankfurter Bühnen Hans Meissner aus. Er schlug dem

Frankfurter Oberbürgermeister in einem Schreiben vom 2. April 1938 dabei auch

sogleich Carl Orff als Komponisten vor. Der Intendant, dessen Stellvertreter, SS-

Obersturmbannführer Frank Bethge und der Frankfurter Oberbürgermeister, Dr. Fritz

Krebs, welcher auch Kreisleiter der „NSDAP“ Frankfurt und Präsidialratsmitglied der

„Reichsmusikkammer“ war, stimmten vollkommen in der Ansicht überein, dass diese

Komposition den Rang der Allgemeingültigkeit für alle deutschen Theater einnehmen

müsse. Meissner schrieb als an Dr. Krebs:

 

"Die Aufführung von Shakespeares "Sommernachtstraum" scheitert immer wieder

daran, daß noch keine Musik geschaffen ist, die der künstlerischen Höhe der Dichtung

ebenbürtig ist. Ich möchte vorschlagen, dem Münchner Tondichter Carl Orff, der durch

die "Carmina Burana" die persönliche Eigenart seiner musikalischen Erfindungs-und

Gestaltungskraft unter Beweis gestellt hat, mit der Schaffung einer Musik zu

Shakespeares Dichtung zu beauftragen."

 

Die Selbstverständlichkeit der Einklagung eines Vakuums, eines Mangels, der

Einforderung einer Komposition des Sujets -quasi so, als ob es eine Musik

Mendelssohns zu diesem Thema niemals gegeben hätte -durch Meissner, beweist, wie

sehr sich auch dieser bedeutende Theatermann bereits korrumpiert hatte. Wie groß

dessen willentliche und wissentliche Bereitschaft ausgeprägt war, an einem Vorgang

teilzuhaben, den Fred Prieberg als "schöpferische Verdrängung Mendelssohns"

bezeichnete.

 

Prieberg konstatierte also des Weiteren zu Recht: "Denn schöpferische Verdrängung

Mendelssohns -und das ist mehr als bloße Austreibung -gehörte zu den zentralen

Zielen der NS-Musikpolitik. Ohne emsige Beihilfe durch Regisseure, Intendanten,

Komponisten und Kapellmeister wäre sie schon im Ansatz gescheitert, wogegen eben

erst diese tätige Unterstützung suggerierte, der Zweck sei rechtens und daher eine

gleichsam historisch bedingte Erscheinung."

 

Die Idee Dr. Krebs, die Komposition in einem Wettbewerb hochrangiger Komponisten gedacht

war dabei an Orff, Herrmann Reuter und Werner Egk, wurde dabei von

Meissner als kontraproduktiv verworfen.

 

Carl Orff akzeptierte, in der Hoffnung auf dauerhafte Patronage seitens jener

hochrangigen Frankfurter „NSDAP“-Funktionäre, ein Honorar von 5000 RM und machte

sich an eine archaisch eingestimmte Vertonung des Sujets.

 

123

 

 


 

In einem Dankschreiben an Oberbürgermeister Dr. Krebs vom 10. Juli 1938 bestätigte

er die Auftragsübernahme:

 

"Sehr geehrter Herr Staatsrat! Ich empfing heute mit großer Freude die

Auftragserteilung zu einer Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum durch Herrn

Generalintendanten Meißner, und ich danke Ihnen außerordentlich für das wiederum

bewiesene Vertrauen. Ich freue mich sehr, die handschriftliche Partitur nach

Fertigstellung der Arbeit der Stadt Frankfurt am Main übergeben zu können, denn ich

verdanke der Stadt und damit Ihnen, sehr verehrter Herr Oberbürgermeister, eine

entscheidende künstlerische Förderung und bin glücklich, daß ein weiteres Werk von

mir in Ihrem Theater zur Aufführung kommen soll.

 

Mit ergebenen Grüssen, Heil Hitler!"

 

Die Orffsche Komposition wurde nach ihrer, wahrscheinlich Mitte Oktober 1938 erfolgten

Premiere von der Presse nachgeradezu hymnisch aufgenommen. So schrieb der

Rezensent Walter Dirks in der "Neuen Musikzeitung" von November 1938 von der

Enttäuschung jener "die zu sehr an den durch Mendelssohn vorgeprägten Vorstellungen

festhielten, vielleicht auch" (jener) "denen eine Musik von Shakespearescher seelischer

Mächtigkeit vorschwebte. Von solchen Ansprüchen muß man absehen, wenn man

würdigen will, was Orff geleistet hat: eine für heute und viele Jahre gültige praktikable,

würdige und durchaus angemessene Musik dienender Haltung. Es ist Orff geglückt, für

die mancherlei Situationen in den verschiedenen Sphären des zauberhaften Werkes (in

der höfischen, der elfischen, der panischen, der Rüpelsphäre) ungemein treffende

Formulierungen zu finden."

 

Fred Prieberg weist noch 9 weitere positiv ausgefallene Rezensionen in Zeitungen des

gesamten damaligen Reichsgebietes nach, ein Zeichen dafür, dass die Uraufführung

des Orff-Werkes als ein Theaterereignis überregionalen Ranges angesehen oder von

den NS-Institutionen Frankfurts zumindest reichsweit propagandistisch als solches

lanciert wurde.

 

Im Gegensatz zur Presse reagierten die Theater eher verhalten auf die Vorstellung einer

weiteren "Sommernachtstraum"-Partitur. So werden bei Fred Prieberg nurmehr 4

weitere Bühnen genannt, welche auf die Orffsche Komposition in der Originalgestalt

oder in einer Bearbeitung durch den Komponisten zurückgriffen: die Theater in

Göttingen (Dezember 1943), in Karlsruhe (1940), Mainz (1943) und Leipzig (1944).

 

Der Komponist behauptete später, sich bereits 1917 und auch vor 1933 mit dem

"Sommernachtstraum"-Sujet auseinandergesetzt zu haben und suggerierte dadurch,

dass das Werk somit innerhalb seines Oeuvres quasi organisch herangereift sei. Dass

demselben kein nationalsozialistischer Hintergrund oder eine gezielte Mendelssohn-

Verdrängung gar, unterstellt werden könne.

 

Fakt ist, dass Orff das Werk in Zeiten des „III. Reiches“ komponierte, vorstellte und

mehrfach umarbeitete, so liegen Fassungen aus den Jahren 1943 und 1944 vor.

 

125

 

 


 

Der Orffsche Sommernachtstraum wurde bereits im Jahre 1938 in dessen "Hausverlag"

 

B. Schotts Söhne in Mainz verlegt, welcher zur Uraufführung etwas voreilig bereits 300

Klavierauszüge zur Ansicht in den Theatern und im Jahre 1944 weitere 400

Klavierauszüge einer bearbeiteten Fassung vorlegte. Weitere Retuschen des Werkes

datieren aus dem Jahre 1952.

Und dies das Novum dieser Komposition aus einer langen Reihe von denselben

unseligen Anlasses (insgesamt 44 neue, ersetzende Bühnenmusiken hat Prieberg

recherchiert): es war die einzige, welche nach 1945, in der BRD noch und wieder

gespielt wurde. Dabei wirkten 2 Umstände zusammen. Ein namhafter, erfolgreicher

Komponist, welchem seine Verstrickungen in Ereignisse und Machenschaften der NS-

Zeit offenkundig nichts anzuhaben vermochte. Sowie dessen "gut eingeführte(r),

mächtige(r), und seine Werbe-und Wirtschaftskraft nach dem Zusammenbruch des

Reiches erst recht aufbauenden Groß-Verlegers" (Prieberg), welcher das Werk

zugkräftig an die deutschen Bühnen lancierte. Ungeachtet der Tatsache, das zur ersten

Bühnenproduktion nach dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur im Dezember 1945

wieder Felix Mendelssohn gegeben wurde.

 

Des Bemühens um eine neue Einzigartigkeit der Orffschen "Sommernachtstraum"Musik

durch Frankfurter NS-Funktionäre zum Trotze entstanden auch nach

Fertigstellung derselben an deutschen Bühnen noch weitere Fassungen. So beauftragte

der legendäre Theatermann Dr. Saladin Schmitt im Frühjahr 1940 den

Hauskomponisten des Bochumer Schauspielhauses Emil Peters mit einer Bühnenmusik

zum "Sommernachtstraum", Sie wurde am 24. März 1940 uraufgeführt. Der Komponist

lehnte eine vollständige Neukomposition des Themas allerdings ab -aus

eigenschöpferischen Skrupeln gegen eine offenkundige Mendelssohn-Verdrängung

heraus? - und griff ein weiteres Mal auf Kompositionen Carl Maria von Webers zurück.

 

Der namhafte Regisseur Franz Stroux brachte das Stück am 20. September 1939 am

Wiener Burgtheater mit der bereits genannten Musik Franz Salmhofers heraus. Am 18.

Januar 1940 erschien das Werk am Stadttheater Wilhelmshaven mit der gleichsam

bereits erwähnten Musik Theodor Holterdorfs auf der Bühne; Bielefeld sah das gleiche

Stück am 13. April 1940 mit der Musik von Adam Rauh. Am 30. April 1940 reüssierte

eine Musik von Konrad Brenner am Theater Ulm; am 1. Mai jene von Franz Binder in

Karlsbad.

 

All diesen Lösungen zum Trotze konstatierte Rudolf Sonner in "Musikstadt Wien" vom 6.

März 1939 anlässlich einer Sylvestervorstellung des "Deutschen Volkstheaters" in Wien

weiterhin die dringliche Notwendigkeit neuer "Sommernachtstraum"-Kompositionen.

 

Dabei versuchte er nach Kräften das übermächtig präsente Vorbild Mendelssohns,

unter zeitgeistgerecht perfidem Rückgriff auf ein Vokabular völkisch-rassistischer

Schmähung und pure Behauptungen, nach Kräften zu demontieren:

 

"Die unwirklich-wirkliche Welt des "Sommernachtstraums", die Shakespeare in dieSchönheit seiner Verse gebannt hat, der kraftvolle Humor, der Übermut und die zarte

Innigkeit, all das gibt einem echten Musiker Gelegenheit zu einer Begleitmusik, ja fordert

eine solche geradezu heraus. Gewisse Kräfte trauern heute noch der

Sommernachtstraum-Musik des Juden Mendelssohn nach und tun so, als bedeute ein

Verzicht auf diese einen unwiederbringlichen Verlust.

 

126

 

 


 

Mendelssohn war ein Exponent des Judentums, und darum wurde seine Musik so

aufdringlich in den Vordergrund geschoben. Ihren Gehalten nach hat sie das gar nicht

verdient; denn schon die Ouvertüre ist ein billiges Potpourri gestohlener Themen von

Johann Rudolf Zumsteeg und C. M. von Weber, verkittet mit französischer Ballettmusik.

Nichts von dieser mauschelnden Geschwätzigkeit findet sich in der neuen

Sommernachtstraummusik von Ludwig Maurick."

 

Otto Falckenberg, der berühmte Intendant der Münchner Kammerspiele schliesslich

verlagerte anlässlich einer Neuinszenierung im Frühjahr 1941 die Problematik

beflissentlich von der unumgänglich bestehenden Ebene kulturpolitischer Doktrinen auf

eine solche rein ästhetischer Argumentation. Er sprach Mendelssohns Musik

schlichtweg die Eignung einer Bühnenmusik zu Shakespeares Werk ab:

 

"Mendelssohn hat gar nicht versucht, eine wirkliche Traummusik zu schreiben. Seine

Musik ist thematisch klar durchgearbeitet und von einer Konsequenz, die der Logik oder

Unlogik des Traums nicht entspricht". (Der neue Sommernachtstraum, „Münchner

Neueste Nachrichten“ v. 16. März 1941)

 

Darüber hinaus deklariert Falkenberg Mendelssohn als reinen Klassizisten und spricht

ihm somit die Teilhabe an der deutschen Romantik ab; ja unterstellt ihm gar, als

Romantiker und Bühnenkomponist eklatant versagt zu haben. Zur Münchner

Neuinszenierung des Sommernachtstraumes erklang schliesslich eine Neukomposition

von Gerhard Münch.

 

Das Jahr 1944 schliesslich brachte noch zwei weitere Kompositionen zu Shakespeares

Stück hervor. Hilde Pfeiffer-Dürkorp arrangierte Musik des Rudolstädter

Barockkomponisten Philipp Heinrich Erlebach zu einer Inszenierung des

Braunschweiger Staatstheaters im Park von Salve Hospes, welche am 16. Juli 1944 ihre

Premiere hatte.

 

Eine weitere Komposition von den Händen Franz Anton Wolperts, eines Dozenten des

Mozarteums in Salzburg erfuhr kriegsbedingt nur noch eine konzertante Aufführung der

Ouvertüre am Mozarteum.

 

Dies stellt wohl den Endpunkt dar im Bestreben, ein unbestrittenes, tief im Denken und

Empfinden der Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts verankertes Meisterwerk

rückstandslos zu eliminieren. Es mitsamt dem Komponisten ein für allemal historisch zu

entsorgen. Nun, die Sommernachtstraum-Musik dürfte weiterhin zu den bekanntesten

und beliebtesten Werken des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy zählen. Keine

der vom Regime anbefohlenen und eilfertig vollführten Surrogatmusiken konnte sich

nach 1945 als ernsthafte Alternative bühnenpraktisch behaupten.

 

Carl Orffs Komposition zumindest konnte sich, mit tätiger Unterstützung eines

einflußreichen Musikverlages in den Kulturbetrieb der BRD hinüberretten. Wurde von

diesem in einem demokratisch orientierten Staat mit einer Selbstverständlichkeit als

hochrangiges Kulturgut verbreitet, als hätte es das auftraggebende verbrecherische

Regime niemals gegeben. Als wäre sie niemals aus dem Bestreben der Beihilfe heraus,

Felix Mendelssohn Bartholdys Werk endgültig zu eliminieren entstanden.

 

127

 

 


 

Als hätte Orff die blumig verklausulierte Auftragsbestätigung niemals mit einem

schneidigen "Heil Hitler" unterzeichnet. Aber auch sie ist mittlerweile Vergangenheit,

musikalisch dahingeschieden, tot; Nebenerzeugnis eines bayerischen Kleinmeisters,

welcher lediglich mit einer spektakulären Komposition sowie in einem Schulwerk für

Kinder im Bewusstsein der Musikfreunde präsent ist. Rudolf Wagner-Regény, dem

einzigen Komponisten neben Carl Orff mit einer gewissen Prominenz versehen, welcher

sich auf das nationalsozialistische Ansinnen einließ, gelang mit seiner Komposition nicht

einmal der Sprung in die Nachkriegszeit. Der Musikverlag der „NS-Kulturgemeinde“,

welcher das Werk herausbrachte, fand mit dem Regime gemeinsam sein folgerichtiges

Ende und erfuhr nach dem Kriege keine Neugründung.

 

In seinem Standardwerk "Musik im NS-Staat" schliesst Fred Prieberg das Felix

Mendelssohn gewidmete Kapitel denn auch mit der kurzen, betont nüchtern gehaltenen

Erklärung: ”Die Sommernachtstraum-Musik indessen hat die Führer des

Nationalsozialismus und ihre Politik der schöpferischen Liquidierung unbeschadet

überstanden”.

 

Intermezzo VI: "Die hohe Schule" II oder "Musik in Geschichte und Gegenwart"

 

Prieberg irrte in diesem Punkt nachweislich. In der BRD herrschte ein unsägliches

Klima zügig vorgenommener Restauration vor. Jenes erschloß einstigen,

nationalsozialistisch ausgeprägten Eliten der Bereiche Politik, Militär, Rechtswesen,

Medizin, Kultur und akademische Bildung im Zeichen unbedingten förderalistischen

Wohlfahrtsbestrebens sowie der Anbiederung an die USA in steigendem Maße neue

Wirkungskreise. So gewährleisteten musikpublizistische Koryphäen, getreuliche Diener

oder Mitläufer des gefallenen Regimes, nicht zuletzt auch die ungebrochene Kontinuität

eines anämisch gezeichneten Mendelssohn-Bildes.

 

Dies Phänomen eingehender darzulegen, wollen wir uns an dieser Stelle ein

wesentliches Fundament, einen Bestandteil musikalisch-akademischen Lehrens in der

BRD nach 1945 auf seine Substanz, seine Verwurzelung zurück in Zeiten des NS-

Regimes hin betrachten.

 

Im Jahre 1949 veröffentlichte der Bärenreiter-Verlag in Kassel den ersten Band einer

neuzeitlich-musikalischen Enzyklopädie, welche unter dem Titel "Musik in Geschichte

und Gegenwart" („MGG“) reüssierte. Als Herausgeber wirkte der hochangesehene

Freiburger Musikwissenschaftler Friedrich Blume. Die Edition war auf insgesamt 20

Bände angelegt, deren Folgeveröffentlichungen sich bis in die sechziger Jahre

hinziehen sollten. Die Creme zeitgenössischer deutscher Musikwissenschaft wurde in

die Erarbeitung der Enzyklopädie eingebunden; ausgesuchte europäische und

amerikanische Musikologen sekundierend herangezogen. „MGG“ zählte, als

Kompendium, verbindliche Quintessenz musikwissenschaftlichen Strebens mehrerer

Generationen verstanden, zum Grundbestand jedweder musikalischer Bildung und –

Lehre der „BRD“ und war somit als Bestandteil jeder seriös konzipierten Bibliothek

eingegliedert. Der Anteil, von der Edition Bärenreiter zu erheben am Verdienst, ein

Bildungsgut von so zentraler Bedeutung, weit reichender Folgewirkung konzipiert und

realisiert zu haben, ist allerdings kein entscheidender.

 

128

 

 


 

"Musik in Geschichte und Gegenwart" wurde vielmehr als Projekt der "Hohen Schule"

innerhalb des Amtes Rosenberg in Auftrag gegeben, erste konzeptionelle Dispositionen

lassen sich bereits für August 1939 nachweisen. Als Projektleiter agierte der im

Zusammenhang mit dem „Lexikon der Juden in der Musik“ bereits genannte Heinz

Gerigk; als Autoren wurden u. a. die Musikwissenschaftler Friedrich Blume, Wolfgang

Boetticher, Werner Danckert, Karl Gustav Fellerer, Prof. Rudolf Gerber, Ewald

Jammers, Prof. Hellmuth Osthoff, Erich Schenk, Heinrich Schole, Erich Schumann und

Rudolf Sonner verpflichtet. Alle hier genannten hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits

innerhalb musikanthropologischer oder kultur-rassetheoretischer Projekte des

Nationalsozialismus profiliert. Die Teilnahme einer von Gerigk herausdefinierten Elite

nationalsozialistisch-musikideologischer Überzeugung an einem von der Parteileitung

zum Renommier-Projekt erklärten enzyklopädischen Vorhaben wurde von den

Sicherheitsdiensten dementsprechend abgesegnet.

 

Friedrich Blume, Ewald Jammers und Karl Gustav Fellerer waren des weiteren auch im

Rahmen des SS-Projektes Ahnenerbe tätig. Blume betreute darüber hinaus auch eine

Publikationsreihe des Namens: „Schriften zur musikalischen Volks-und Rassenkunde“.

Karl Gustav Fellerer wiederum entlarvt sich in Briefdokumenten privater Natur als

schneidiger, nationalsozialistisch engagierter, akademischer Intrigant und Karrierist. So

verhöhnte er den mißliebigen jüdischen Akademiker Fischer als „Schweizer Idioten“,

frohlockte im August 1939 wohl informiert (also exorbitant regimenah!), ein polnischer

Professor namens von Oulikovski mitsamt seinen Landsleuten bezöge dafür, das er

dem „Idioten“ Fischer die Stange gehalten habe, "bald die entsprechende Abreibung“. Er

belobigte die Projektleitung Herbert Gerigks für MGG nach der Prämisse des erprobten

„Führerprinzips“ und insistierte auf die Definition „neue(r) Gesichtspunkte und

Nachschlagworte“ zur Unterscheidung von „den übrigen, eingekalkten Lexika“, damit

„man (...) zum Stammhaften und Rassischen (...) (Sippe)“ vorstoßen könne. Die Briefe

schließen erwartungsgemäß mit „Heil Hitler!“

 

Im Februar 1940 vermeldete Gerigk dem designierten Autor Prof. Rudolf Gerber (ein

„begeisterter Nationalsozialist“/ Eva Weissweiler) emphatisch, daß „der Führer befohlen“

habe, „daß auch in der Kriegszeit namentlich die Forschungsarbeit weitergeführt

werden“ sollte und der Enzyklopädie daher derzeit „für die einzelnen Teilgebiete (...) aus

unserer Stichwortkartei die Listen der bisher erfaßten Namen und Stichworte

zusammengestellt“ würden und „insgesamt bereits (...) die Zahl von 20000

überschritten“ sei. Die wissenschaftliche Integrität der Projektverantwortlichen erscheint

nicht zuletzt dadurch zunehmend in Zweifel gezogen, daß jene besagten 20000 Namen

und Stichworten, zugrunde liegende Systematik vollständig den Enzyklopädien

Riemanns, H. J. Mosers sowie des im Jahre 1926 herausgegebenen „Neuen

Musiklexikons“ des jüdischen Musikwissenschaftlers Alfred Einstein entlehnt worden

war. Ende des Jahres 1943 kündete der Bärenreiter-Verlag, Kassel die absehbare

Publikation von „Musik in Geschichte und Gegenwart“ an und nannte Friedrich Blume

nunmehr als Herausgeber. Die Kriegswirren des Jahres 1943, welche vermittels

unausgesetzter alliierter Bombenangriffe auf deutsche Städte nunmehr zunehmend

auch deutsches Kerngebiet erreichten, bedingten die Auslagerung des Amtes Musik und

seiner Aktivitäten in sichere Provinzstädte. Während Gerigk mit der Behörde nach

Schlesien abwanderte, wurde der Gesamtbestand bisheriger "MGG"-Recherche an die

 

129

 

 


 

Universität Kiel delegiert, welche sich kriegsbedingt mittlerweile zur Dependance der

"Hohen Schule" entwickelt hatte und mit Blume über eine renommierte, langjährig

verdiente akademische Kraft verfügen konnte. Ob Blume von den Behördenvorständen

Rosenberg oder Gerigk umständehalber mit der Edition von „MGG“ betraut wurde oder

ob es jenen möglicherweise aus den Händen geglitten war und sich Blume den zur

Fortsetzung der Erarbeitung der Enzyklopädie notwendigen Parteisegen anderweitig zu

verschaffen verstand, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Rivalitäten zwischen gemäßigt

nationalsozialistisch infiltrierten Akademikern wie Friedrich Blume, Hans Joachim Moser

und Schole einerseits und erklärt-ideologischen Überzeugungstätern wie Gerigk,

Boetticher, Fellerer, Gerber etc. sind aktenkundig; so wurde Blume beispielsweise Mitte

des Jahre 1940 das designierte Referat protestantischer Kirchenmusik in „MGG“

zugunsten Gerbers wieder entzogen.

 

Das Gerigk sich noch im April des Jahres 1944 hartnäckig um die Frontbefreiung

wesensverwandter nationalsozialistischer Wissenschaftler wie Fellerer, Gerber, Osthoff

und Boetticher bemühte (alles Namen, welche im Zusammenhang mit dem

Enzyklopädie-Projekt schon genannt wurden), spricht allerdings in hohem Maße dafür,

dass er jene zur Fortsetzung der Konzeption von „MGG“ einzusetzen trachtete und

Blume in Kiel als neuer Herausgeber der Enzyklopädie somit auf strikte Anweisungen

des „Amtes Rosenberg“ und Gerigks agierte. Im April des Jahres 1944 wurde das

Projekt „MGG“ von hochrangigen Partei-und Regimebehörden denn auch kontrovers

erörtert. So verwies die „NSDAP“-Verwaltung im Münchner Führerbau in einem

Schreiben an das "Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung"

auf das Problem, „eine umfassende, mehrbändige Enzyklopädie (...) die gesamte Musik

aller Länder und Zeiten umfasse (...) jetzt überhaupt“ anzukündigen, da man „es für ein

eine Benachteiligung der bei der Wehrmacht befindlichen Fachvertreter und des

gesamten Nachwuchses“ gleich dort befindlich hielte, “wenn für diese Standardwerke

die Daheimgebliebenen unter sich die Aufteilung vornehmen".

 

Die Anfrage, etwa ein Jahr vor dem Zusammenbruch des Regimes formuliert, spricht,

eindeutig oder indirekt zwei wesentliche Sachverhalte im Umfeld des Projektes an.

Zum einen verweist sie, ungewollt zwar, aber wahrhaft prophetisch, auf die zukünftige

Relevanz unbestreitbar nationalsozialistisch indoktrinierten musikwissenschaftlichen

Nachwuchses für die Jahre nach 1945.

 

Zum anderen spielt sie unverhohlen auf den Umstand an, das die Erarbeitung der

Enzyklopädie mittlerweile möglicherweise einer verschworenen

musikwissenschaftlichen Clique nurmehr als Vorwand diente, der Front ferngehalten zu

werden und somit im Schutze des Projektes das Kriegsende abzuwarten. Prof. Gerber

gestand genau dies bereits in mehreren an Projektleiter Gerigk gerichteten Schreiben

des Jahres 1940 offen ein: Wunsch nach Teilhabe am Prestigeprojekt des Regimes,

welche ihm, dem Intellektuellen besser und nützlicher anstehe als das Waffenhandwerk,

indem sich ja verstärkt die Primitivität und Einfalt zum Wohle des Deutschen Volkes

üben könne. Im September 1944 bezeugte die Essener Allgemeine Zeitung

ungebrochen fortgeführte Aktivitäten hinsichtlich „MGG“ dadurch, das sie auf das

baldige Erscheinen eines herausragenden Projektes der „deutschen Musikforschung“,

genauer: die Veröffentlichung einer „umfassende(n), großzügige(n) musikalische(n)

Enzyklopädie“ hinwies, welche eine „Gemeinschaftsarbeit führender deutscher

Musikforscher“ darstelle und den Titel "Musik in Geschichte und Gegenwart" tragen

werde.

 

130

 

 


 

Wie eingangs erwähnt , fand die Publikation des ersten Bandes von Musik in

Geschichte und Gegenwart im Jahre 1949 statt; als Herausgeber firmierte weiterhin

Friedrich Blume. Maßgeblich beteiligt an der Erarbeitung des ersten und weiterer Bände

waren die ehemaligen Gerigk-Untergebenen Boetticher, Danckert, Fellerer, Gerber,

Jammers, Osthoff, Schenk. Eva Weissweiler schildert in ihrer engagiert und umfassend

vorgelegten Studie über „das Lexikon der Juden in der Musik“ (inkl. Kompletten

Faksimile-Reprints desselben !) und das Amt Gerigk trefflich, wie die Mitarbeit der

genannten an der Bärenreiter-Enzyklopädie konkret vonstatten gegangen sein mochte: „

Sie brauchten nur ihre Manuskripte aus der Schublade zu holen und die schlimmsten

nationalsozialistischen Formulierungen daraus zu streichen“.

 

Blume und die Edition Bärenreiter als Verlag verwandten wenig Sorgfalt auf

humanistisch-anthropologische Bereinigung des Alt-Materials. Die mit der Edition

übernommene Teilverantwortung für das bildungsspezifische Klima des neuen

Föderalismus muss ihnen vollkommen gleichgültig gewesen sein. Wie wäre es sonst zu

verstehen, das die genannten „führenden Musikforscher“ des ehemaligen Regimes die

autobiographischen Einträge in MGG eigenhändig autorisieren und ihre Biographie

somit erstmalig manipulieren durften? Auch andere „internationale Musiklexika“ (de

Vriess) griffen auf die Fähigkeiten der ehemaligen Gerigk-Mitarbeiter zurück,

möglicherweise getäuscht durch die neugewonnen-manipulierte biographisch-

akademische Integrität. Substantieller noch sollte sich auswirken, dass man

beispielsweise einem ausgewiesenen nationalsozialistischen Überzeugungstäter wie

Boetticher das Referat über jüdische Musiker überliess. Wie jenes über Joseph

Joachim, den Weggefährten Mendelssohn Bartholdys, Johannes Brahms und Clara

Schumanns. Der Band von Musik in Geschichte und Gegenwart, der auch Felix

Mendelssohn Bartholdy zur Veranschaulichung bringt, erschien editionsbedingt erst im

Jahre 1961.

 

Es referiert dort der über jeden Zweifel erhabene amerikanische Mendelssohn-Forscher

Eric Werner. Sein Text weist stellenweise eine Reserviertheit gegenüber Leben und

Werk Felix Mendelssohns auf, die sich im später veröffentlichten, Mendelssohn

gewidmeten Hauptwerk Werners, so nicht findet.

 

Der Herausgeber von MGG, Friedrich Blume referierte, wie bereits erwähnt, im August

des Jahres 1938 in der Zeitschrift "Musik" über die Fragestellung "Musik und Rasse Grundlagen

einer musikalischen Rasseforschung". Er attestierte sich in seinem im Jahre

1938 vorgelegten Lebenslauf u. a. auch die Erarbeitung von "musikalischer Volks-und

Rassenkunde und musikalische(r) Raumforschung" und nahm im „III. Reich“ u. a.

folgende Positionen wahr:

 

1933 außerordentlicher Professor an der Berliner Universität, 1934 Leitung des

"Musikwissenschaftlichen Institutes", 1935 Mitglied des "Staatlichen Institutes für

Deutsche Musikforschung", 1938 Ordinarius der Universität Kiel, 1939 Leitung des

"Institutes Erbe deutscher Musik" und Redaktion der Zeitschrift "Deutsche Musikkultur",

letztere beiden fester Bestandteil nationalsozialistisch-rassistischer Kulturpolitik.

 

Des weiteren betätigte er sich als Referent und Herausgeber einschlägig belasteten und

belastenden Gedankengutes und Schriftentums.

 

131

 

 


 

Bei den ersten Reichsmusiktagen im Jahre 1938 referierte Friedrich Blume über das

Thema "Musik und Rasse -Grundlagen einer musikalischen Rasseforschung", welches

ja auch Grundlage jenes in der Zeitschrift "Musik" veröffentlichten Aufsatzes war. Im

gleichen Jahre gab er das Buch "Das Rasseproblem in der Musik" heraus. Es war dies

die erste Ausgabe der von Blume publizierten "Schriften zur musikalischen Volks-und

Rassenkunde"; noch drei Bände sollten bis zum Jahre 1944 folgen.

 

In der ab 1994 herausgegebenen Neuausgabe von „MGG“ bestreitet der Bärenreiter-

Verlag und der Herausgeber Ludwig Finscher jedwede Verbindung der Erstausgabe von

der Enzyklopädie zum Nationalsozialismus und tut den Gedanken daran als Spekulation

Wilhelm de Vriess ab. So ist in dem biographischen Abriß, welchen die Enzyklopädie

dem Erstherausgeber Friedrich Blume widmet zu lesen: "Im Jahre 1943 begab Blume

auf Anregung des Gründers des Bärenreiter-Verlages Karl Vötterle und zusammen mit

Hans Albrecht mit der Vorbereitung der Enzyklopädie "Die Musik in Geschichte und

Gegenwart“. Dass diese Arbeit irgend etwas mit Plänen und Materialsammlungen von

Herbert Gerigk für eine von diesem spätestens seit 1939 geplante Enzyklopädie zu tun

gehabt haben könnte, wie de Vriess 1998, 108 -115 behauptet, ist pure Spekulation."

 

Das Buch von Eva Weissweiler, welches die Sachlage einer Initiierung von „MGG“

durch die "Hohe Schule" der NSDAP und Herbert Gerigk erhärtet, war zu jenem

Zeitpunkt noch nicht erschienen. Die Erklärung in der Blume-Biographie der

Neuausgabe wiederum muss als pure Behauptung des Verlages, genauer, als

Schutzbehauptung angesehen werden.

 

In den Vorworten zu den verschiedenen Auflagen erkennt sich der Bärenreiterverlag

wiederholt das alleinige Verdienst um Initiierung von „MGG“ zu und verweist im übrigen

auf den Herausgeber Friedrich Blume. So schreibt Blume in seinem Vorwort des

abgeschlossenen 1. Bandes aus dem Jahre 1951/ Tb-Ausgabe 1989:

 

"Der Gedanke der Enzyklopädie ist bereits 1943 von dem Bärenreiter-Verlag in Kassel

ausgegangen und ist seitdem in ständigem engem Gedankenaustausch zwischen ihm

und dem Herausgeber unter allmählicher Einbeziehung vieler Mitarbeiter und Helfer

entwickelt worden".

 

Ludwig Finscher wiederum schreibt im Vorwort des im Jahre 1994 erschienenen

Bandes der Neuausgabe von „MGG“: "Die Zeit, in der Karl Vötterle und Friedrich Blume,

der Musikverleger und der Musikwissenschaftler, die schon in den letzten Jahren des

zweiten Weltkrieges entwickelte Konzeption der MGG zu verwirklichen begannen, war

einzigartig (...)

Ungewöhnlich war, daß Friedrich Blume als der Spiritus Rector des Unternehmens eine

viel weiter reichende Konsequenz aus der Situation zog: Die Entwicklung nicht eines

Lexikons, sondern einer Enzyklopädie, wie es schon im Geleitwort zur ersten Lieferung

1949 heißt."

 

2 Faktoren sind maßgeblich geeignet, die Behauptungen des Bärenreiter-Verlages und

seiner Herausgeber, die Entwicklung der Enzyklopädie stehe jeder Verwurzelung im

Nationalsozialismus vollständig fern, zu widerlegen.

 

132

 

 


 

Erinnern wir uns der Meldung in der "Essener Allgemeinen Zeitung" von September

1944 hinsichtlich baldigen Erscheinens eines herausragenden Projektes der „deutschen

Musikforschung“, genauer: die Veröffentlichung einer „umfassende(n), großzügige(n)

musikalische(n) Enzyklopädie“, welche eine „Gemeinschaftsarbeit führender deutscher

Musikforscher“ darstelle und den Titel "Musik in Geschichte und Gegenwart" tragen

werde.

 

In dieser Meldung wird der außerordentliche Rang, die Dramaturgie und der Umfang der

Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart" explizit vorweggenommen und

hervorgehoben. Nun, beide Instanzen, der Verleger Karl Vötterle und sein Bärenreiter-

Verlag sowie der Musikwissenschaftler Friedrich Blume, verfügten in den Kriegsjahren

1943 -45 wohl kaum über die Machtvollkommenheit, ein Unternehmen solchen

Ausmaßes zu konzipieren und vorzubereiten. Es ist wenig glaubhaft, dass Blume als

Ordinarius der Universität Kiel, also von einer Provinzuniversität aus, obgleich er

Mitglied und Präsident div. musikwissenschaftlicher Gesellschaften war, autonom, fern

jeder Weisung und Kontrolle durch die Partei ein herausragendes Projekt der

"deutschen Musikforschung" zu initiieren imstande war. Eine "Gemeinschaftsarbeit

führender deutscher Musikforscher" (Essener Allgemeine 1944) "unter ...Einbeziehung

vieler Mitarbeiter und Helfer" (Blume 1951) herzustellen. Des gleichen war ein kleiner

Musikverlag in Kassel dazu nicht in der Lage.

 

Wie wir gesehen haben, unterlagen führende Wissenschaftler und ihre Tätigkeit der

Zustimmung und Aufsicht von Parteigremien, wurden Wissenschaftler, die an Projekten

teilnehmen sollten, von der Partei auf ihre ideologische Zuverlässigkeit hin

durchleuchtet.

 

Eva Weissweiler dokumentiert in "Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik"

treffend das Wesen der von der Partei ausgeübten Kontrolle über etwaige in

Kriegszeiten vollführte wissenschaftliche Arbeit: "Von irgendeiner direkten oder

indirekten Form der Mitarbeit bei Forschungsunternehmen der NSDAP, SS oder "Hohen

Schule" war allerdings kaum ein namhafter deutscher Musikwissenschaftler

freizusprechen; denn der politische "Anschluss" an offiziell gebilligte

Publikationsprojekte dieser Art stellte (...) nahezu die einzige Möglichkeit dar, in

Kriegszeiten überhaupt noch veröffentlichen zu können. Jeder Versuch eines

wissenschaftlichen "Alleingangs" (...) wäre von Gerigk und der "Parteiamtlichen

Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums gnadenlos unterdrückt worden".

Obschon Hitler und die Partei Forschungsvorhaben gerade in Kriegszeiten höchste

Priorität einräumten, wurde jeder Wissenschaftler, der nicht in derartige, von der Partei

initiierte oder genehmigte Vorhaben eingebunden war, in den letzten Kriegsjahren zum

Wehrdienst eingezogen. Im Jahre 1944 schliesslich kamen unter dem Zeichen des

"Totalen Krieges" nahezu alle kulturellen Aktivitäten in Deutschland zum Erliegen,

stellten die Theater und Opernhäuser ihren Spielbetrieb ein, insofern sie nicht bereits

zerstört waren, wurden die meisten wissenschaftlichen Vorhaben abgebrochen und die

Verlage geschlossen. Für Projekte wie der Konzeption von „MGG“ tätige

Wissenschaftler wie Blume handelten in dieser Situation also unmittelbar auf Weisung,

also unter Aufsicht nationalsozialistischer Funktionäre. Dabei bemängelten

rivalisierende Parteigremien die Fragwürdigkeit einer bevorzugten Projekt-Beteiligung

einzelner Forscher zuungunsten des gesamten sich an der Front befindlichen

Nachwuchses.

 

133

 

 


 

Gerigk musste somit um die Wehrdienst-Freistellung jedes einzelnen an der

Vorbereitung von „MGG“ beteiligten Wissenschaftlers kämpfen; wie bereits dargelegt,

baten einzelne Akademiker dringlich um Aufnahme in das Projekt, um dem Frontdienst

zu entgehen. Nein, weder Verleger Karl Vötterle noch der Ordinarius der Universität Kiel

besaßen in den letzten Kriegsjahren über genug Autorität und Einfluß, die deutsche

Musikwissenschaft gezielt in die konzertierte Aktion der Erarbeitung eines

monumentalen enzyklopädischen Vorhabens hineinzuführen.

 

Ein weiteres Indiz dafür, dass die Herausgeber von „MGG“ lediglich ein Projekt der

"Hohen Schule" der „NSDAP“ weitergeführt hatten und keinesfalls als Urheber der

Enzyklopädie gelten können, liefert Blume im Vorwort des 1. Bandes von 1949/51

selbst:

 

"Jedoch wurde das gerettete Karteimaterial im Musikwissenschaftlichen Institut der

Universität Kiel in der Stille weiter ausgebaut."

 

Damit bringt Blume die einstmals von Gerigk erstellte Systematik von 20 000

Stichworten sowie das daraufhin erstellte Karteikartensystem der „MGG“-Recherche ins

Spiel, welches im Jahre 1943 auf Anordnung Rosenbergs oder Gerigks an die

Universität Kiel ausgelagert wurde. Ungeklärt bleibt lediglich, ob Blume offiziell von

Rosenberg oder Gerigk mit der Weiterführung der Enzyklopädie beauftragt wurde oder

aber die Partei gegen Kriegsende die Kontrolle über das Projekt verlor, so dass er das

Material übernehmen und "in der Stille" einer abgeschiedenen Provinzuniversität über

die Stunde 0 hinaus ausbauen konnte.

 

30. Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette...

Gleichsam im Jahre 1949 lässt sich auch der in der Nazi-Zeit als ambivalent agierend

erinnerliche Hans-Joachim Moser wieder zum Thema Felix Mendelssohn vernehmen; in

seinem "Lehrbuch der Musikgeschichte" vertritt er folgende Einschätzung:

 

“Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette, die bald behende, bald etwas

sentimentale Kammermusik, die freundlichen Orgelsonaten verblaßten vorzeitig infolge“ursacheloser Schwermut” und einer gewissen Glätte, die Überdruss erregte.”

 

Arnold Schering sekundiert Moser im gleichen Jahre im Bemühen, alten Geist in

vermeintlich neuen Zeiten lebensfähig zu halten. In den in Leipzig herausgegebenen

Betrachtungen "Vom musikalischen Kunstwerk" veredelt er die Vorstellung vom

künstlerischen Heros auf bezeichnende Weise.

 

In der Person des autonomen künstlerischen Genius Beethoven sucht er den Heros

demonstrativ von der kleinbürgerlichen, vermittels sentimentaler Musikerromane und –

filme transportierten, Popularisierung einer Stereotype des armen musikalischen Poeten

unterm Dache, zu separieren. Schering nimmt dabei in Kauf, dass der im Jahre 1824

verstorbene Beethoven sich anachronistisch zu einer Problemstellung zu äußern hat,

welche sich nachweislich erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ausprägte.

 

„Damals kam die Legende auf, ein grosser Künstler – insbesondere ein Tonkünstler –

müsse jederzeit ein grosser Leidender am Leben gewesen sein. Wo, bei Gott, sollte

sonst die überzeugende Macht seiner Schöpfung herkommen?

 

134

 

 


 

Als klassisches Beispiel galt Beethoven. Kein anderer als dieser selbst, der männlichste

unter den Klassikern, hat sich schärfer gegen diesen Aberglauben gewandt, in dem er

das Wort sprach:

 

„Die meisten Menschen sind gerührt über etwas Gutes, das sind aber keine

Künstlernaturen. Künstler sind feurig, aber sie weinen nicht – Rührung paßt nur für

Frauenzimmer; dem Manne muss Musik Feuer aus dem Geist schlagen.“

 

Also muss auch Ludwig van Beethoven als Zeuge der zu jener Zeit weit verbreiteten

Ansicht herhalten, dass die Poesie und der musikalische Humanismus eines Felix

Mendelssohn im Reich wahrhaft grosser Musik keinen Raum haben könne.

 

Demgegenüber wurde im angloamerikanischen Sprachraum ein objektiverer Umgang

mit musikhistorischen und –ästhetischen Entwicklungen, also auch dem musikalischen

Erbe Felix Mendelssohns respektive seiner unangezweifelt bedeutsamen

musikgeschichtlichen Stellung praktiziert als im deutschsprachigen Raum nach dem

Kriege. Das beweisen zeitgenössische Musiklehrwerke der Exilanten Arnold Schönberg

und Paul Hindemith, die Studienbeispiele aus Mendelssohns Werken zur

Veranschaulichung von musikalischer Präzision und Formbeherrschung anführen.

 

Desgleichen gab die "Musical Times" im Leitartikel der Oktoberausgabe des Jahres

1947 (möglicherweise im Vorgriff auf Mendelssohns 100. Todestag am 4.11. dieses

Jahres) zu Bedenken:

 

„Seitdem das handwerkliche Können des Komponisten auf der Suche nach neuen

Wirkungen an einem Stagnationspunkt angelangt ist, wird die Eleganz der Technik und

Formgebung, für die Mendelssohn so charakteristisch ist, wieder bewundert, nicht ganz

neidlos. Er zählt nunmehr zu der erlesenen Schar jener Komponisten (Mozart und Ravel

gehören dazu), die genau wussten, wie viel Noten zu schreiben und wie sie anzuordnen

(sind)".

 

Im Jahre 1950 veröffentlichte der Publizist Friedrich Herzfeld (vor allem bekannt

geworden durch sein Dirigentenkompendium "Magie des Taktstocks") indes eine

volkstümliche Musikgeschichte unter dem Titel "Du und die Musik -eine Einführung für

alle Musikfreunde"; erschienen im Ullstein Verlag/ Frankfurt-Berlin. Auf den Seiten 226 29

nimmt er auch zu Person und Lebenswerk Felix Mendelssohns Stellung. Einmal

mehr werden tradierte abwertete Stereotypen von Milde, Sentimentalität,

Nachrangigkeit und Kleinmeisterei versammelt.

 

Herzfeld macht Mendelssohns großbürgerliche Herkunft für die vermeintliche Schwäche

seiner Tonsprache verantwortlich und kommt nahezu zu dem Schluß, dass

Mendelssohn in der Durchführung seines musikalischen Lebensentwurfes letztendlich

gescheitert sei.

 

"Nach der Hochglut eines Erzromantikers wie Berlioz nimmt sich das Feuer deutscher

Romantiker wie des in Kassel wirkenden Geigenmeisters Louis Spohr oder eines Felix

Mendelssohn-Bartholdy" zahm aus. (...) Die milde Temperatur seiner (Mendelssohns)

Persönlichkeit suchte das Neue nicht auf so erregende Weise. Mendelssohn war ein

echter Vertreter des Grossbürgertums, wie es sich in diesen politisch ruhigen Jahren

entwickelte. Im Hause seiner Eltern (…) in Berlin verkehrte alles, was Rang und Namen

hatte. Dieses Bürgertum neigte zur Weichheit bis zur Sentimentalität. Die Tränen allzu

reger Empfindung, die in den Versen von Heinrich Heine oft fließen, begegnen uns bei

Mendelssohn wieder.

 

135

 

 


 

Um Gegenkräfte zu entwickeln, versuchte er die kontrapunktische Kunst Bachs und

Händels zu erneuern. Es ist aber nicht alles zu allen Zeiten möglich. Die Fugen

Mendelssohns sind von den alten Fugen himmelweit entfernt. Auch seine Oratorien

Elias und Paulus, die er nach Vorbildern Händels schrieb, haben vor dem Ansturm der

Zeit an Geltung verloren. (...)

 

Offenbar gehörte Mendelssohn zu denen, die im kleinen am größten sind. Seine

Lieder ohne Worte haben in der Hausmusik des neunzehnten Jahrhunderts

begreiflicherweise eine grosse Rolle gespielt. Es gehörte in der Generation unserer

Groß-und Urgroßeltern zur guten Bildung, sich von diesen einschmeichelnden Weisen

durch die Lagunen von Venedig führen zu lassen. (...)

 

Alle Anerkennung seiner Meisterschaft hat nicht verhindern können, dass sein Bild

mit den Jahrzehnten allmählich, aber unaufhaltsam verblasste."

 

Am Ende seiner Mendelssohn-Betrachtungen gereift der Verfasser erneut auf die

Metapher vom Heros in der Kunst zurück, der Mendelssohn Herzfeld zu Folge

möglicherweise nicht gerecht worden sei. Obgleich Herzfeld diese Sichtweise auf

musikalisches Wirken durchaus als romantizistisches Relikt in Frage stellt, hindert es ihn

doch keineswegs daran, sich ihrer selbst in der Mendelssohn-Infragestellung indirekt zu

bedienen:

 

"Es war nicht nur Spott, wenn man behauptet, es sei ihm im Leben immer zu gut

gegangen. Dass das Genie darben müsse, war auch eine romantische Vorstellung. Für

die Eingebung von oben müsse es durch Leid empfänglich gemacht werden.

Künstlerschaft war danach ein Ersatz für Lebensglück. Zur Quelle der Kunst wurde das

Leid. Dass sich die Not niemals an Mendelssohns Fersen heftete, wäre danach die

Ursache für seine allzu grosse Gefälligkeit und Untiefe."

 

Der Münchner Merkur attestierte der Musikgeschichte u. a.: "Sie kann insbesondere

Laien und Jugendlichen empfohlen werden, da sie in warmherziger, leichtverständlicher

Form (...) alles Wissenswerte von den Anfängen der Musik bis zur unmittelbaren

Gegenwart vermittelt."

 

Es stimmt im Nachhinein bedenklich, dass ein Buch, welches gerade Laien und

Jugendlichen zur Lektüre anempfohlen wurde, auch nach dem Kriege einer

nachwachsenden Generation von Musikfreunden wiederum ein einschlägig

klischeebeladenes, verzerrtes Mendelssohn-Bild vermittelte. "Du und die Musik" wurde

im Jahre 1962 im Deutschen Bücherbund, Stuttgart/ Hamburg wieder veröffentlicht.

 

Friedrich Herzfeld war in den Zeiten des III. Reiches als Musikpublizist und Rezensent

tätig, u.a. für die "Allgemeine Musikzeitung", Leipzig und "Die Musik", Berlin. In der

Neuauflage des "Lexikon der Juden in der Musik" des Amtes Rosenberg wurde er dann

allerdings als "Mischling zweiten Grades eingestuft, dessen Schriften damit für die

Parteiarbeit entfallen" (Herbert Gerigk, „L. d. J. i. d. M“., Editorial).

 

Im Jahre 1950 wurde das im Jahre 1934 erschienene Atlantisbuch der Musik vom

Atlantis-Verlag in Zürich neu veröffentlicht. Als Herausgeber wirkten Fred Hamel und

Martin Hürlimann. Somit ist die Gelegenheit gegeben, einmal die Mendelssohn-

Betrachtung vom Standpunkte eines deutschsprachigen Nachbarlandes, der Schweiz,

zu überprüfen.

 

136

 

 


 

Wieder einmal ist dort, wie sich zeigt, die Notwendigkeit zum Monumentalen,

Heroischen das Maß aller musikalischen Dinge, dem ein Felix Mendelssohn auf Grund

allzu sorgenlosen Lebenswandels schicksalsbedingt nun einmal nicht habe entsprechen

können. Der Verfasser Fred Hamel macht dies denn auch für vermeintliche eklatante

Mängel und Schwächen sowie Epigonentum in Mendelssohns symphonischer Sprache

verantwortlich.

 

"Denn eines war dieser Kunst wie diesem Leben vorenthalten: die äußeren

Reibungen und inneren Spannungen, die zum Monumentalen unerläßlich sind. Das

Schicksal, das diesen Künstler der kämpferischen Problematik enthob und ihm

zwischen Freiheitskriegen und Märzrevolution symbolische Grenzen zog -dieses

Schicksal verwehrte ihm auch den eigentlich symphonischen Atem. So fehlt seinen

Sinfonien im grossen die stilgeschichtliche Bedeutung; sie folgen fremden Spuren "

Schottische" und "Italienische" dem klassischen Formideal, der "Lobgesang" der

Sinfoniekantate nach dem Muster von Beethovens "Neunter", die "Reformationssinfonie"

programmmusikalischen Einflüssen."

 

Was schreibt Walter Georgi im gleichen Werk über Mendelssohns Klaviermusik? Er

repetiert erneut Wagners Invektive vom Mangel an Wärme und Tiefe in der Musik eines

jüdisch-stämmigen Komponisten, verweist des weiteren auf das Stereotyp der

vermeintlichen Sentimentalität von Mendelssohns Musik.

 

"Sein Bestes gibt er in leicht und zierlich dahinhuschenden Sachen (Charakterstück

Nr. 7, Lied ohne Worte Nr. 47, Scherzo Werk 16/2, Rondo Capriccioso) Als

gewandtester Kontrapunktiker unter den Romantikern verfügt er über einen vornehmen,

frei polyphonen Klaviersatz (...) Aber dieses Formgenie kann nicht darüber

hinwegtäuschen, dass ihm etwas Wichtiges fehlt: Tiefe und Wärme der Empfindung.

Mendelssohn vermag kein Adagio zu schreiben. Vieles von seiner Musik ist verblaßt.

Ihre weichliche Sentimentalität wirkt nicht immer erfreulich (...) Mendelssohns zwei

Konzerte und drei Konzertstücke verschwinden immer mehr aus dem Konzertsaal"

 

Helmut Osthoff hingegen merkt über Mendelssohns Kompositionen für Streicher solo

an:

 

"Von Felix Mendelssohn besitzen wir eine Violinsonate und zwei (...) Sonaten für Cello

und Klavier. Die letzteren sind für beide Partner dankbar, rechnen aber ebenso wie die

Violinsonate nicht zu den erstrangigen Werken der Gattung. Ein grosser Wurf gelang

Mendelssohn dagegen mit seinem Violinkonzert in e-moll, op. 64 (1845). Wir verhehlen

uns heute nicht, dass Mendelssohns Konzert letztlich durch seine blendende äußere

Aufmachung besticht."

 

Auch hier gesteht der Verfasser Qualitäten in Mendelssohns Musik nur vorbehaltlich zu;

geht seine Beschreibung der Werke stets mit abwertenden Urteilen einher. Ausdruck

persönlicher Vorbehalte des Autors oder Zeichen dafür, wie tief die jahrzehntelang

gepflogene Dramaturgie der Mendelssohn-Negation Betrachtung und Urteil jener Zeit

doch geprägt hatte?

 

Martin Hürlimann beschwört in seinen Betrachtungen über den Dirigenten Mendelssohn

das Bild eines unverbindlichen urbanen (jüdischstammig konvertierten?) Großbürgers

im Musikergewande herauf, ein Bild, das uns in den Darlegungen Walter Abendroths in

deutlich antisemitischer Zielrichtung entscheidend wiederbegegnen wird:

 

137

 

 


 

"In ähnlicher Weise, konservativ in seinen Kunstanschauungen, liebenswürdig und in

vornehmer Zurückhaltung wirkte Mendelssohn von 1835 bis zu seinem Tode 1847 als

Dirigent des Gewandhaus-Orchesters in Leipzig"

 

In der Betrachtung der "Sommernachtstraum"-Musik pflegt auch Otto Riemer das

Stereotyp vermeintlicher Oberflächlichkeit von Mendelssohns Musik. Des Weiteren

verweist er auf die Neuvertonungen der 30ssiger und vierziger Jahre, ohne mit einem

einzigen Wort den Hintergrund eines Musiknotstandes durch das regimebedingte Verbot

der Mendelssohn-Komposition im "III.-Reich", ja die Beauftragung zur Schaffung von

Neukompositionen durch die Machthaber zu erwähnen.

 

„Die außerordentliche melodische Leichtigkeit, die Mendelssohn auszeichnete und

die ihm nicht immer zum Vorteil gereichte: hier in diesem märchenhaften Koboldspiel

gab sie die glücklichste Ergänzung der Dichtung. In jüngster Zeit haben auch Edm. Nick,

Julius Weissmann und Rudolf Wagner-Régenyi Kompositionen zu Shakespeares

"Sommernachtstraum" geschrieben."

 

Werfen wir nun wiederum einen Blick auf den zu jener Zeit in Westdeutschland

vorherrschenden Stand der Mendelssohn-Sicht:

 

“Doch für eine solche Aufgabe war Mendelssohn zu schwach. Körperlich zart,

niemals vor wesentliche Entscheidungen gestellt, woher sollten ihm Tatkräfte

zugewachsen sein, die nur in geistigem Ringen oder harten Auseinandersetzungen mit

dem Leben gedeihen. Mendelssohns Schaffen hat zu keiner Zeit Frucht getragen, es

war eine Fülle von Blüten, die bald welkten und nicht viel mehr zurückließen, als einen

wehen Duft.“

 

Der Verfasser dieser Zeilen, die einen vermeintlichen Mangel Mendelssohnscher Musik

vor allem aus schwachem Erbgut heraus begründen, ist Otto Schumann. Sie wurden

seinem im Jahre 1951 erschienen Handbuch der Klaviermusik entnommen. Diese,

unterschwellig die rassebiologischen Thesen des III.-Reiches reflektierende Sichtweise,

verwundert wenig, wenn man sich folgendes vor Augen hält: Es handelt sich um den

gleichen Otto Schumann, welcher 11 Jahre zuvor in seiner "Geschichte der Deutschen

Musik" die Aufarbeitung der Musikgeschichte explizit den Aspekten des Rassenprinzips

unterwarf und somit schrieb:

 

"Hätte Mendelssohn eine Musik geschrieben, die seiner rasseseelischen Beschaffenheit

entsprach, dann könnte sich vielleicht das Judentum eines grossen Komponisten

rühmen."

 

Im Jahre 1954 gab Schumann ein Handbuch der Orchestermusik heraus; erschienen im

Heinrichshofen Verlag, Wilhelmshaven.

 

In diesem nimmt Schumann noch eindeutiger Bezug auf seine Tätigkeit

ideologienahen, völkischen, von antisemitischen Überzeugungen geprägten

Publizierens in Zeiten des Nationalsozialismus. Schumann paraphrasiert darin Zeilen

und Sichtweisen aus der "Geschichte der Deutschen Musik" aus dem Jahre 1940

nahezu wortwörtlich -ein Faktum, das einmal mehr veranschaulicht, wie nachhaltig

ideologische Positionen des N.S.-Faschismus in Kultur und Gesellschaft der BRD zu

verankern möglich war.

 

Gleich zu Beginn der Mendelssohn-Darlegungen schreibt Schumann im Jahre 1954

also:

 

138

 

 


 

"Schon seit Jahrzehnten sind immer neue Stimmen laut geworden, die gegen eineÜberschätzung Mendelssohns zu Felde zogen. Umstritten wurde -übrigens schon zu

Lebzeiten des Komponisten -der innere Gehalt seiner Tonschöpfungen. Seine

ungewöhnliche Form und sein erstaunlicher Formensinn geben den Werken zumeist

eine Glätte, die unbehaglich wirkt."

 

Im unmittelbaren Vergleich dazu nun die Sichtweise des Jahres 1940:

 

"Die fast ein Jahrhundert währende Mendelssohn-Schwärmerei ist um so

unbegreiflicher, als zu allen Zeiten Männer aufstanden (schon als Mendelssohn noch

lebte), denen seine Musik allzu glatt erschien, -ein Urteil, das auch die unentwegtesten

Mendelssohn-Verehrer nicht bestritten."

 

Auch die ferneren Darlegungen Schumanns aus dem Jahre 1954 lassen eine

Verwurzelung in völkischem Denken unausgesetzt spüren: Stellenweise befleißigt

Schumann sich gar der Tatsachen-und Geschichtsfälschung, indem er die von

Mendelssohn begründete Tradition des Leipziger Konservatoriums unterschlägt.

 

"Der Deutsche hat ein ganz besonderes Verhältnis zur Form: er weiß sie zu

schätzen; aber sie ergreift ihn nur dann, wenn sie sich darstellt als letztes Ergebnis

inneren Ringens. (...) Mag er sich zuweilen an ihr ergötzen -zum tiefem Erlebnis wird

sie ihm nicht.

 

Mendelssohn aber ist der Meister der nur "schönen" Form. Seine melodische Erfindung,

sein thematischer Aufbau und die instrumentale Einkleidung sind untadelig, aber zu sehr

nach Maß gefertigt. (...) Entsprechend seiner Formensprache hat Mendelssohn

instrumentiert: glatt, sorgsam getönt, alle Ausbrüche werden vermieden -MUSSTEN

vermieden werden, weil in Mendelssohn kein vulkanisches Feuer brannte.

Überzeugender noch als die Meinung mag die Geschichte reden: Mendelssohns

Schaffen hat keine Nachfolger gefunden. Man hat ihm Einzelheiten abgelauscht, aber

die Glätte seines Musizierens hat sich niemand zu eigen gemacht (außer den

Edelkitsch-Komponisten der "Salonstücke")".

 

Was lesen wir zur "Italienischen" Symphony:

 

"1833 (...) wurde die "Italienische Sinfonie" aufgeführt. Auch sie geht auf Eindrücke

einer Reise zurück. Sah der Jüngling in Schottland wenigstens noch etwas ähnliches

wie Konfliktstimmung, so fand er, wie es scheint, in Italien eine gänzlich problemlose

Welt vor. Wirklich "Italienisches" tönt nur im Schlußsatz auf (...) Aber weder das Allegro

vivace (...) noch die d-moll Ballade des Andante con moto haben etwas Italienisches,

und der dritte Satz. (...) mit seinem anmutigen Ländler und den "romantischen"

Hornklängen (...) weisen vollends auf Deutschland zurück".

 

Wie auch die Zeilen zur "Italienischen" Symphony" sind Schumanns Bemerkungen zu

den Konzerten für Klavier und Orchester vom Bemühen geprägt, abfälliges über die

genannten Werke vorzubringen:

 

"Bis in die allerjüngste Vergangenheit reichen die Versuche, Mendelssohns

Klavierkonzerte neu zu beleben. Diese Versuche dürften vergeblich sein. Von dem

zweiten Klavierkonzert rückte schon Schumann höflich ab, und es ist doch wohl kein

Zufall, daß auch das erste Klavierkonzert (...), einst ein Schlager, der "auf keinem

Programm fehlen durfte", längst Seltenheitswert bekommen hat. Mendelssohns Absicht

war es, dem hohlen Virtuosenkonzert seiner Zeit etwas technisch Einfacheres und

musikalisch Wertvolleres entgegenzusetzen.

 

139

 

 


 

Das ist ihm mit seinem ersten Konzert auch gelungen, (...) weil es dem Pianisten "in der

Hand liegt", ohne großen Virtuosenaufwand konzertmässige Wirkung hervorbringt (...)

Doch einmal hat die Romantik bald stärkere Werke hervorgebracht, und zum anderen

haben wir heute Klavierkonzerte, deren Zielsetzung der Mendelssohnschen

gleichkommt, deren Geist uns aber näher ist".

 

Einen bemerkenswerten Ausbruch aus der uniform tendenziellen Sichtweise, welche

Schumanns bisherige Darlegungen prägt, vollzieht sich allerdings in der Vorstellung des

Violinkonzertes. Schumann verfällt in der Schilderung der musikalischen Vorzüge

desselben phasenweise in einen geradezu hymnischen Tonfall, obgleich er im

Klaviermusikführer ja unmissverständlich konstatierte, dass " Mendelssohns Schaffen

zu keiner Zeit Frucht getragen" habe. Das Bemühen um Rückkehr in die bislang an den

Tag gelegte "Objektivität", also tendenziell abfällige Einschätzung Mendelssohns, ist

denn auch immer wieder zu bemerken.

 

"Bedeutend und unverblasst steht dagegen das Violinkonzert vor uns. (...) Nach

Meinung des Verfassers reicht es fast in die Nähe der drei grossen Geigenkonzerte von

Beethoven, Brahms und Tschaikowsky. Form, Erfindung und Gestaltung sind hier

Einheit geworden wie sonst in keinem anderen Werke Mendelssohns (...) Von erlesener

Schönheit und ergreifender Wirkung das (...) zweite Thema. (...) Die Durchführung stellt

an den Hörer keine großen Ansprüche, weil ihre Größe in ihrer Einfachheit besteht. Vom

Prestoschluß dieses Satzes leiten Halbtonschritte (...) in den zweiten Satz (...), ein Lied

ohne Worte von inniger Süße".

 

Ein kurzer Blick nur in das Handbuch der Chormusik und des Klavierliedes Otto

Schumanns, 1953 wiederum im Herrmann Hübner Verlag, Wilhelmshaven erschienen.

Die Eröffnungszeile des Mendelssohneintrags führt sogleich in den vertrauten Tonfall

des Jahres 1940 hinein, variiert erneut eine zentrale These Schumanns aus jener Zeit:

 

"Schon manche seiner Zeitgenossen empfanden Mendelssohns Intrumentalwerk als

zu glatt und poliert, vermißten in ihnen echte Auseinandersetzungen geistlicher und

musikalischer Art, wie man das bei deutscher Intrumentalmusik für selbstverständlich

hielt. Da man derartige Ansprüche nur sehr schwer an schlichte Chorwerke stellen kann

und die zahlreichen Chorvereinigungen sich gern nach schlichten, dabei wohllautenden

Werken umtun, sind Mendelssohns geschmeidig geschriebene, gutklingende acappella-

Chöre schnell volkstümlich geworden"

 

In den Klavierliedkapiteln heisst es wiederum:

 

"Von Mendelssohns Klavier-Liedern ist man -nach der erstaunlichen Hochschätzung im

 

19. Jahrhundert -schon seit einem halben Jahrhundert abgerückt; ja man könnte sagen,

die wachsende Scheu vor dem Klavierlied habe sich erstmals deutlich bei

Mendelssohns Liedern gezeigt. Das allzu Glatte, Gefühlsselige dieser Weisen spricht

nicht mehr an. Rein kompositorisch bleibt ebenfalls vieles unbefriedigend. (...) So wie er

einige Hefte seiner Klavierstücke "Lieder ohne Worte " nannte, könnte man seine

meisten Klavierlieder als "Klavierstücke mit Worten" bezeichnen".

140

 

 


 

Intermezzo VII: Vom deutschen Hausbuche

 

 

Otto Schumann wurde im Jahre 1897 geboren. Er studierte Musikwissenschaft an den

Universitäten Frankfurt am Main und Leipzig. Danach war er als Musikkritiker

„zahlreicher“ Zeitungen und Publizist tätig. Otto Schumann starb im Jahre 1981.

 

Die akademische Ausbildung in Zeiten der Republik, die Vielzahl daraufhin

erfolgender Veröffentlichen, die Kontinuität des Publizierens in Zeiten des

Nationalsozialismus und der „BRD“, versinnbildlichen somit den Lebensweg eines

unbeirrbar deutschen bildungsbürgerlichen Intellektuellen oder vielmehr: eine klassische

deutsche Sachbuchkarriere des 20. Jahrhunderts.

 

Publikationen Otto Schumanns u. a.:

Meyers Opernbuch, Leipzig, 1938; Meyers Konzertführer, Leipzig, 1938; Geschichte der

deutschen Musik, Leipzig, 1940; Albert Lortzing, 1801-1851, Leipzig, 1941,

Neupublikation Opernbuch, Berlin, 1948; Neupublikation Opernbuch, Wilhelmshaven,

1948; Orchesterbuch, Berlin, 1949; Die jüngere Cambridger Liedersammlung, Torino,

1950; Schumanns Schauspielbuch, Wilhelmshaven, 1950, Wiederauflage

[Schauspielbuch], Wilhelmshaven, 1951; Schumanns Kammermusikbuch,

Wilhelmshaven, 1951; Klaviermusikbuch, Wilhelmshaven, 1952; Schumanns

Chormusik-und Klavierliedbuch, Wilhelmshaven, 1953; Neupublikation Opernbuch

,Wilhelmshaven, 1954; Neupublikation Handbuch der Orchestermusik, Wilhelmshaven,

1954, Kleine lateinische Formenlehre, Frankfurt am Main 1954, Das Manuskript,

Wilhelmshaven, 1954;

 

Wiederauflage Handbuch der Kammermusik, Wilhelmshaven, 1956; Neupublikation

Schauspielbuch, Stuttgart, 1958; Ich weiß mehr über die Operette und das Musical,

Wilhelmshaven, 1961; Wege zum Musikverständnis, Olten 1963; Wiederauflage

Handbuch der Klaviermusik, Otto. Wilhelmshaven, 1969; Wiederauflage Handbuch der

Opern , Wilhelmshaven, 1972; Quellen und Forschungen zur Geschichte des Orgelbaus

im Herzogtum Schleswig vor 1800, München, 1973; Wiederauflage Das Manuskript,

Wilhelmshaven, 1977; Wiederauflage Handbuch der Klaviermusik, Wilhelmshaven,

1977; Neupublikation Opernführer, Reinbek bei Hamburg, 1982; Neupublikation/ Imprint

Handbuch der Klaviermusik Schumann, München, 1982; Imprint bei Pawlak, Der große

Konzertführer Herrsching, 1982; Imprint bei Pawlak Der große Schauspielführer,

Herrsching 1983; Imprint bei Pawlak Der große Opern-und Operettenführer Herrsching,

1983; Handbuch der Kammermusik, Herrsching 1983; Neupublikation Das Manuskript

unter Grundlagen und Technik der Schreibkunst, Herrsching 1983; Wiederauflage

Imprint Der große Schauspielführer, Herrsching 1987; Wiederauflage Opernführer,

Reinbek bei Hamburg, 1989; Grundlagen und Techniken der Schreibkunst, Hamburg,

1995; Der neue Literaturführer, Weyarn, 1996.

 

Im Jahre 1955 legte der Musikjournalist und Autor Hans Schnoor ein musikalisches

Hausbuch mit dem Titel "Oper, Operette, Konzert" vor. Schnoor war in den Jahren 193345

als Musikkritiker tätig, dessen Rezensionen mit der Regimeideologie konform gingen.

 

Prieberg attestiert auch dem Nachkriegswirken Schnoors "antisemitischen Unterton"

und "Vokabular des NS-Journalismus von ehedem". Dies geschah wohl zu recht, da

man Schnoor bereits im Jahre 1956 in einer Sendung des Südwestfunks Baden Baden

nationalsozialistische Musikkritik" attestierte.

 

141

 

 


 

Schnoor führte daher einen Prozess gegen den Sender, doch die Gerichte gaben dem

Ausdruck in einem mehrjährigen Verfahren als "Wahrnehmung berechtigter Interessen,

zumal sich die Absicht einer Beleidigung weder aus der Form noch aus den Umständen

ergibt" statt. Wie berechtigt die Attestierung "nationalsozialistischer Musikkritik" erfolgte,

zeigt auch die Tatsache, dass Schnoor in einem Buch über zeitgenössische Musik

unausgesetzt von "Negermusik" spricht, wenn es um den von ihm ungeliebten Jazz

geht.

 

Schnoor engagierte sich im „III.-Reich“ des Weiteren in einer vom Amte Rosenberg ins

Leben gerufenen "Arbeitsgemeinschaft deutscher Musikkritiker". Dort war er nicht nur

als lokaler Funktionär, als Leiter der Ortsgruppe Dresden, sondern auch als Organisator

und Referent von Vortragsabenden tätig. Weitere Aktivitäten Schnoors zu

"Reichszeiten" galten u. a. Artikeln wie jenem: Peinliche Ehrenrettung des "Riemann".

"Deutsche Juden im neuen Musiklexikon". Dresdner Anzeiger, Nr. 73, 15. März 1939. In

besagter Publikation "Oper Operette Konzert" aus dem Jahre 1955, 29. Auflage 342

 

 

361. Tausend, Bertelsmann Lesering 1962) wird das Mendelssohn-Bild dann auch

erwartungsgemäß in jene bekannte Schieflage gebracht, ja vom Verfasser stellenweise

als gänzlich verblaßt umrissen. In dem, den einzelnen Komponistenportraits

vorangestellten musikgeschichtlichen Umriß kommt das Wirken des Felix Mendelssohn

Bartholdy in den relevanten Kapiteln "Revolution und Romantik" bzw. "Strömungen im

19. Jahrhundert" gar nicht erst zur Sprache.

"Über Beethoven, Weber, Berlioz, Liszt hinaus, kündigt sich das Jahrhundert

Richard Wagners an, das seine sinfonische Auflösung nach 2 Richtungen sucht: in den

Werken von Bruckner und Brahms. Mit diesen Namen ist eigentlich alles bezeichnet,

was bis zu Wagners Tode (1883) schöpferisch am werke bleibt, ohne unter den

Einflüssen des nihilistischen 19. Jahrhunderts zu verzagen"

 

In Sätzen wie jenen, verurteilt Schnoor das ausserhalb des Spektrums der genannten

Komponisten liegende zu musikgeschichtlicher Bedeutungslosigkeit. Wenig später

referiert Schnoor in sattsam vertrauter, entwertender, stereotypischer Weise über den

Komponisten Felix Mendelssohn und stellt des Weiteren das Ideal des humanistischen

Menschenbildes, welches dessen Musik prägt, in Frage:

 

"Mendelssohn war unbestritten die musikalische Autorität der Biedermeierzeit. (...) Das

konzertierende Virtuosentum zehrte von seinem außerordentlich vielfältigen Schaffen

ebenso wie die Hausmusik und der Kantor auf dem Lande. Was Mendelssohn und die

Mendelssohnianer mit Ihrer zur Glätte und Unverbindlichkeit, tieferen und echteren

Konflikten ausweichenden Kunst boten, entsprach genau den Bedürfnissen eines

selbstzufriedenen Publikums" (...) Erst Wagner und Brahms haben das Ideal des

"Mendelssohnschen Menschen" fragwürdig gemacht, und in unserer Zeit zeugen meist

nur noch vergilbte Blätter vom geschichtlichen Dasein einer biedermeierlichen

Romantikertums, dessen liebenswerte Seiten bis heute nachwirken."

 

Weitere Tätigkeitsnachweise Hans Schnoors vor und während des Krieges waren u. a.

Musikredakteur der "Neueste(n) Nachrichten" im Jahre 1922, "Leipziger Tageblatt" in

den Jahren 1923 -25, "Dresdner Anzeiger" in den Jahren 1926 -45. Des Weiteren

veröffentlichte er in den späten 30ssiger Jahren auch einen umfangreichen, 2-bändigen

Führer durch den Konzertsaal.

 

142

 

 


 

31. Der Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldetenUnmündigkeit oder vom Ende der "zeitlosen" Zeit

In den 50ziger Jahren kehrten auch vermehrt Emigranten nach Deutschland zurück,

welche sich einem neuen und besseren Deutschland zur Verfügung zu stellen sich

verpflichtet fühlten. Gegen ein Konglomerat vorbelasteter Koryphäen der Bereiche

Musik, Literatur, Theater, Film und Akademie, welche sich in Zeiten des Regimes im

Stande von Funktionären oder Mitläufern graduierten und profilierten hatten die

Remigranten stets einen schweren Stand.

 

Die Namen derer, welche, ausgeschlossen aus den etablierten Kollegenzirkeln

verbleibend, künstlerisch und institutionell untergraben, gemobbt, in einem Klima

erstarkender politischer Konservative und Kalten Krieges publizistisch und

parlamentarisch angefeindet, aus Positionen geekelt wurden, sind Legion.

 

Das Schicksal des Film-und Theaterregisseurs William Dieterle sei stellvertretend für

andere genannt: Dieterle, seinerzeit ein hochprominenter, erfolgreicher

Hollywoodregisseur kehrte Mitte der 50ziger Jahre nach Deutschland zurück und

inszenierte im Schauspielhaus Frankfurt, am Württembergischen Staatstheater

Stuttgart, bei den Salzburger Festspielen, am Stadttheater Basel, am Schillertheater in

Berlin, am Schauspielhaus Essen, am Zürcher Schauspielhaus sowie bei den Bad

Hersfelder Festspielen. Die wenigen Filme, welche er, nach glänzender Karriere in

Hollywood, in Europa realisierte, wurden von konservativ-reaktionären Kreisen in der

„BRD“ als "deutschfeindliche" Machwerke eines nach Hollywood emigrierten

Vaterlandsverräters diffamiert oder erwiesen sich als Publikumsflop. Erfolgreicher war er

als Regisseur von Fernsehfilmen, welche oftmals als Aufzeichnung seiner

Bühneninszenierungen entstanden. Anfang der 60ziger Jahre übernahm er erfolgreich

die Intendanz der Bad Hersfelder Festspiele. Wiederum nahmen konservativ-

restaurative Funktionäre und Medien Anstoß an seinem Wirken. Man verübelte ihn u.a.

den von ihm initiierten Theateraustausch mit der „DDR“ sowie die Bevorzugung junger

Schauspieler zu Lasten "grosser" Namen, welche sich aber zum Teil durch Karrieren in

der NS-Zeit diskreditiert hatten.

 

Schließlich wurde ihm sein Vertrag im Jahre 1965 nicht verlängert. Pläne, andere

Bühnen als Intendant zu übernehmen sowie Rückkehr-Bestrebungen nach Hollywood

zerschlugen sich. Ein Prozess gegen die Stadt Bad Hersfeld wegen ungerechtfertigter

Kündigung seines Vertrages als Intendant wurde verloren. Die Medien begannen, ihn

und sein Wirken zunehmend zu ignorieren. Im Jahre 1966 übernahm er das

Tournéetheaterunternehmen "Der grüne Wagen", ein Schritt, der langfristig sehr an

seiner Gesundheit und seinen Finanzen zehren sollte. Dieterle Starb am 8. Dezember

1972 an einer Erkältungskrankheit nach dem er gegen das Interesse seiner Gesundheit

für einen erkrankten Schauspieler in einer Produktion des "grünen Wagens einsprang

und sich somit körperlich ruinierte. Sie Beisetzung erfolgte im engsten Freundes-und

Familienkreise auf dem Friedhof von Ottobrunn in der Nähe von München.

 

Wie sollte der hochgebildete jüdische Musikpublizist Alfred Einstein da mit

nachdenklicheren Tönen bezüglich schwindender Mendelssohnrezeption in der BRD

gegenzuhalten vermögen? Jener Musikwissenschaftler, dem wir u. a. eine seinerzeit

hoch renommierte Mozartbetrachtung verdanken, welcher zuerst nach England und

dann in die Vereinigten Staaten emigrierte und dort unausgesetzt publizistisch tätig

blieb.

 

143

 

 


 

In "Die Musik der Romantik", erschienen in Wien im Jahre 1950, stellte er in verhalten-

analytischer Vorgehensweise die Spezifika und Elemente eindeutig heraus. Jene

Spezifika, welche die unausgesetzt humane Ansprache durch die Musik Mendelssohns

und somit den potentiellen Langzeitwert seines Wirkens bedingen. Es ist zugleich ein

demonstrativ vorgebrachtes Plädoyer gegen die sonstig unausgesetzt repetierten

Stereotypen von Glätte, Kälte und rein formeller Perfektion. Es heisst darin:

 

"Die Ebenmäßigkeit der Form seiner Sätze und seiner Zyklen ist nicht zu übertreffen;

aber über allen seinen Äußerungen glänzt etwas subjektives, rein romantischer

Schimmer, im Gefühlhaften – die Nachwelt nannte es Sentimentalität -, in einer

Mischung von Grazie und Humor, die, wenn ins Objektive gewendet oder gedeutet, als

die Elfenmusik seiner "Sommernachtstraum"-Ouvertüre erscheint, und schliesslich in

einer Leidenschaftlichkeit, die romantisch wirkt durch eine Art von Ziellosigkeit".

 

Und darin schliesslich findet sich der unverbildet hörende Mensch unserer Zeit in der

Musik des Felix Mendelssohn wieder. Wie in dem Kapitel, welches sich dem einstigen

ephemerischen Glückskinde widmete bereits erwähnt, waren die Umstände wahrhaftig

materieller und künstlerischer Prosperität nur eine Folie äußerlicher Wahrnehmung. Da

er, von den letzten beiden Lebensjahren einmal abgesehen, gesellschaftlich,

musikalisch und familiär perfekt funktionierte, den Ansprüchen hundertprozentig

genügte, teilte sich die Verlorenheit, welcher sich Felix Mendelssohn dessen ungeachtet

mit jedem Lebensjahre zunehmend überantwortet fühlte, nur durch seine Musik mit. Er

vermochte die Zeit und damit die Zeitenwende nicht aufzuhalten. Aggressiver

Kapitalismus, Industrialisierung und maschinelle Rationalisierung, das Heranwachsen

molochartiger Großstädte, politische Radikalisierung der gegeneinander agitierenden

revolutionären Parteien und prosperierender Nationalismus brachte diese eindeutig mit

sich.

 

Die humanistischen Ideale der Aufklärung, oder besser gesagt, der aufgeklärten

Bildungsbürgerschaft, welche ihn zeitlebens prägten, denen er sich verpflichtete, die

Wertschätzung gesellschaftlichen und menschlichen Ausgleichs, intellektueller, sittlicher

und religiöser Bildung, die Veredelung des Menschen durch die klassischen

künstlerischen Erfahrungswerte des Wahren, Schönen und Guten, verloren zunehmend

an Wert. Auch die Achtung vor der Kreatur und der in zahllosen Dichterworten so

eindringlich verherrlichten natürlichen Umgebung des Menschen schwand. Die

Menschen, die ihn prägten, die ihn auf seinem Lebensweg begleiteten, waren nahezu

alle dahingegangen: Zelter, sein bewunderter Lehrer, Goethe, der kindlich verehrte

Dichterfürst und Mentor, die Eltern Abraham und Lea, zuletzt Fanny, die seelisch und

musikalisch kongenial prädestinierte Schwester. Was sollte er in dieser neuen Zeit

vermögen, was konnte sie ihm bringen, er ihr geben?

 

Das Zeitalter der "Zeitlosigkeit", von der Heinrich Eduard Jacob in seinem Buche "Felix

Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit" spricht, war zu Lebzeiten Mendelssohns zu

Ende gegangen. Jenes Zeitalter bedingte einstmals die Abkehr von tagespolitischem

Rumor, vom den nationalistischen Exzessen der Burschenschaften, der Revolution, der

Reaktion und anderen Beunruhigungen in deutschen Landen, also den vielfältigen

oftmals kurzlebigen Vorfällen von "Zeit" zugunsten der Bewahrung und

Vervollkommnung des "Zeitlosen". Das Leben und Werk Johann Wolfgang von Goethes

stand dafür Pate und Modell. Im Todesjahre 1847 befand sich das Leben des Felix

Mendelssohn somit in einer substantiellen Krise. Briefe, welche in diesem Jahre verfaßt

wurden künden von tiefen Depressionen.

 

144

 

 


 

So schrieb Felix Mendelssohn im Sommer 1847: "Wenn Menschen kommen und

durcheinander sprechen, von allen Alltäglichkeiten und von Gott und der Welt, so wird

mir gleich so unsäglich traurig zumute, dass ich gar nicht weiss, wie ich´s aushalten

soll."

 

Nachfolgend bekundet er noch einmal dezidiert das Ende einer Ära; den Niedergang der

"Zeitlosigkeit" der klassizistisch-humanistischen Epoche: Ein großes Kapitel ist nun ebenaus, -und von dem nächsten ist weder die Überschrift, noch das erste Wort bis jetzt da.

Aber Gott wird es schon recht machen; dass paßt an den Anfang und den Schluß von

allen Kapiteln."

 

Dem grossen Rembrandt in Carl Zuckmayers inspiriertem, feinfühlig nachgestaltendem

gleichnamigen Historien-Script resümierte Mendelssohn, wie auch jener, am Ende

seines Lebens das fatalistisch substantielle Predigerwort Salomons von der Eitelkeit,

Müßigkeit allen menschlichen Tuns aus dem alten Testament. Es kommt nicht von

ungefähr, das uns diese letzten Jahre die erhabensten, von höchster melancholischer

Intensität erfüllten Werke des Komponisten beschieden. Dennoch blieb Felix

Mendelssohn Bartholdy dem neu anbrechenden Zeitalter die Antwort, was er diesem

spezifisch zu geben vermocht hätte, letztendlich schuldig. Er hat diese Krise nicht

überstanden und starb, bevor es ihn vollends zu erreichen vermochte. Und so schrieb

der Mendelssohn-Zeitgenosse Werner A. Lampadius zum Tode des Komponisten im

Nachruf so trefflich:

 

"Denn mit ihm ist für jetzt der letzte classische Geist aus Germaniens grosser

Bildungsepoche seiner irdischen Behausung entflohen.“

 

Welcher Mensch auch unserer Tage kennt es nicht, hat es nicht selbst schon einmal

erfahren: die Situation vollendeter Ausweglosigkeit, das Gefühl, das Leben gleite ihm in

allen Bereichen unaufhaltsam aus den Händen, den Zweifel am Sinn bisherigen Tuns

und künftigen Strebens, die von Einstein feinfühlig bemerkte substantielle Ziellosigkeit?

 

Dies, das Erspüren, Erleiden, Durchleben; das solidarische Mitfühlen und Überliefern

einer fragilen Conditio Humana in der Sprache der Musik wie auch das Bemühen

"zeitloses" musikalisch exemplarisch festzuschreiben und somit den Mitmenschen für

alle Zeit erfahrbar zu machen, ist die Aktualität, der Jetztzeitwert, welcher der Musik

Felix Mendelssohns unausgesetzt inne wohnt. Dies also ist ihre Botschaft an uns und

Nachgeborene!

 

Ulrich Schreiber resümiert das "Schicksal des Komponisten Felix Mendelssohn

Bartholdy" in seiner Betrachtung "Die Unbequemheit eines romantischen Klassizisten"

aus dem Jahre 1972 auf dem Cover einer Aufnahme der "Schottischen Symphony" mit

dem Gewandhausorchester unter Kurt Masur (Eurodisc/ Bertelsmann Club Ed. 1972)

denn auch mit vergleichbarem Resultat. Resignierend verweist er auf den hohen

Symbolcharakter Mendelssohnschen Lebens und Wirkens für die Befindlichkeiten, das

Sein oder Nichtsein eines prosperierenden, den gesellschaftlichen, kulturellen und

historischen Konsens erstrebenden deutschen Vaterlandes. Somit verdeutlicht sich der

Status Quo Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert -am Vorbilde Felix Mendelssohn

gemessen -in nahezu erschreckendem Ausmaße. Ein Deutschland -geeint oder nicht das

den strebsamen Humanisten Felix Mendelssohn Bartholdy nicht zu ertragen fähig

war, krankte an sich selbst und konnte somit keinen Bestand und keine Zukunft haben.

 

145

 

 


 

Eine Tatsache, welche die plangemäß vollführte Vernichtung von Millionen

Menschenleben und die Verheerungen an nahezu allem architektonisch-historisch

gewachsenem Kulturerbe durch Bomben auf deutschem Boden, anschaulich

hervorheben.

 

(Es) "begann eigentlich erst nach seinem Tod ein spezifisch deutsches zu werden. (...)

Was diesem kurzen Menschenleben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

widerfuhr, war die Konkretisierung der Popularphilosophie seines Großvaters Moses

Mendelssohn (...), Konkretisierung einer Lebensphilosophie, die -wäre sie nicht nur

Vorschuß bis zum Lebensende gewesen -die Zukunft Deutschlands über die zweite

Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis zu unserer Zeit hin hätte prägen können als eine

Synthese der Kantschen Aufklärungsphilosophie, als Ausweg des Menschen aus seiner

selbstverschuldeten Unmündigkeit. (...) Doch der Weg der Menschheit ist nicht jener der

Vernunft, nicht jener, der aus der Unmündigkeit herausführt. Mendelssohn, der als

Siebenjähriger protestantisch getauft wurde, hat vielleicht nur ein einziges Mal erfahren,

daß die deutsche Philosophie zwar für die Vernunft und gegen die Unmündigkeit focht,

daß sie aber kein Mittel besaß, einer Machtergreifung vorzubeugen, (...) als deren Folge

Vernunft und Mündigkeit ihres universal-humanen Wirkungshorizontes beraubt und zum

reinen Verfügungsobjekt einer sich rassisch auserkoren dünkenden Schicht werden

wurde".

 

Nachfolgend verweist Schreiber auf jenes einschlägige Zelterwort vom "Judensohne",

lässt dabei aber die Anwürfe auf den Strassen Berlins und Dobberans außer Acht.

 

Der Zwiespalt, welcher sich -Zelters Worten zufolge -zwischen den Positionen

Deutscher und Jude, Jude und Taufe, Lehrer und Meisterschüler unverkennbar auftat,

wird in der Biographie Mendelssohns allein dadurch offenbar, das jener sein

Deutschsein gerade in früher erwähntem Schreiben an den Lehrer exemplarisch für sich

einforderte.

 

Schreiber kommt denn auch folgerichtig auf die vermeintliche Unvereinbarkeit all dieser

Begriffe und Daseinszustände zu sprechen:

 

"Dass dieser Ausspruch zu einem hoffnungslosen Stigma werden sollte, wissen erst die

weit nach Mendelssohn geborenen: dass die einen ihn als Juden reklamierten, wo doch

in seinem Werk sich nicht ein einziger Takt von Synagogenanklängen findet, und dass

die anderen ihn als Christen für sich forderten, wo er doch Zeit seines Lebens sich nur,

und um so stärker, je weiter er auf seinen Reisen von der Heimat entfernt war, als

Deutscher fühlte."

 

Intermezzo VIII: Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind

 

Dies sind die Reden des Predigers des Sohnes

Davids, des Königs zu Jerusalem:

 

 

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel.

Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne?

 

 

Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde bleibt aber ewiglich. Die Sonne

geht auf und geht unter und läuft an ihrem Ort, dass sie wieder daselbst aufgehe.

 

 

146

 

 


 

Der Wind geht gen Mittag und kommt herum zur Mitternacht und wieder herum an den

Ort, da er anfing. Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Wasser nicht voller;

 

 

an den Ort, da sie her fließen, fließen sie wieder hin.

 

 

Es sind alle Dinge so voll Mühe, dass es niemand ausreden kann.

Das Auge sieht sich nimmer satt, und das Ohr hört sich nimmer satt.

 

 

Was ist´s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehn wird.

Was ist´s, das man getan hat? Eben das, was man hernach wieder tun wird;

und geschieht nichts neues unter der Sonne.

 

 

Geschieht auch etwas, davon man sagen möchte: Siehe, das ist neu?

Es ist zuvor auch schon geschehen in den langen Zeiten, die vor uns gewesen sind.

 

 

Man gedenkt nicht derer, die zuvor gewesen sind; also auch derer,

so hernach kommen, wird man nicht gedenken bei denen, die darnach sein werden.

 

 

Ich, der Prediger, war König über Israel zu Jerusalem und richtete mein Herz,

zu suchen und zu forschen weißlich alles, was man unter dem Himmel tut.

 

 

Solche unselige Mühe hat Gott den Menschenkindern gegeben, dass sie

sich darin müssen quälen. Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht; und

siehe, es war alles eitel und haschen nach Wind. (...)

 

 

Und richtete auch mein Herz darauf, dass ich erkenne Weisheit und erkenne Tollheit

und Torheit. Ich ward aber gewahr, dass solches auch haschen nach Wind ist.

 

 

Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens; und wer viel lernt, der muss viel leiden.

Ich sprach zu meinem Herzen: Wohlan, ich will wohl leben und gute Tage haben!

Aber siehe, das war auch eitel. (...)

 

 

Ich tat grosse Dinge: ich baute Häuser, pflanzte Weinberge; (...) ich hatte

Knechte und Mägde und auch Gesinde, (...) ich hatte eine größere Habe an

Rindern und Schafen denn alle, die vor mir in Jerusalem gewesen waren;

 

 

ich sammelte mir auch Silber und Gold und von den Königen und Ländern einen Schatz

(...) und nahm zu über alle die vor mir zu Jerusalem gewesen waren (...)

 

 

und alles, was meine Augen wünschten, dass liess ich ihnen und wehrte meinem

Herzen keine Freude, dass es fröhlich war von all meiner Arbeit;

und das hielt ich für mein Teil von aller meiner Arbeit.

 

 

Da ich aber ansah alle meine Werke, die meine Hand getan hatte und die Mühe, die ich

gehabt hatte, siehe, da war es alles eitel und haschen nach Wind

und kein Gewinn unter der Sonne.

 

 

Da wandte ich mich zu sehen die Weisheit und die Tollheit (...).

Da sah ich, dass die Weisheit die Tollheit übertraf wie das Licht die Finsternis;

dass dem Weisen seine Augen im Haupt stehen, aber die Narren

in der Finsternis gehen; und merkte doch, dass es einem geht wie dem anderen.

 

 

147

 

 


 

Da dachte ich in meinem Herzen: Weil es denn mir geht wie dem Narren,

warum habe ich denn nach Weisheit getrachtet?

 

 

Da dachte ich in meinem Herzen, dass solches auch eitel sei.

Denn man gedenkt des Weisen nicht immerdar, ebenso wenig wie des Narren,

und die künftigen Tage vergessen alles; und wie der Narr stirbt, also auch der Weise.

 

 

Darum verdroß mich zu leben; denn es gefiel mir übel,

was unter der Sonne geschieht, dass alles eitel ist und Haschen nach Wind.

 

 

Und mich verdroß alle meine Arbeit, die ich unter der Sonne hatte,

dass ich dieselbe einem Menschen lassen müsste, der nach mir sein sollte.

 

 

Denn wer weiss, ob er weise oder toll sein wird? Und soll doch herrschen in aller

 

 

meiner Arbeit, die ich weißlich getan habe unter der Sonne. Das ist auch eitel. (...)

 

 

Denn es muss ein Mensch, der seine Arbeit mit Weisheit, Vernunft

und Geschicklichkeit getan hat, sie einem andern zum Erbteil lassen,

der nicht daran gearbeitet hat. Das ist auch eitel und ein großes Unglück.

 

 

Denn was kriegt der Mensch von aller seiner Arbeit

und Mühe seines Herzens, die er hat unter der Sonne?

 

 

Denn alle seine Lebtage hat er Schmerzen mit Grämen und Leid,

 

 

dass auch sein Herz des Nachts nicht ruht. Das ist auch eitel. (...)

 

 

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen

unter dem Himmel hat seine Stunde.

 

 

Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist,

würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen,

 

 

Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und

verlieren, behalten und wegwerfen, zerreißen und zunähen,

 

 

schweigen und reden, lieben und hassen,

Streit und Friede hat seine Zeit.

 

 

Man arbeite, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Mühe,

die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie darin geplagt werden,...

 

 

denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch

Ende (...) Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch

zuvor geschehen; und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist. (...)

 

 

Ich sprach in meinem Herzen: Es geschieht wegen der Menschenkinder,

auf dass Gott sie prüfe und sie sehen, dass sie an sich selbst sind wie das Vieh.

 

 

148

 

 


 

Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch,

und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh;

denn es ist alles eitel.

 

 

Es fährt alles an einen Ort; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub.

Wer weiss, ob der Odem der Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehs

unterwärts unter die Erde fahre?

 

 

So sah ich denn, dass nichts besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner

Arbeit, denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dahin bringen, dass er sehe, was nach

ihm geschehen wird? (...)

 

 

Ich sah an Arbeit und Geschicklichkeit in allen Sachen; da neidet

einer den andern. Das ist auch eitel und haschen nach Wind. (...)

 

 

Ich wandte mich und sah die Eitelkeit unter der Sonne. Es ist ein

einzelner (...) und hat weder Kind noch Bruder; doch ist seines Arbeitens

kein Ende, und seine Augen werden Reichtums nicht satt.

 

 

Wem arbeite ich doch und breche meiner Seele ab? Das ist auch eitel und eine böse

Mühe. (...) Wo viel Träume sind, da ist Eitelkeit und viel Worte; aber fürchte du Gott. (...)

 

 

Wer Geld liebt, wird des Geldes nimmer satt; und wer Reichtum liebt,

wird keinen Nutzen davon haben. Das ist auch eitel. (...)

 

 

Denn der Reiche kommt um mit großem Jammer, (...) wie er nackt ist von

seiner Mutter Leibe gekommen, so fährt er wieder hin, wie er gekommen ist,

 

 

und nimmt nichts mit sich von seiner Arbeit in seiner Hand, wenn er hinfährt.

Das ist ein böses Übel, dass er hinfährt, wie er gekommen ist.

Was hilft´s ihm denn, dass er in den Wind gearbeitet hat? (...)

 

 

Einer, dem Gott Reichtum, Güter und Ehre gegeben hat und mangelt ihm keins, das

sein Herz begehrt; und Gott gibt doch ihm nicht Macht, es zu genießen, sondern ein

anderer verzehrt es; das ist eitel und ein böses Übel. (...)

 

 

Es ist besser, das gegenwärtige Gut gebrauchen, denn nach anderem gedenken.

Das ist auch Eitelkeit und haschen nach Wind. (...)

 

 

Das habe ich alles gesehen, und richtete mein Herz auf alle Werke, die unter der Sonne

geschehn. Ein Mensch herrscht zuzeiten über den andern zu seinem Unglück.

 

 

Und da sah ich Gottlose, die begraben wurden und zur Ruhe kamen;

aber es wandelten hinweg von heiliger Stätte und wurden vergessen

in der Stadt die, so recht getan hatten. Das ist auch eitel. (...)

 

 

Es ist eine Eitelkeit, die auf Erden geschieht: es sind Gerechte,

denen geht es, als hätten sie Werke der Gottlosen - und sind Gottlose,

denen geht es, als hätten sie Werke der Gerechten. Ich sprach: Das ist auch eitel. (...)

 

 

149

 

 


 

Frühe säe deinen Samen und lass deine Hand des Abends nicht ab; denn du weißt

nicht, ob dies oder das geraten wird; und ob beides geriete, so wäre es desto besser.

 

 

Es ist das Licht süß, und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen.

Wenn ein Mensch viele Jahre lebt, so sei er fröhlich in ihnen allen und gedenke

der finstren Tage, dass ihrer viele sein werden, denn alles, was kommt, ist eitel.

 

 

So freue Dich, Jüngling, in deiner Jugend und lass dein Herz guter Dinge sein

in Deiner Jugend. Tue, was Dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt (...)

 

 

Laß die Traurigkeit aus deinem Herzen und tue das Übel

von deinem Leibe; denn Kindheit und Jugend sind eitel.

 

 

Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen

und die Jahre herzutreten, da du sagen wirst: sie gefallen mir nicht;

 

 

ehe denn die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden

und Wolken wieder kommen nach dem Regen; (...)

 

 

wenn man auch vor Höhen sich fürchtet und sich scheut auf dem Wege;

wenn der Mandelbaum blüht, und die Heuschrecke beladen wird,

 

 

und alle Lust vergeht (denn der Mensch fährt hin (...) und die Klageleute gehen umher

auf der Gasse) (...) Denn der Staub muss wieder zu der Erde kommen, wie er gewesen

ist. Und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

 

 

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, ganz eitel.

 

 

Laßt uns die Hauptsumme aller Lehre hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn

das gehört allen Menschen zu.

 

Denn Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen ist, es sei gut oder

böse.

 

Die Lektüre dieses hier in Auszügen wiedergegebenen, erhabenen alttestamentarischen

Textes verdeutlicht, wie folgerichtig Felix Mendelssohn Bartholdy denselben kurz vor

seinem Tode rezitierte. Reflektiert sich doch dessen gesamter Lebenswandel oder das

Spektrum seines Lebens bis hin zu der unmittelbaren seelischen Befindlichkeit der

letzten Monate in hoher Affinität in diesen Versen. Die Lektüre lässt uns auch

maßgeblich an der ethischen Persönlichkeit Mendelssohn teilhaben. Sie zeigt uns somit

auch den tiefgläubigen Menschen, welcher sein ganzes Leben dem Predigerworte

gemäß verbrachte.

 

Sich in maßgeblicher ethischer Selbstverpflichtung, bis hin zu Überlastung und

Überarbeitung in seiner musikalischen und somit humanistischen Tätigkeit, dabei

"fröhlich war in seiner Arbeit" und somit der Aussendinge, der "Eitelkeiten" wenig

achtete.

 

Oh ja, Felix Mendelssohn Bartholdy hatte die Jahre der Jugend, stetigen musikalischen

Wirkens zum Trotze, wahrlich genossen, sich "ihrer erfreut" und "liess sein Herz guter

Dinge sein".

 

150

 

 


 

Ehe denn die "bösen Jahre kamen", welche ihm nach und nach die Mitglieder seiner

Familie und andere geliebte Menschen vor der Zeit rauben sollten. "Eitel" erschienen am

Ende seines Lebens die Jahre jugendlicher Freuden und jene erfolgreichen,

musikerfüllten Mannestums.

 

Nichtig war ihm der Reichtum, den man ihm noch so häufig zum Vorwurf machen sollte.

Mendelssohn achtete des Geldes, der irdischen Güter nicht und verwandte es stets zum

Wohle der Familie, der ihm unterstellten Musiker, der Musik und anderen wohltätigen

Zwecken. Konnte es doch vom Streben eines ethisch angeleiteten Herzens nach

menschlicher Vollendung nicht für einen Augenblick freikaufen; es lediglich auf dem

Wege der Vervollkommnung begleitend und unterstützend zur Geltung kommen.

 

Nichtig erschien ihm am Ende seines Lebens auch sein musikalisches Schaffen, sein

unaufhörliches Bemühen um das Wohl des deutschen Musiklebens, mit welchem er

einstmals glaubte, zur Verschönerung der Welt, zur Verbesserung der Lebensumstände

auf ihr und in ihr beitragen zu können. Nichtig, "eitel", ein vergebliches "haschen nach

Wind" erschien ihm nunmehr das Streben um Vervollkommnung der musikalischen

Form und des musikalischen Ausdrucks, jenes Elementes also, das man später sooftmals in erklärter oder willfähriger Ächtung als "perfektionistische Glätte" seiner Musik

verunglimpfen sollte. Hätte er ahnen können, dass Wagner und Nationalsozialisten,

willfährige Musikwissenschaftler, Enzyklopädisten, Rezensenten und Adepten jedweder

Art es vermochten, die fatalistisch heraufbeschworene Nichtigkeit musikalischen

Mendelssohnschen Strebens nahezu dauerhaft zu bewahrheiten?

 

32. Grenzen in der Bedeutung dieser Musik

Gerhard von Westerman, als Musikfunktionär und Autor in den Kultur-und

Propagandabetrieb des "III. Reiches" seinerzeit fest eingebunden, legte im Jahre 1956

einen Konzertführer vor, welcher neben Hans Renners Standard-Veröffentlichung aus

dem Hause Reclam bis in die 70ziger Jahre hinein Allgemeinverbindlichkeit unter

Musikfreunden der „BRD“ besaß. Von Westerman war in der NS-Zeit als Intendant der

Berliner Philharmoniker tätig und gehörte im Jahre 1942 neben den Komponisten

Werner Egk und Paul Höffer, sowie Egon Kornrauth einer Kommission an, welche im

Auftrage des Propagandaministeriums über die publicityträchtige Verteilung finanzieller

Zuwendungen an zahlreiche prominente und nachgeordnete Komponisten zu befinden

hatte.

 

Er präsentiert in seinem Konzertführer Beschreibungen folgender Werke Mendelssohns:

des "Violinkonzertes in E-moll" op. 64., des "Klavierkonzertes in G-moll" op. 26, der

"Italienischen" und "Schottischen Symphony", der Ouvertüren "Hebriden", "Meeresstille

und Glückliche Fahrt", "Das Märchen von der schönen Melusine", und

"Sommernachtstraum"; sowie der Oratorien "Paulus" und "Elias" .

 

Dies stellt zugleich einen Überblick der Werkfolge, auf welche sich Felix Mendelssohns

umfangreiches Orchester-, Kammermusik und Vokalschaffen in Westdeutschland nach

1945 reduzierte, dar. Den Werkbetrachtungen gibt er einleitend Einschätzungen vorweg,

welche alle bislang dargelegten Traditionen und Stereotypen der Mendelssohn-

Rezeption innerhalb der Deutschen Musikwissenschaft der vergangenen 100 Jahre

bruchlos fortschreiben. Daneben stehen unumgänglich vorzubringende Worten der

Relativierung unhaltbarer Positionen des 19. Jahrhunderts sowie der Anklage von Nazi-

Willkür.

 

151

 

 


 

Es werden Einschätzungen vorgelegt, welche im Anspruche abschließenden

endgültigen Urteils die gültigen Invektiven der Mendelssohn-Verunglimpfung

zusammenfassen:

 

"Sein Leben war ein einziger Siegeslauf. Die glänzende musikalische Begabung, die

ihm (...) Erfolge über Erfolge eintrug, das Liebenswürdige seiner Persönlichkeit, das ihm

aller Sympathien verschaffte, die finanzielle Unabhängigkeit durch den grossen

Reichtum seines Vaters (...) -alle diese Glücksumstände wirkten zusammen (...).

Gegenüber dem unsteten Stürmer und Dränger Schumann (...) wirkte der überaus

frühreife Mendelssohn ruhig und überlegen in der klassischen Formbeherrschung. (...)

Man hat Mendelssohn daraufhin eine gewisse inhaltsleere Glätte vorgeworfen (...). Die

Wiederbegegnung mit seinen Werken nach dem sinnlosen Verbot in der

nationalsozialistischen Zeit zeigte dann deutlich die Grenzen in der Bedeutung dieser

Musik. (...) Seine Melodien vermögen ebenso zu rühren wie zu bezaubern, seine Musik

vermittelt Freude und Entzücken, zu ergreifen oder gar zu erschüttern vermag sie

allerdings in den seltensten Fällen. In der kleinen Form, etwa in den reizenden Liedern

ohne Worte oder im virtuosen Stil (...) konnte Mendelssohn sein Bestes geben."

 

33. Sein Platz nach Beethoven und Brahms ist ehrenvoll genug

Im Jahre 1965 erschien das "Musiklexikon" der "Deutschen Buchgemeinschaft" als

Nachdruck eines vormals veröffentlichten Lexikons aus dem Hause Ullstein.

Herausgeber war Friedrich Herzfeld.

 

Das Ullstein/ „DBG“-Musiklexikon wurde, enzyklopädischen Gepflogenheiten gemäß,

von einem wissenschaftlichen Autorenteam erarbeitet, die Beiträge selbst verbleiben im

Gegensatz zu Kompendien, welche den Artikeln zumindest ein Sigle zugestehen vollends

in der Anonymität.

 

Erneut ist der Felix Mendelssohn Eintrag eines Lexikons insgesamt von

Geringschätzung des Sujets Mendelssohn geprägt. Er irritiert des weitern durch die

merkwürdige Gepflogenheit, biographische Fakten weniger zu präzisieren, sondern

lediglich lakonisch anzudeuten, als ob es der genaueren Darlegung nicht wert wäre.

 

"F. M. trug seinen Vornamen Felix zu Recht, denn das Leben zeigte sich ihm von seiner

lichten Seite. Der Reichtum des Elternhauses erlaubte vielseitige Ausbildung.

Mendelssohn-Bartholdy wurde mit seiner Schwester Fanny im Klavierspiel unterrichtet.

(...)

 

1826, also mit 17 J.; komponierte M. die Ouvertüre zu Shakespeares

"Sommernachtstraum". Keines seiner späteren Werke konnte dieses geniale Stück

übertreffen. (...)

 

In solchen kleinen KlStücken (Klavierstücken, Anm. d. Verf.) zeigte sich M. von der

besten Seite. Als Zeugnisse seiner sensitiven Romantik entzücken sie durch

schmachtende Melodik und Formglätte. M.s Lieder ohne Worte waren daher für das

Bürgertum des 19. Jh. ideale HausMs. Gerade deshalb haben sie heute an Geltung

verloren. (...)

 

Eine Berufung als MusTheoretiker an die Berliner Univers. lehnte M. ab. Seiner

Bewerbung als Dirigent der Singakademie wurde nicht entsprochen. Daher trennte sich

 

M. von Berlin. (...)

152

 

 


 

M. offenbarte hier den Grundzug seines Tonschaffens: romantischen Ausdruck mit

klass. Form zu verbinden. Aus der Beschäftigung mit Bach erwuchsen für M. freilich

auch Gefahren, denn sein Kontrapunkt geriet nur äußerl. In größeren W. blieb ein

Zwiespalt zwischen Form und Inhalt (...)

Die OrgelW. verblaßten schnell. (...)

 

Nach der "Sommernachtstraum-Ouvertüre" war M. nie wieder so glücklich in der them.

Erfindung wie bei seinem VlKonz.e moll opus 64. Sein Platz nach Beethoven und

Brahms ist ehrenvoll genug. Ein halbes J. nach dem Tod der geliebten Schwester starb

 

M. ohne ersichtliche Krankheit."

34. "Diese Musik wurde ermordet" I

"Das Problem Mendelssohn" war demzufolge ein im Jahre 1972 von der musikwissenschaftlichen

Autorität Carl Dahlhaus in Berlin veranstaltetes Symposium betitelt, das

sich, dem dramatischen Titel zuwiderlaufend, nüchterner Analyse dramaturgischer und

kompositionstechnischer Fragen von Mendelssohns Musik widmete. Das wahre

Problem Mendelssohn fasst Heinrich Eduard Jacob in seinem engagierten

Mendelssohn-Portrait "Felix Mendelssohn und seine Zeit" von 1958 denn auch

symbolträchtig zusammen:

 

”Musik, wie sich erwiesen hat, ist durchaus nichts unsterbliches. Aber wie jedes

Zeitalter, dessen innerster Ausdruck sie ist, hat sie Anspruch auf einen natürlichen Tod.

Die Musik Felix Mendelssohns ist keines natürlichen Todes gestorben. Sie wurde

ermordet.”

 

Musikwissenschaftler in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik und

den USA bemühten sich ab Ende der 50ziger Jahre entschiedener um Relativierung und

grundlegende Neudefinierung eines vergangenheits-und gegenwartgerechten

Mendelssohn-Bildes. Die 2. Ausgabe der Zeitschrift "Musik und Gesellschaft" (DDR

1959) bezog sich in grossen Teilen auf den Anlass der Wiederkehr des 175.

Geburtstages des Komponisten.

 

Der Musikhistoriker Karl-Heinz Köhler, damals Leiter der Musikabteilung der "DeutschenStaatsbibliothek Berlin" (Ost), legte darin erstmals einen Überblick der Jugendwerke vor,

welche auch die handschriftlich überlieferten, in der bisherigen Gesamtausgabe

ausgeklammerten Werke einbezog. Der Beitrag ging mit den Vorbereitungen der

"Leipziger Ausgabe der Werke F. M. B." einher, welche in den ersten Bänden

ausschließlich unveröffentlichte Werke vorlegte und Mendelssohn somit in den Rang

anderer grosser Musiker erhob, die zeitgleich fundamentale, philologisch exakte

Gesamtausgaben erfuhren.

 

In einem anderen Beitrag setzte sich Georg Knepler eine auf Prämissen

musikhistorischer Objektivität gründende Gesamtwürdigung des Lebens und Werkes

Mendelssohns zum Ziel, die auch das weit reichende Feld der Analyse von

Spezialfragen bezüglich Mendelssohns Wirken ansprach. Mit dem Essay unternahm

Knepler die Vorveröffentlichung von Passagen seiner umfassenden Musikgeschichte

des 19. Jahrhunderts aus dem Jahre 1961, welche die dringlich gebotene Auflösung

 

153

 

 


 

einheitlich verstandener Betrachtung von musikalischer Werk-und Rezeptionsästhetik

des späten 19. Jahrhunderts vornahm, die Riemanns Enzyklopädie so nachhaltig

prägte.

 

In den USA wirkten beispielsweise Eric Werner und Donald Mintz im Sinne einer

objektiven Neusicht auf das Oeuvre Mendelssohns. Neben zahlreichen Essays, welche

sich mit Spezialfragen des Sujets befaßten, legte Werner im Jahre 1963 eine Biographie

des Komponisten vor, die Erkenntnisse aus bislang unveröffentlichtem Briefmaterial

bezog und mittlerweile als Standardwerk eingeschätzt wird.

 

In der bereits herangeführten Betrachtung Ulrich Schreibers von der "Unbequemheit

eines romantischen Klassizisten" nimmt der westdeutsche Autor auch eine

Bestandsaufnahme vom Tageswert Mendelssohnscher Musik in den 70zigerJahren vor.

Dabei kommt in behutsam allegorischer Verklausulierung auch die massive Präsenz

ehedem nationalsozialistisch geprägter Funktionäre in allen Bereichen

bundesdeutschen Musiklebens zur Sprache.

 

"Sicherlich wäre es unsinnig, vom Deutschen Musikbetrieb eine Wiedergutmachung an

einem lange diffamierten Komponisten zu verlangen; denn dieser Musikbetrieb ist selbst

derart hoffnungslos stigmatisiert, dass von ihm keine Klärung seiner Zukunft über eine

Bewältigung der Vergangenheit zu erhoffen ist.

 

Denn eines steht fest: bis auf eine oder 2 Ouvertüren, bis auf eine oder 2

Symphonien, bis auf das Violinkonzert schliesslich ist Mendelssohn heute tot. Seine

Chormusik, seine Streichquartette, seine Lieder ohne Worte, das alles ist vergessen,

weil niemand sich Gedanken darüber macht, dass in der Musik dieses klassischen

Romantikers geradezu paradigmatisch das zum Ausdruck kommt, was heute noch

unser Musikleben...ausmacht: eben die kanonischer Verbindung von Klassik und

Romantik."

 

35. Das erreichbare Höchstmaß an Glätte und Ausgeglichenheit...

Im Nachbarstaat Österreich wiederum ist die Tradition der Mendelssohn-Pflege unter

umgekehrtem Vorzeichen, also einschlägigen ästhetischen Vorbehalten gegen seine

Musik auch in neuerer Zeit zumindest partiell nachweisbar. Der Verlag „Jugend und

Volk“ (!) Wien beschied den im Verlagsnamen genannten Zielgruppen im Jahre 1970 im

„Symphoniekonzert – ein Stilführer durch das Konzertrepertoire“, daß: „die

Vollkommene Beherrschung der kontrapunktischen Technik und sein spezieller Sinn für

das Verbindliche (...) ihn (Mendelssohn) zu einem symphonischen Stil (führten), der das

erreichbare Höchstmaß an Glätte und Ausgeglichenheit erzielte“

 

In der Betrachtung der 4. Symphony – die "Italienische" interpretiert der Autor Rudolf

Klein des Weiteren den Werkcharakter ausschließlich aus schriftlich niedergelegten

Impressionen heraus, welche das Land Italien beim Komponisten hinterließ.

 

Klein behauptet, daß „für ihren (der 4. Symphony) Charakter (...) bezeichnend (ist), was

der Komponist über seine Empfindungen in Italien schrieb: „Ich habe mir den ganzen

ersten Eindruck von Italien wie einen Knalleffekt, schlagend, hinreißend gedacht; -so ist

es mir bis jetzt nicht erschienen, aber von einer Wärme, Milde, Heiterkeit, von einem

über alles sich ausbreitenden Behagen und Frohsinn, daß es unbeschreiblich ist.“

 

154

 

 


 

Behagen und Frohsinn sprechen auch aus dem Werk, daß direktere Beziehungen zu

seinem Titel nur durch den letzten Satz schafft, einem Saltarello, in dessen Rhythmik

und Melodik die Tarantella des Italieners eingefangen scheint.“

 

Da diese, ohne jeden Hinweis auf Quelle und Datum herangeführte Konstatierung

impliziten Klischees bezüglich „Wärme, Milde und Heiterkeit“ aus dem Munde des

Komponisten selbst in keinem erkennbaren Zusammenhang zur Komposition steht,

erscheint die Vorgehensweise Kleins, eine Werkinterpretation nicht aus der Analyse

konkret vorgelegter Musik, sondern aus autonomen biographischen Subjektivismen

herzuleiten, als fragwürdig und tendenziell.

 

Übereinstimmung oder Abweichung der Mendelssohn-Rezeption Österreichs bis zum

„Anschluss“ im Jahre 1938 und nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes;

des Weiteren die Mendelssohn (und Meyerbeer)-Rezeption in der deutschsprachigen

Schweiz vollständig nachzuvollziehen, dies Thema wäre wiederum einer eigenständigen

Untersuchung wert.

 

36. Philosophische Musici: vom Gewandhausdirecteur Moses Mendelssohn

Der Komponist und Musikpublizist Walter Abendrot war in den Jahren des III. Reiches

aus einem Freundeskreis um den in nationalistisch-antisemitischer Zwiespältigkeit

befangenen Komponisten Hans Pfitzner heraus als Agitator gegen ”jüdische

Musikzersetzung” und neue Musik tätig. Er verkündete nach 1945 u. a. als

Feuilletonchef der renommierten Wochenzeitung "Die Zeit", Gründungsmitglied der

"Freien Akademie" in Hamburg und Autor weiterhin Lehrmeinungen latent

antisemitischen Charakters.

 

In einer Ende der sechziger Jahre erschienenen "Kurzen Geschichte der Musik"

zeichnet er so mit ausgesucht freundlichen, diffamierenden Worten das Portrait eines

charmanten, oberflächlichen jüdischen Dandys:

 

”Ein anderes Berliner Bankhaus bescherte der deutschen Musikromantik ihren

urbansten Vertreter: den liebenswürdigen, eleganten, formgewandten und

lebenstüchtigen, heiter-gebildeten und jünglinghaft-verschwärmten Felix Mendelssohn-

Bartholdy.”

 

Wenige Zeilen später verläßt er die Ebene wohlwollenden Kulturplauderns zugunsten

deutlicher Worte:

 

”Es unterliegt keinem Zweifel, das (...) das Violinkonzert die Geiger immer anziehen

wird, von den Klavierkompositionen die Lieder ohne Worte beste Hausmusik sind, auch

in gewissen dünnblütigen Nummern, die dann wieder durch ihre spielerische Leichtigkeit

entschädigen. Die beiden Oratorien Paulus und Elias haben uns nicht mehr allzu viel zu

sagen, desgleichen die meiste Kammermusik, die Psalmen, Motetten, Lieder und jene

Art von Männer-und gemischten Chören, an denen sich biergemütliche

Gesangsvereine jahrzehntelang nicht ersättigen konnten.”

 

Die "Kurze Geschichte der Musik" Walter Abendroths wurde im Jahre 1978 als

Taschenbuch neu verlegt. Sie war bis in unsere Tage hinein in der 4.

Taschenbuchauflage von 1994 (DTV/Bärenreiter) über jede Buchhandlung problemlos

zu beziehen; und wirbt mit “dem Vergnügen einer fast plaudernd vorgetragenen

Belehrung” für “ oberflächlich Interessierte”.

 

155

 

 


 

Somit stellten diese nur 147 Seiten umfassende Musikgeschichte auch hinsichtlich ihres

attraktiven Taschenbuch-Preises sicherlich die ideale Erstlektüre für junge

Musikliebhaber dar, der Fortbestand der Auffassung Mendelssohns als eines

überschätzten Kleinmeisters war somit partiell gewährleistet. Der aktuelle

Internetbuchhandel hält das Buch indes in hohem Maße antiquarisch verfügbar.

 

Auch Walter Abendroth liess sich in jenen unseligen Jahren der Hitler-Diktatur u. a. über

die Frage "Musik und Rasse" aus, herausgegeben in "Deutsches Volkstum" von 1937.

Ein weiteres Traktat liegt in "Opernideale der Rassen und Völker" aus "Die Musik" vom

März des Jahres 1936 vor.

 

Musikführer aus dem Traditionshause Reclam transportierten die das Oeuvre

Mendelssohns entwertenden Stereotypen bis in die neunziger Jahre hinein. Sie halten,

der Überarbeitung jüngster Zeit zum Trotz, Beurteilungen vom „Sinn für ästhetisch

„schöne“ Wirkung”, vom “Stil (...) der klassisches Ebenmaß der Form mit romantischer

Empfindsamkeit wohltuend verbindet“ als “Stil des geringsten Widerstands”, wie Hans

Renner im dem in den 60ziger Jahren erschienen Orchestermusikführer aus dem

Reclam-Verlag schreibt; also geläufige Entwertungen von Mendelssohns Schaffen, dem

erwähnten Konzertführer von Westermans gleich, über Bibliotheken weiterhin aufrecht.

 

Der Musikpublizist Hans Renner, Autor einer umfangreichen Musikgeschichte, welche u.

 

a. in den 90ziger Jahren über Buchgemeinschaften vertrieben wurde, war im III. Reich

im Rahmen der Organisation "Deutsche Arbeitsfront" (DAF) tätig.

So gehörte er im Jahre 1934 einem Gremium der DAF an, welches einen Musikpreis für

Kompositionen zu vergeben hatte, die den Ethos Deutscher Arbeit verherrlichten. Der

Preis von 500 RM erging an "Weckruf und Lob der Arbeit" von Karl Gerstenberg.

 

In seiner Geschichte der Musik", erstmals erschienen im Jahre 1965 und im Jahre 1991

unverändert vom Bertelsmann-Buchclubverlag nachgedruckt, prägt Renner das Bild

eines Kleinmeisters der Biedermeier-Zeit, welcher seine eng bemessenen Grenzen klar

erkannt und somit lediglich als "schönster Zwischenfall der deutschen Musik" zu gelten

habe. Die tendenzielle, von Antisemitismus und NS-Zeit beeinflußte Sichtweise auf

Person und Werk Felix Mendelssohns in der Publizistik Hans Renners, belegt sich allein

schon durch die wahrheitswidrige Schreibweise des unverbundenen Doppelnamens als

Mendelssohn-Bartholdy. Renner verkennt dabei eklatant die tiefe Verwurzelung von

Mendelssohns unaffektiertem Komponieren in rein humanistischen, ethisch

empfundenen Idealen und sperrt ihn vielmehr in den engen Käfig der genannten

Grenzen einer hypersensiblen Unfähigkeit zu dramatischem Ausdruck. Obgleich Renner

selbst von einer Mendelssohn-Schule spricht, aus welcher Komponisten wie Hiller,

Volkmann, Kiel, Reinecke und Draeseke hervorgegangen sind, neigt er doch zum

Widersprüchlichen. Ohne auf das Leipziger Konservatorium und dessen Mendelssohn-

Pflege in der Nachfolge des Komponisten oder die Affinität Mendelssohns zu

Schumanns und Brahms Schaffen, zu jenem Bruchs und Regers einzugehen, spricht

Renner dem "schönsten Zwischenfall der Musik" Mendelssohn des Weiteren jedwede

Stilprägung und musikalische Gefolgschaft rundweg ab.

 

Renner schreibt also:

„Felix Mendelssohn-Bartholdy, Romantiker mit biedermeierlichem Einschlag, war nach

der Ansicht seines Freundes Schumann "der hellste Musiker, der die Widersprüche der

Zeit am klarsten durchschaute und zuerst versöhnte." (...) Alles Extreme, übersteigert

emotionale war ihm zuwider.

 

156

 

 


 

Die ungestümen Kraftausdrücke in Beethovens "IX. Sinfonie" erschreckten ihn ebenso

wie das Zerrissene, Dunkle, Exzessive in manchen Werken Schumanns. Mit heiterer

Selbstironie meinte er einmal, er sei ein Philister gegenüber Berlioz, denn nicht das

Grenzenlose, vielmehr das Umgrenzte, Einfache, Klare entspreche seiner Natur. Er

kannte seine Grenzen genau und er hielt sich in ihnen, das war seine Stärke. (...)

 

Mendelssohn blieb "der schöne Zwischenfall der deutschen Musik" (...) Zu einem

Ausgleich der in ihr wirkenden Gegenkräfte kam es nicht. Jeder der "Grossen" ging

seinen eigenen Weg, um jeden bildete sich eine Schule von Mit und Nachläufern, keiner

vermochte wiederherzustellen, was verloren war: die Einheit der Anschauungen, der

Gesinnung, des Stils."

 

Noch in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts reflektieren

über jeden Verdacht erhabene Kultur-und Medienbetriebe Geringschätzung und

Desinteresse des musikalischen Tagesgeschehens an Musik, Person und

Rezeptionsgeschichte Felix Mendelssohns. Lassen die Musikredakteure – geschult an

den im Verlaufe dieser Abhandlung genannten Enzyklopädien und Handbüchern des

zwanzigsten Jahrhunderts – wiederum die stetig repetierten stereotypen Wendungen

anklingen.

 

So geschehen in einem im Jahre 1984 anläßlich des 175. Geburtstages Mendelssohns

am 4. Februar in der liberalen "Frankfurter Rundschau" veröffentlichten Gedenkbeitrags,

welcher vom ”Musterschülerhaften der Formprägung” Mendelssohnscher

Kompositionen der ”Sonatenform als Maske”, den ”Gewächshausblumen der

Klavierstücke”, der ”nazarenisch geleckten Verzückung der Oratorien” spricht. Ja, der

Artikel nimmt gar -zitiert nach Wulf Konold ” -mit seiner Kritik an Mendelssohns

schnellen Sätzen, seinem Hinweis auf ”nervöse Ratlosigkeit” und ”verdrängte

Lebensunruhe” unbewußt unmittelbaren Bezug auf den rassisch begründeten Aspekt

der ”semitischen“, der „prickelnden Unruhe” in dem Juden-Aufsatz Wagners aus dem

Jahre 1850.

 

Im gleichen Jahre ging Gustav Stresemann -langjähriger Intendant der Berliner

Philharmoniker zu Furtwänglers und von Karajans Zeiten -daran, seine "Lanze für Felix

Mendelssohn" zu brechen.

 

Aber gleich zu Beginn seines durchaus engagiert erarbeiteten, etwa 250 Seiten

umfassenden Mendelssohn-Portraits, wird der Leser mit widersprüchlichen Fragen und

Betrachtungen verwirrt.

 

So heisst es zu Anfang durchaus zutreffend:

 

„Muß man sie brechen? Rennt man nicht offene Türen ein? Leider nicht. So seltsam

es klingt, auch heute begegnet man manchen Mißverständnissen gegenüber einem

Komponisten (...), der sich schwer einordnen lässt, im Vergleich mit den berühmtesten

seiner Zeitgenossen den kürzeren zu ziehen scheint und mit vielen seiner

bedeutendsten Werke nahezu ein Schattendasein führt."

 

Wenige Zeilen später verstört Stresemann mit einer Missinterpretation, einer markanten

Negation der bislang dargelegten antisemitischen und musikgeschichtlichen Vorfälle

und Traditionen der Mendelssohn-Rezeption. Als unmittelbarem Zeitzeugen der NS-

Diktatur und deren Eliminierung von Mendelssohn-Musik hätten ihm, auch als

führendem Vertreter des deutschen Musiklebens jener Zeit,

 

157

 

 


 

vor allem die Auswirkungen und Folgen des unmittelbaren Verbotes der NS-Zeit auf die

Mendelssohn-Rezeption nach dem Kriege wie auch jene der Fortschreibung braunen

Gedankengutes oder jener von Riemann u. a. autorisierten entwertenden Klischees von

Glätte, Kälte o. ä. im akademischen und musikpublizistischen Bereich nach 1945

zwingend bewusst sein können und müssen:

 

"Aber schon bald begann sein Stern zu verblassen, die ihm zu Lebzeiten zuteil

gewordene Wertschätzung zu sinken. Es wäre durchaus verfehlt, hierfür Richard

Wagners spätere Attacken oder Hitler mit seinem Verbot so genannter nichtarischer

Musik besonders verantwortlich zu machen. Denn auch nach deren Tode ist es zu einer

wahren Mendelssohn-Renaissance nicht gekommen. Aus Felix, dem Glückskind, wurde

im Laufe der Jahrzehnte ein "Stiefkind", und diese Entwicklung hat sich bis in unsere

Tage fortgesetzt."

 

Im Abschluss des Vorwortes zu seinem Mendelssohn-Portrait stellt Stresemann den

Gegenstand desselben, also Leben und Werk des Komponisten, in hohem Masse in

Frage, reflektiert die bekannten Stereotypen Mendelssohnscher Entwertung. Die Lanze,

vorgeblich für Mendelssohn eingelegt, muss somit von Anbeginn an stumpf bleiben.

 

"Niemand bestreitet zwar die Bedeutung der Musik zum Sommernachtstraum oder des

nur selten zu hörenden "Oktetts", Werke, die Felix mit 17 oder 18 Jahren schrieb; auch

das Violinkonzert, sowie 2 seiner Symphonien finden allgemein Zustimmung. Aber

Mendelssohns Gesamterscheinung bleibt umstritten. Dies gilt für einen erheblichen Teil

seiner Kompositionen, die oft als glatt, oberflächlich, zu gefällig bezeichnet werden, wie

auch für sein Leben, einmal der strahlenden, vom Glück überreich gesegneten Jugend,

die Leid nicht kannte, daher unfähig, tiefere Werke zu erzeugen, dann von den

späteren, nicht selten ruhelosen Jahren mit ihrer vielgleisigen Betriebsamkeit, Folge fast

zu mannigfacher Gaben oder vielleicht auch des Wunsches, sie zur Schau zu stellen".

 

Im Jahre 1983 gab Joseph Wulf seine dankenswert umfassend erstellte Sammlung

aufschlußreicher Dokumente aus dem "Kultur"-Betrieb des "III. Reiches heraus. Im

Vorwort des Bandes "Musik im III. Reich" - es diente auch als Grundlage zahlreicher hier

wiedergegebener Traktate des akademischen und musikalischen Nationalsozialismus faßte

Wulf Ursprung und Entwicklung des musikalischen Chauvinismus, also auch die

Geschichte Mendelssohnscher Entwertung, in wenigen Zeilen hellsichtig zusammen:

 

„Mit seinen Ideen und vielen Schriften legte Richard Wagner den Grundstein für eine

verhängnisvolle Richtung in der deutschen Musikwelt, die in ihrer Entwicklung

fortlaufend bereichert, ergänzt und endlich vervollkommnet wurde. Um diesen

Wachstumsprozeß in seiner ganzen Eindeutigkeit unmissverständlich zu erkennen,

braucht man nur den Wagner des 19. und den Hans Pfitzner des 20. Jahrhunderts zu

lesen. Wenn gewisse Wissenschaftler des Dritten Reichs Schiller als ersten

Nationalsozialisten bezeichnen, so kann man darüber wirklich nur lächeln. Falls sich

jedoch diese Behauptung auf Wagner bezieht, besteht eine gewisse Berechtigung“.

 

Dem Buch "Musik im III. Reich" ist denn auch wahrhaft symbolträchtig jene Metapher

Thomas Manns aus dem Jahre 1911 vorangestellt:

 

"Die Deutschen sollte man vor die Entscheidung stellen: Goethe oder Wagner. Beides

zusammen geht nicht. Aber ich fürchte, sie würden Wagner sagen".

 

158

 

 


 

Im Jahre 1988 legte der russische Dirigent Semyon Bychkov auf dem Philips-Label eine

Schallplattenaufnahme der 3. und 4. Symphony Mendelssohns, der "Schottischen" und

"Italienischen" vor, welche er im Jahre 1986 mit dem London Philharmonic Orchestra

realisiert hatte. In einer Rezension reflektiert Werner Bollert in der Musikzeitschrift "Fono

Forum" vom Februar des Jahres 1988 in abfälligem Tonfall anschaulich die Tatsache,

dass man Mendelssohns Hauptwerke keinesfalls als festen Bestandteil des

Kernrepertoires auf den Konzertpodien der Welt ansah und anzusehen habe. Bestätigt

er die durch eine unsäglich hürdenreich, ja katastrophal verlaufene

Rezeptionsgeschichte geprägte Aussenseiterposition, die Mendelssohn im

Konzertrepertoire immer noch einnimmt.

 

Anschließend stellt Bollert gar den musikalischen Wert der "Schottischen", sicher eines

der hochrangigen Mendelssohnschen Meisterwerke, pauschal in Frage und stellt sich

dabei in den Gegensatz zum Dirigenten, welcher sich -Bollerts Worten zufolge -den

beiden Werken mit grosser Aufmerksamkeit und Hingabe widmete.

 

"Selbstverständlich war und ist er (Bychkov) bestrebt, sein Repertoire zu erweitern und

die grossen Meister der Sinfonik in seine Programme miteinzubeziehen (...) Dem

Medium Schallplatte hat er sich ebenfalls nicht verschlossen; hier begann er

bezeichnenderweise mit der fünften Sinfonie von Schostakowitsch, der er

Tschaikowskys "Nußknacker" folgen liess. Die dritte Produktion (…) galt diesen beiden

Schöpfungen Felix Mendelssohns. Ob Bychkov aber damit schon zum "harten Kern" der

klassisch-romantischen Sinfonik vorzustoßen vermochte (wie es die Plattenwerbung

formuliert), sei dahingestellt.

 

Gerade an diese Aufnahme hat Bychkov offenbar viel Mühe gewandt; doch das

klingende Ergebnis ist nicht sehr zwingend ausgefallen. Bei der "Schottischen" liegt das

Problem zweifelsohne im Werk selbst, in der Konzeption der Ecksätze (beispielsweise

will es nur selten gelingen, die A-Dur-Krönung des Finales, Allegro maestoso assai,

wirklich plausibel darzustellen)."

 

Eine im Jahre 1989 vom westdeutschen Fernsehen produzierte Dokumentation der

Geschichte des Leipziger Gewandhauses und seines Orchesters erwähnt mehrfach den

Komponisten „Moses Mendelssohn Bartholdy“ bzw. „Moses Mendelssohn“, welcher

seinerzeit dort als Dirigent tätig war.

 

Im Jahre 1991 promovierte Hartmut Wecker mit einer Studie über den "Epigone(n) Ignaz

Brüll". Nicht allein, daß Wecker darin eine Verharmlosung von Wagners Judenschrift in

der Thesenstellung und Folgewirkung vornimmt. Er behauptet darin, dass jene Schrift

"mit Recht "Das Epigonentum in der Musik" lauten" müsse; ein "Faktum"...

(welches)...bislang unbeachtet geblieben" sei. Bedenklicher als dies stimmt noch das

abschließende Urteil, welches Welcker über die jener Studie zugrunde liegende

Persönlichkeit Ignaz Brüll fällt: Brüll sei ein Epigone gewesen, "weil er Jude war."

 

37. Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei unbestritten

Im Jahre 1997 verweist Gerhard R. Koch im umfangreichen Gedenkartikel der

„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ anlässlich des 150. Todestages Mendelssohns am 4.

November dezidiert auf „Grenzen“, welche der Musik Mendelssohns „unbestritten“

gezogen seien. Koch paraphrasiert mit dem Satz "Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei

unbestritten." unmittelbar eine zentrale Sentenz aus von Westermans maßgeblichen

Darlegungen aus dem Jahre 1956.

 

159

 

 


 

Dieser Gedenkbeitrag „Weltgeist, auf Flügeln des Gesanges“ Gerhard R. Kochs ist

einmal mehr einer spezifischen Dramaturgie musikgeschichtlicher Analyse unterworfen,

welche sich exklusiv in der Darstellung des musikalischen Phänomens Mendelssohn

findet und aus etlichen, vermeintlich objektiv vorgenommene Betrachtungen hervorgeht.

 

Nicht allein die Nachwirkungen fataler musikpublizistischer und –wissenschaftlicher

Überlieferungen; auch die suggestive, faszinierende Negativ-Aura, welche die

Rezeptionsgeschichte um das Phänomen Mendelssohn zu errichten verstand, fanden in

dieser Dramaturgie der Negation ihren Ausdruck. Auch die Dominanz spätromantisch-

subjektiven Musizierens das Ideal heroisch-monumentalen Tonfalls, welche das

Musikleben in Deutschland bis in die 60ziger Jahre hinein prägte, mag in diesem und in

anderen Fällen unwillkürlich ihren Ausdruck gefunden haben. Das Muster ist wie folgt:

Umsichtig, sachkundig, „objektiv“, ausführlich werden die spezifischen hohen Qualitäten

des Idioms Mendelssohnscher Musik gewürdigt; desgleichen Ungerechtigkeit, ja

Absurdität ideologisch besetzter Urteile und Stereotypen hervorgehoben. Doch im

wenigen bedeutsam formulierten Worten oder Zeilen wird dann zumeist aber eine

pauschale Zurücksetzung des gesamten Sujets Mendelssohn vorgenommen. Lassen

Autoren wie Koch das im Verlaufe eines äusserst umfangreichen Beitrags bedachtsam

errichtete Gebäude "objektiver" Würdigung der belasteten Mendelssohn-Rezeption mit

einem Satz wieder in sich zusammenfallen. In den Grundzügen geht es wiederum auf

das rhetorische und dramaturgische Vorbild zurück, welches Wagner einstmals

prototypisch vorgab.

 

Wir erinnern uns: Mendelssohn "hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster

spezifischer Talentfülle sein, die feinste mannigfachste Bildung, das gesteigertste...

Ehrgefühl besitzen kann, ohne es...je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal

die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir...der

Kunst...fähig wissen, weil wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein

Heros unserer Kunst sozusagen nur den Mund auftat”.

 

Phänomene werden am Vorfall Mendelssohn in kritischer Distanziertheit konstatiert,

welche im Falle anderer bedeutsamer Komponisten kaum einer Silbe gewürdigt würden.

 

„Grenzen, welche der Bedeutung dieser Musik unbestritten“ gesetzt sind: Diese ließen

sich wohl mit Leichtigkeit hinsichtlich der Musiksprache jedes Komponisten spezifisch

definieren. Doch nur in diesem speziellen Fall legen Publizisten wie Riemann, Keller,

Chop, Moser, von Westerman, Schweickart und Koch den eigentümlichen Sonderfleiss

zu Tage, "Grenzen" in der Tonsprache eines bestimmten Komponisten, nämlich Felix

Mendelssohn zu eruieren.

 

38. Wie ist eine derartige Geringschätzung im Umgang mit einem dochbedeutenden Komponisten überhaupt möglich?

Die Dramaturgie der Münchner Philharmoniker konstatiert in den Ankündigungen eines

Konzertes in der Saison 2001/02, welches Mendelssohns bedeutendes Chorwerk "Elias"

vorstellte, leichtfertig, das „die alttestamentarischen und damit jüdischen Traditionen der

Bibellektüre Felix Mendelssohn Bartholdy sozusagen „im Blut“ lagen.“ Dabei unterstellt

sie in unsäglicher Entlehnung fataler NS-Terminologien, dass Mendelssohn als Jude

quasi einem semitisch-biologischen Rasseprinzip unterworfen gewesen sei.

 

160

 

 


 

Im Jahre 2003 legte der Chamber Choir of Europe unter der Leitung des Dirigenten

Nicol Matt bei Brillant Classics in dankenswerter Initiative eine Gesamtaufnahme des

gesamten geistlichen Chorwerkes Felix Mendelssohns vor.

 

Zu Beginn seines engagiert erarbeiteten Mendelssohn-Artikels im Begleitbuch fasst

Christian Wildhagen die fatale Entwicklung der Mendelssohn-Entwertung noch einmal

prägnant zusammen und konstatiert demzufolge Mendelssohns fatale aktuelle

Positionierung im Musikleben als eines Komponisten quasi lediglich in der zweiten oder

gar erst dritten Reihe.

 

"Wenigen Komponisten hat die Nachwelt derart übel mitgespielt wie Felix Mendelssohn

Bartholdy. (...) Obwohl er noch zu Lebzeiten als überragender Vertreter der deutschen

Musik im frühen 19. Jahrhundert geehrt wurde, spielt sein Schaffen heute im Ganzen

nur mehr eine untergeordnete Rolle. Wären nicht Geniestreiche wie die Ouvertüre zu

Shakespeares "Sommernachtstraum", die "Italienische" Symphonie oder das

Violinkonzert -man würde Mendelssohn wohl umgehend, Carl Loewe oder Heinrich

Marschner vergleichbar, zu den Komponisten der zweiten und dritten Reihe schlagen.

 

Schon seine einst viel gesungenen Lieder, aber auch die Klaviermusik und die

ehedem als stilbildend geschätzten Streichquartette sind überwiegend an den Rand des

Repertoires gerückt, und man kann nicht umhin, diese Auslese als arg beschränkt zu

empfinden -namentlich im Vergleich mit Zeitgenossen wie Schumann oder Chopin,

deren Werk in weit reichhaltigeren Ausschnitten rezipiert wird. Noch ärger ist freilich ein

Bereich betroffen, der zweifelsohne zu den Schwerpunkten in Mendelssohns Oeuvre

zählt: die Chormusik. Hier hat sich die posthume Auswahl nahezu ausschließlich auf die

beiden grossen Oratorien "Paulus" und "Elias" und einige wenige Einzelstücke verengt.

 

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Dass Mendelssohn heute kaum mehr

die Wertschätzung erfährt, die seiner herausgehobenen Stellung im europäischen

Kultur-und Geistesleben um 1840 entspräche, mag zum einen, wie oft behauptet, noch

immer der Verfemung seiner Person und der Ächtung seines Werks durch den

Nationalsozialismus geschuldet sein. Von dem totalen Aufführungsverbot während der

Zeit des "Dritten Reiches" hat sich sein Schaffen tatsächlich nie recht erholt;

entsprechend ist auch die Wahrnehmung seiner Biographie nach wie vor nicht frei von

Denkmustern, die sich mitunter gefährlich im Fahrwasser antisemitischer

Rezeptionsmuster bewegen. Richard Wagners fatales Pamphlet über "Das Judentum in

der Musik" hat hier schon 1850 die Stossrichtung vorgegeben, und so scheint es, als

habe sich der Nationalsozialismus lediglich auf perfide Weise zu Nutze gemacht, was an

mehr oder minder künstlerisch motivierten Einwänden von jeher gegen Mendelssohn

vorgebracht worden ist. (...)

 

Dessen ungeachtet hatten bereits viele Zeitgenossen Mühe, die Vorstellung vom wohl

behüteten, mit der Leichtigkeit eines Mozart schaffenden Wunderkind, die Mendelssohn

so eindrucksvoll mit der "Sommernachtstraum"-Ouvertüre oder dem Streichoktett unter

Beweis gestellt hatte, in Einklang zu bringen mit dem bevorzugten Künstlertypus der

aufkommenden Romantik, die in der Nachfolge Beethovens gerade das titanhafte

Ringen um jeden Ton und jede Phrase als wahre Grösse schätzte.

 

Mendelssohns religiöse Musik -und damit ein Großteil seines Chorwerks -hatte

überdies lange vor 1933 unter dem Vorurteil zu leiden, ein zum Protestantismus

übergetretener Jude könne keine adäquate christliche Kirchenmusik verfassen. In

solchen Klischees, die leider in erheblichem Ausmaß die Rezeptionsgeschichte sowohl

des 19. wie des 20. Jahrhunderts prägen,

 

161

 

 


 

spiegelt sich allenfalls an der Oberfläche ein viel tiefer liegendes Problem: die

grundsätzliche Ungewißheit (...), welche Richtung die Musik nach dem Ende der

klassischen Epoche einschlagen werde..."

 

Werner Pfister rezensiert die Gesamtaufnahme der geistlichen Chorwerke

Mendelssohns unter Nicol Matt in der Oktoberausgabe der Zeitschrift "Fono Forum"

des Jahres 2003 auf der Seite 77.

 

Gleich zu Beginn der Rezension wirft Pfister eine zentrale, entscheidende Frage der

Mendelssohn-Rezeptionsgeschichte auf:

 

"Liest man sich in Eric Werners Mendelssohn-Biographie im Werkverzeichnis durch die

geistliche Chormusik, stößt man wiederholt auf den Hinweis "Manuskript". In der Tat

sind wesentliche Werke, darunter die grossen Choralkantaten, erst vor gut 20 Jahren

erstmals gedruckt worden. Wie ist eine derartige Geringschätzung im Umgang mit

einem doch bedeutenden Komponisten überhaupt möglich? Die Frage ist um so

brisanter, als es sich beim geistlichen Chorwerk Mendelssohns nicht gleichsam um

Nebenprodukte handelt, sondern mehrheitlich um ausgereifte grosse Kantaten, um

Hymnen und Psalmen; auch Magnificat, Gloria und Te Deum fehlen nicht. Ganze zehn

Compact Discs machen sie insgesamt aus -mithin wohl die umfangreichste Gattung

überhaupt in Mendelssohns Schaffen".

 

Ja, wie war und ist die Geringschätzung eines bedeutenden Komponisten und

wesentlicher Teile seines Oeuvres überhaupt möglich gewesen? Dieser Frage

eingehender nachzuspüren, war und ist eben auch zentrales und wesentliches

Bestreben und Ziel beim Verfassen dieser Abhandlung gewesen. Wie konnte es

geschehen, dass der Pamphlet gewordene Künstlerneid eines musikalischen Rivalen

gleichsam zum Dogma ganzer Generationen von Musikliebhabern, -wissenschaftlern

und -publizisten wurde? Dass die Mär vom Heros in der Musik das Ansehen eines

feinsinnigen Humanisten auszulöschen verstand, der, dem Schaffen eines Mozart

vergleichbar, Werke von erhabener klassizistischer Klarheit, Hellsicht und Konzentration

zu schaffen verstand? Dass ein Publizist nach dem anderen manuskriptgewordene

Klischees und Stereotypen des Vorgängers transkribierte? Dass ein Volk in Gesamtheit

in den nationalen Größen-und Rassenwahn verfallen konnte und somit Leben und

Werk eines ganzen Volkes in Deutschland zu verfemen, aus Deutschland auszumerzen

trachtete? Wie war es möglich, dass die Eliten des verbrecherischen Regimes mit dem

ethischen Wiederaufbau eines demokratischen Gemeinwesens betraut wurden und

somit Ungeist und Vorurteil in der Einschätzung eines einstmals von den Zeitgenossen

und hellsichtigen Repräsentanten eines besseren Musiklebens als wahrhaft groß

angesehenen Komponisten fortzuschreiben und fortzulehren vermochten? Dass die

Routine eines klassisch-romantisch dominierten Musikbetriebs sich bislang der Aufgabe

einer umfassend vorgenommenen Mendelssohn-Restaurierung auf den Konzertpodien

so hartnäckig und desinteressiert zu entziehen vermag?

 

Ja, wie war und ist das alles im Bereich einer sich in Vergangenheit und Gegenwart als

aufgeklärt gerierenden Kulturnation überhaupt möglich?

 

Im weiteren Verlauf der Rezension relativiert Pfister die Bedeutsamkeit seiner so zentral

gestellten Aussage, indem er Mendelssohn Schaffen in der Tradition von Publizisten wie

von Westerman einmal mehr als vordringlich gefühlig und subjektivistisch bewertet.

 

162

 

 


 

Wieder haben wir es also hier mit der Einschätzung Mendelssohns als lyrisch

empfindsamem Kleinmeister zu tun, welcher zur Nachempfindung menschlichen Leides

nicht befähigt somit wahrhaft grosse und bedeutungstiefe Musik nicht vorzulegen

verstand.

 

"Der formale Aufbau -Chornummern wechseln mit Soloarien -orientiert sich am

barocken Vorbild, doch die Mittel, mit denen musikalisch gebaut wird, sind romantische.

Stilistisch heisst das: Statt einer scharf-linearen barocken Kontrapunktik herrscht hier

eine lyrisch innige Empfindsamkeit, die zwar groß und erhaben wirken kann, im

wesentlichen aber in den kleiner bemessenen Bereichen des subjektiven Gefühls ihren

eigentlichen Ort hat."

 

Dem Dirigat Matts bescheidet Pfister des Weiteren, dass er "ersichtlich ein Gespür hat

für das, was diese Musik leidet und was sie eben nicht leidet..."

 

Konold gibt dem Musikleben angesichts solch getreulicher Kontinuität unausgesetzter

Mendelssohn-Infragestellung und -Reduktion den salomonisch anmutenden Rat mit auf

den Weg: ”Man versteht Mendelssohns ausgeprägte Abneigung gegen jede Art von

Musikpublizistik und man kann -ein Lessing-Wort paraphrasierend -nur wünschen,

Mendelssohns Musik werde weniger beschrieben, aber mehr aufgeführt.”

 

39. "Diese Musik wurde ermordet" II

Auch ein Blick auf den musikalischen Tagesbetrieb verdeutlicht, dass die Konstatierung

vollgültiger Rehabilitierung der Werke Felix Mendelssohns nach 1945 vorschnell

erfolgte.

 

Das im Jahre 1988 von der Musikhandelverlagsgesellschaft Bonn vorgelegte Handbuch

des Musikalienhandels, ein Lehrbuch für angehende Musikalienhändler gibt unter der

Rubrik V auf der Seite 21 auch einen Überblick über die "Wichtigsten Werke der

Klassik".

 

Es handelt sich dabei wohl um ein Verzeichnis der im Noten-und Schallplattenhandel

am meisten verlangten Werke; 67 Kompositionen gängigsten Repertoires werden

genannt.

 

Während Mozart beispielsweise mit 6, Beethoven mit 7, Schubert mit 6 und Chopin mit

immerhin 4 Kompositionen vertreten sind, ist Mendelssohn mit nur einem Werk

aufgelistet. Es handelt sich dabei aber nicht um die angeblich bei Musikanfängern so

beliebten, oftmals als "Fingerübungen" diffamierten "Lieder ohne Worte" sondern das

erhaben schöne Violinkonzert.

 

Nichts desto trotz ist die Verankerung Mendelssohns also im aktuellen Musikbetrieb analog

seiner Präsenz auf den Konzertpodien -quasi auf ein einziges Werk

zurückgegangen.

 

Im Jahre 1995 veröffentlichte der süddeutsche Grossrezensent Joachim Kaiser im

Schneekluth Verlag München das Kompendium Kaisers Klassik, eine Umschau über

100 Meisterwerke der Musik, welcher aus einer wöchentlichen Zeitungskolumne

hervorging. Das Buch wurde im Jahre 2001 im btb-Verlag/ Goldmann als Taschenbuch

wiederveröffentlicht.

 

163

 

 


 

Die Umschau bietet ein dem Handbuch des Musikalienhandels vergleichbares Bild.

Unter 100 Meisterwerken, welche Joachim Kaiser als maßgeblich vorstellt, firmiert

Mendelssohn wiederum nur mit einem Werk, dem Violinkonzert. Wenn man besieht,

dass es sich um nur ein Werk unter immerhin 100 handelt, bietet sich der Schnitt, die

Relation in Sachen Mendelssohn-Rezeption noch ungünstiger, als es im Verhältnis 1:67

im Handbuch des Musikalienhandels der Fall ist.

 

Wie präsentieren sich andere Komponisten mit Werken unter den 100 ausgewählten?

Ludwig van Beethoven dominiert die Auswahl mit sage und schreibe 14

Werkbeschreibungen bei weitem, aber auch andere Komponisten schneiden weit

günstiger ab, als es Felix Mendelssohn mit dem 1 Werk tut. Johannes Brahms ist mit

einer Auswahl von 7 Werken vertreten, Frederic Chopin mit 5, Wolfgang Amadeus

Mozart mit 12, Franz Schubert mit 8, Robert Schumann mit 6 und Mendelssohn-Gegner

Richard Wagner mit immerhin 9 seiner 13 Opern.

 

Wenn auch dieser Werkkanon als subjektiv vorgenommene Auswahl eines einzelnen

Rezensenten gelten muss, wirft er doch ein bezeichnendes Licht auf die aktuelle Felix

Mendelssohn Rezeption. Prägt die Meinung eines maßgeblichen Rezensenten und

Publizisten als beachteten Multiplikators des deutschen Musiklebens doch ein

einschlägiges Bild eben jenes von Traditionen dominierten unflexiblen Musikbetriebes,

der Beethoven, Mozart und Brahms etc. demonstrativ auf den Schild hebt, einen Felix

Mendelssohn und sein Werk aber nahezu ausklammert. Müssen die Leser jenes

Buches doch zu der Ansicht gelangen, dass ein Felix Mendelssohn im Schatten

übermächtig repräsenter Meister nahezu nichts wert ist.

 

Zum weiterem Beweise einer erneuerungsbedürftigen Mendelssohn-Rezeption; einer

notwendigen Wiederbelebung seines musikalischen Renommees seien einige Zahlen

bezüglich klassisch-romantischer Komponisten wie Mendelssohn, Schumann und

Brahms genannt, welche vor allem die aktuelle Situation im Konzertleben

berücksichtigen:

 

Felix Mendelssohn und Johannes Brahms haben jeweils etwa 120 mit einer Opuszahl

im Werkverzeichnis aufgelistete Kompositionen hinterlassen. Robert Schumann ging mit

etwa 150 sogar darüber hinaus. Zuzüglich jeweils 30 von Brahms, 48 von Schumann

und immerhin 180 von Felix Mendelssohn Bartholdy nachgelassene Werke ohne

Opuszahl.

 

Ein Gesamtverzeichnis der Klassikaufnahmen der "Deutschen Grammophon-

Gesellschaft" von 1956 verweist in der Sache der erwähnten Komponisten auf folgende

Einträge: Johannes Brahms 45; Robert Schumann 22 Einträge; Felix Mendelssohn 13

Einträge. Was zeigt der Onlinekatalog des Jahres 2009?

Brahms 118 Einträge; Schumann 71 Einträge; Mendelssohn 38 Einträge.

Und was zeigt der Onlinekatalog des Jahres 2012: Brahms 125 Einträge; Schumann 81

Einträge; Mendelssohn 44 Einträge.

 

Der deutsche Konzertalmanach der Saison 2000/1 sowie jener der Saison 1992/93

vermittelt ein ähnliches Bild: Johannes Brahms 633 (636) Einträge, sprich

Aufführungen; Robert Schumann 409 (462) Einträge; Mendelssohn 358 (360)

Einträge.

 

164

 

 


 

Nach einer Hausse Mendelssohnscher Kompositionen im Gedenkjahr 97 fortfolgend hat

sich die Aufführungsdichte der Saison 2000/1 also wieder auf die Ebene um 360 der

Saison 92/93 reduziert.

 

Des Weiteren seien noch folgende Zahlen zur Kenntnis gegeben: Giacomo Meyerbeer,

als Meister der Grand Operá, ähnlich infamen Angriffen auf Werk und Person

ausgesetzt, war mit Opern wie "Robert le Diable", "Die Hugenotten", "Der Prophet" etc.

dennoch fester Repertoirebestandteil der Wilhelminischen Ära; in der Weimarer

Republik wurden dieselben rezeptionsgeschichtlich und aufführungspraktisch lebhaft

diskutiert. (59 Aufführungen von Meyerbeer-Opern in der Saison 1928/29.) Der

Nationalsozialismus schloss sein Werk sofort von der Bühne aus. Heute erleben wir

gelegentliche Aufführungen derselben als exotisch; feiern die szenische Realisierung

derselben als mutige Großtat.

 

Der Gesamtkatalog der "Deutschen Grammophon" von 1956 bietet daher folgende Zahl:

6 Einträge; der "Konzert-Almanach" der Saison 2000/1: 7 Einträge (1992/3: 4); der

Onlinekatalog der "Deutschen Grammophon" des Jahres 2012: keinen Eintrag!

 

40. Die Mendelssohn-Falle

Noch in jüngerer und jüngster Zeit stößt man auf die vertraute Geringschätzung, welche

dem Erbe Felix Mendelssohns partiell entgegengebracht wird. Nach wie vor sind es nur

wenige Werke Mendelssohns, welche das Standartprogramm des Komponisten auf

deutschen Podien ausmachen. Es handelt sich dabei um die Symphonien Nr. 3 „die

Schottische“ und Nr. 4 „die Italienische", um die „Sommernachtstraum“-sowie die

„Hebriden“-Ouvertüren, das Violinkonzert in E-moll, op. 64, das Oratorium „Elias“, die

"Variationes serioses" sowie das "Rondo cappricioso" op. 14 für Klavier Solo sowie

einige wenige Kammermusik und spärlich bemessene Chöre und „Lieder mit oder ohne

Worte“. Der Rest des doch durchaus umfangreichen und bedeutenden Oeuvres ist –

Wagner sei’s gedankt -weiterhin zum Schweigen verurteilt. Wie sieht es auf dem

Phonomarkt insgesamt aus? Das Verhältnis von Aufnahmen einer der führenden

Klassik-Labels, der Deutschen Grammophon, haben wir ja bereits besehen. Das

Verhältnis auf dem freien Markt erweist sich als noch aufschlussreicher im Bezug aufaktueller Mendelssohnscher Relevanz in der interessierten musikalischen Öffentlichkeit.

 

Das Internet-Versandhaus Amazon liefert da diesbezüglich einige interessante

Zahlen. Der am reichhaltigsten durch Aufnahmen geehrte grosse Meister ist

überraschenderweise Mozart; Amazon listet 10561 Tonträger auf. Es folgt Beethoven

mit immerhin 8273 Aufnahmen. Brahms bringt es auf solide 5264 Einträge. Schumann

fällt mit 3458 Hits deutlich ab im Bezug auf das Oeuvre anderer Meister. Das

Schlusslicht bildet – wenig verwunderlich angesichts der in diesem Buche bisher

dargelegten Vorkommen und Prozesse – Felix Mendelssohn mit gerade einmal 2603

DVDs und CDs. Also nur ein reichliches Fünftel des von Mozart vorliegenden Kataloges

– obgleich beide Komponisten in jungen Jahren verstarben und gleichsam zahlreiche

Werke hinterlassen haben. Wo sind die Aufnahmen des Mendelssohn -Oeuvres durch

die grossen Meister der heutigen Musik-Szene. Die in Deutschland marktführenden

Dirigenten Maris Jansson, Simon Rattle und Christian Thielemann führen so gut wie

keine Mendelssohn-CDs in ihrem vorliegenden Katalog geschweige dass die so

wichtigen Gesamtaufnahmen der mendelssohnschen Symphonien als Leuchtfeuer des

Repertoires in absehbarer Zeit durch die genanten Dirigenten zu erwarten wären.

 

165

 

 


 

In der Publizistik sieht es insgesamt genommen auch nicht besser aus. Das zeigen

deutlich die aktuellen Zahlen des Buchmarktes. Es gibt (wiederum bei Amazon

besehen) 1406 Druckwerke über Mozart, 1377 Bücher über Beethoven, 867 Werke über

Brahms, 969 Einträge bei Schumann und nur 521 Druckwerke über Mendelssohn.

 

Die Fachpresse der Klassik-Szene zeigt sich uneinheitlich positioniert im Bemühen,

Mendelssohn und seiner Leidensgeschichte gerecht zu werden. Gelungene

wohlwollende Berichte wechseln sich ab mit Ungeheuerlichkeiten alten Stiles. Auch

dabei zeigt sich die schon vorher angesprochene Konstante: Es gehört anscheinend

immer noch zum guten Ton in der Klassikszene, abfällig über Felix Mendelssohn zu

reden. So als ob seine Geschichte, seine Labilität im Bezug zu anderen Komponisten

geradezu herausfordere, abfällig über ihn zu sprechen und zu schreiben. So als ob

Mendelssohn der labile Prügelknabe der Musikgeschichte wäre, auf den alle einprügeln,

als ob man dem bereits zu Boden gegangenen noch nachtreten würde. Die Faszination

des Opfers, das zu Aggressivitäten herausfordert, möchte ich hier die Mendelssohn-

Falle nennen. Die von Mendelssohn hinterbliebene, leidvollen Rezeptionsgeschichte

verleitet als Mendelsohn-Falle Publizisten offenkundig reihenweise dazu, im Dahin

-ziehen auf alten, gewohnten und ausgetretenen Pfaden wandelnd hineinzutappen.

 

Während die Musikzeitschrift Fono Forum beispielsweise den Jubilaren des Jahres

2010/11 Robert Schumann, Frederic Chopin und Gustav Mahler heftübergreifend ganze

Themen-Schwerpunkte widmete, (beispielsweise im Juniheft 2010 mit einem Robert

Schumann-Schwerpunkt) wurde der 200. Geburtstag Felix Mendelssohns im

Februarheft 2009 mit gerade einmal mit einem Interview mit dem Chorleiter und

Dirigenten Frieder Bernius und einem exakt 2 Seiten umfassenden Gedenkartikel des

Autors Giselher Schubert gewürdigt. Nicht einmal in besagter Mendelssohn-

Jubiläumsausgabe vom Februar 2009 wurde dem Komponisten beispielsweise ein

Exemplar der stets sehr umfangreich ausfallenden Klassik-Kanon-Artikel zuerkannt.

 

Im Juniheft des Klassikmagazins Fono Forum des Jahres 2009 erschien unter dem Titel

„Schatzsuche“ die Rezension einer Aufnahme von den „Lieder(n) ohne Worte“ von Felix

Mendelssohn, welche von massiven, sattsam bekannten Vorurteilen gegenüber

Komponist und Werk geprägt ist. Dem Interpreten Roberto Prosseda bescheinigt der

Rezensent Matthias Kornemann eingangs, sein Spiel sei partiell schwach, sei „ebendort

am schwächsten, wo auch Mendelssohn schwach ist.“ Kornemann konstatiert des

weiteren „unweigerlich hektisch aufgeplusterte Fortisssimo-Repetitionen in der

Begleitung“ des Agitato D-Dur (op. 30/ 4), welches auf dem modernen Flügel nicht

befriedigend darzustellen sei. Die Abfolge des Werk-Zyklus „Lieder ohne Worte“ sei

(auch in der Aufnahme durch Roberto Prosseda) geprägt von einer „auf die Dauer etwas

ermüdendem Konstellation von Einstimmigkeit auf sich oft sehr ähnelnden

Fundamenten“ der einzelnen Stücke, welcher Prosseda immerhin „sublime Nuancen“

abgewänne. Des weiteren liest es sich dort von jenen „die Liedeinfachheit

raffinierenden Momenten“, von „verborgener Mehrstimmigkeit“, von „zaghaften

polyphonen Ansätzen“, einer „verborgenen Dreistimmigkeit“ sowie von

„mikroskopischen Gesten“, welche wir „allerorten“ fänden. Die Aufgabe der

Gesamteinspielung der „Lieder ohne Worte“ von Felix Mendelssohn stelle gar,

Kornemann zufolge eine „Fron“ dar. Eine musikalische und pianistische „Bedeutung“ der

als „kleine Stücke“ bezeichneten „Lieder ohne Worte“ spricht Kornemann denselben

rundweg ab. Die Rezension schliesst mit dem aufschlussreichen, bezeichnenden,

drögen Satze: „Prossedas Entdeckungen ergänzen sich zwanglos zu facettenreichem

Schliff, und Mendelssohns Halbedelsteine glänzen wie selten zuvor“.

 

166

 

 


 

Was haben wir da im einzelnen jenem Artikel zu entnehmen? Das Unheil beginnt gleich

zu Anfang mit der Erklärung, dass Mendelssohn als Komponist, quasi von Hause aus

partiell „schwach“ sei. Im weiteren Verlaufe des Artikels, im Schwerpunkt seiner

Argumentation“ begegnen wir einem alten Bekannten der Mendelssohn-Negation,

nämlich der per se vorgenommenen, perfiden Infragestellung von echter, wahrer

künstlerischen Grösse des Mendelssohnschen Schaffens. Was die eine Hand an

konstruktiven Substantiven gibt, nimmt die andere Adjektiv und destruktiv wieder zurück.

 

Es ist eben von nur einer „verborgenen“ anstelle einer formvollendeten

Mehrstimmigkeit, „einer „zaghaften“ anstelle einer kühn zu werke gehender

Polyphonie die Rede. Der Beitrag vermittelt fortwährend den faden Beigeschmack, als

sei Mendelssohn in allen Bereichen seines künstlerischen Schaffens, genauer in seinen

„Lieder(n) ohne Worte“ durch einen Mangel, ja einen Makel, von der wahrhaft

künstlerischen Grösse ferngehalten worden. Als habe dieser auf der ganzen Linie, bei

den verschiedensten kompositorischen Anforderungen letztendlich versagt. Der schale,

eine hohle Begütigung suggerierende, Nachsatz von den „Halbedelsteinen“ der

Mendelssohnschen „Lieder ohne Worte“ also, entspringt dem Bereiche der reinen

Demagogie.

 

Im November des Jahres 2010 stellte der Veranstalter „Seminare für klassische Musik“/

Dr. Schaub sein Programm von Wochenend-und Ferienseminaren mit dem

Schwerpunkt Klassische Musik des Jahres 2011 vor. In insgesamt 53 Veranstaltungen,

welche sich geradezu mit Gott und der Welt der klassischen Musik auseinandersetzen,

ist nicht eine einzige dem Komponisten Felix Mendelssohn gewidmet.

 

Dies entspringt sicherlich nicht dem bösen Willen des Veranstalters – es zeigt vielmehr

auf, welch geringen Stellenwert Werk und Person Felix Mendelssohns, trotz aller

Jubeljahre, immer noch haben. Es ist zwar eine Veranstaltung vom Freitag, den 18.

Februar in Frankfurt am Main gelistet, welche sich mit der deutschen Romantik

beschäftigt. Diese steht aber nicht einmal singulär im Programm, sondern ist vielmehr

Teil einer Gruppe von Seminaren, welche vom Donnerstag, den 17. Februar bis

einschließlich Sonntag, den 20. Februar in Frankfurt am Main stattfanden und sich mit

verschiedenen nationalen Schulen der Tonkunst beschäftigt.

 

Sicherlich kam das besagte Seminar , „Die deutsche Romantik“ kaum darum herum,

sich auch mit dem Schaffen Felix Mendelssohns auseinanderzusetzen – aber das wäre,

angesichts der Gruppendidaktik der Veranstaltungsreihe, kaum als repräsentativ für das

Leben und Werk des Komponisten zu werten.

 

Im Gedenkjahre 2009, im Gedenkmonat Februar, um den Gedenktermin von

Mendelssohns 200 Geburtstage herum; genauer: in dem Artikel: „Andacht bei den

Preußen Italiens“ – Leipziger Gewandhausorchester auf Tournee in Turin in der

„Leipziger Volkszeitung“ vom Samstag, den 7. Februar entblödet sich Feuilletonchef und

Klassikspezialist Peter Korfmacher nicht, auf fragwürdige Weise mit den Terminologien

Leicht und Schwer zu jonglieren und dem Angedenken an den Komponisten dabei einen

üblen Tiefschlag zu versetzten. Er schreibt also: „Im Gegensatz zum Auftakt in der

Mailänder Scala steht hier im längst ausverkauften Saal nicht das Mendelssohn-

Geburtstagsprogramm auf dem Spielplan, sondern Beethovens zweite und Bruckners

Dritte. Ungleich schwererer Stoff also.“ Und damit ist die Katze aus dem Sack. Wie in

Stein eingeschrieben, für die Ewigkeit in eherne Lettern in die Köpfe und Hirne

eingemeisselt ist und bleibt das von Richard Wagner in die Welt gesetzte Vorurteil.

Mendelssohns Musik ist also „leicht“.

 

167

 

 


 

Ungleich leichter also als Bruckner und Beethoven. Es wird nicht einmal nach einzelnen

Werken ausdifferenziert. Das Mendelssohn Programm insgesamt, also Mendelssohns

Musik ist, in pauschaler Einmütigkeit abgekanzelt, „ungleich leichter“.

 

Seriöse, quasi unparteiische Klassikspezialisten, welche nicht vom eindimensional

späten Erbe Wagnerschen Tuns und Denkens infiziert sind, vertreten hingegen die

Ansicht, dass äusserst präzise, ökonomisch streng auf wesentliches musikalisches

Material bezogene. transparent gesetzte und subtil instrumentierte Werke wie jene

Mendelssohns, Mozarts oder Ravels besonders schwer zu realisieren sind respektive in

notwendiger präziser rhythmischer Genauigkeit besonders hohe Ansprüche an die

Ausführenden stellen.

 

In der Publikums-Postille der Phonoindustrie „CLASSaktuell“ Nr. 4 2008 bespricht

Wolfgang Teubner die CD-Ausgabe der Klavierwerke Felix Mendelssohns der Profi

Edition Günter Hänssler.

 

Obgleich der Autor sichtlich bemüht war, darzulegen, warum Mendelssohns Klaviermusik

so wurde, wie sie ist und durchaus differenziert das seelische und musikalische

Auf und Ab des mendelssohnschen Lebensweges nachzuzeichnen, geht es auch

diesmal nicht ohne den nunmehr berüchtigten Killersatz innerhalb eines Traktates ab,

der das vorher gesagte zum negativen hin relativiert.

 

So schreibt Teubner zuerst durchaus kommod, dass viel von Mendelssohns

Klavierwerken „von einer fließenden Eleganz und pianistischer Brillanz“ leben, dass sie

„eine bemerkenswerte Stellung zwischen Klassik und Romantik einnehmen, ja gar eine

“poetische Gefühlstiefe und heitere Grazie zu gleichen Teilen“ aufweise. Des Weiteren

wäre „Mendelssohns Grundhaltung für die Klaviermusik ein Sinn für einen natürlichen

Fluss der Gedanken.“ Dazu kämen „leise Melancholie, Empfindungsausdruck und

Zurückhaltung, alles aber verbunden durch eine Wärme des Ausdruck“.

So Weit, so gut. Aber kaum ist das Gebäude rezeptioneller Erwägungen und

Verlautbarungen rund um Mendelssohns Oeuvre errichtet kommt der „Killersatz“ der all

das vorig erbrachte Bemühen unweigerlich zum Einsturz bringt: „Insofern hatten die

Kritiker recht: sonderlich tief lotend ist seine Klaviermusik nicht“. Rums: der Schlag sitzt.

Alles hin. Was bleibt einem dabei bloß noch zu sagen übrig: Alles und gar Nichts. Die

Sysiphusarbeit: unendliches, offenkundig gänzlich sinnloses Unterfangen um die

Reputation eines musikalischen Humanisten und:... das Schweigen!

 

Im Jahre 2009 wurde Mendelssohns Jugend-Singspiel „Die Heimkehr aus der Fremde“

Op. 89 als CD der Hänssler Classik Edition herausgegeben. Die Veröffentlichung dieser

wenig verbreiteten Opern-Rarität ist also durchaus sehr verdienstvoll; die Besetzung der

Gesangspartien durchweg mit namhaften Interpreten wie Juliane Banse, Spopran, Iris

Vermillion, Alt und Christian Gerhaher, Bass sowie mit Helmut Rilling am Pult

hochkarätig und dem Renommee des vergessenen Werke eines grossen deutschen

Komponisten durchaus angemessen. Die Freude, diese Rarität in Händen zu halten, ist

anfangs also gross. Bis man beginnt, den von Thomas Krettenauer verfassten Begleit –

Text im Booklet zu lesen.

 

Gleich zu Beginn heisst es dort also: „Es war gewiss keine Sternstunde deutscher

Musiktheatergeschichte, als Felix Mendelssohn Bartholdys einaktiges Liederspiel

Heimkehr aus der Fremde op. 89 am 26. Dezember 1829 seine szenische

Erstaufführung im Gartensaal des mendelssohnschen Familiensitzes (Berlin,

Leipzigerstrasse 9) erlebte“.

 

168

 

 


 

Ja, Toll! Das ist genau dass, was ein Interessent zu Beginn einer Information über den

Gegenstand des Interesses lesen möchte, genau dass, was man dazu also zu Wissen

braucht.

 

In dem der Wirkungsgeschichte des Werkes gewidmeten Kapitel am Ende des

Booklettextes kommt es zu weiteren Mäkeleien und Verfänglichkeiten Krettenauers.

 

So sei es im Jahre 1829 „nicht mehr ganz zeitgemäß“ gewesen, „ein Liederspiel zu

komponieren“. Dasselbe – eine Schöpfung also aus Mendelssohns Händen „womöglich

auf einer grossen Opernbühne zur Aufführung zu bringen“.

 

Nach einer Umschau über die Rezeption des Werkes bei und nach der Drucklegung

im Jahre 1851, angesichts welcher der Verfasser immerhin anmerkt, dass das

kompositorische Erbe Mendessohns „nach seinem Tod im November 1847 zunehmend

einer feindseligeren, stark antisemitisch gefärbten Rezeption zum Opfer fiel“, heisst es

dann weiter in unausgesetzt ambivalenten Tonfall: „Vielerorts konnte sich das Werk

aber nur relativ kurzzeitig auf den Theaterspielplänen halten“(...) Bemerkenswert aber

ist, dass sich „Heimkehr aus der Fremde op. 89“ nachweislich dort einen Stammplatz

sichern konnte, wofür es ursprünglich bestimmt war: auf vielen Laienbühnen und bei

Privataufführungen in Liebhaberkreisen, (...)“

 

Ab also, ein für alle Mal, mit der Mendelssohn-Oper – auf die Laienspielbühne!. Als

genüge es vollauf, dieselbe anhand von „Privataufführungen“, in „Liebhaberkreisen“ gar

zu rezipieren. Als sei das der einzig zugehörige Platz eines nicht unwesentliches Teiles

des Mendelssohn-Oeuvres. Diese Empfehlungen zu Ende gedacht zufolge würde also

auf einen eklatanten Missgriff, der Produktionsgesellschaft Hänssler rückschliessen

lassen, welche das Werk mit bedeutenden Sängerinnen und Sängern der grossen Oper

besetzt hat , von einem Staatlichen Profi-Orchester hat musizieren und einem

renommierten Kapellmeister hat leiten lassen. Es ist nahezu unfassbar, wie

unausgegoren und leichtfertig im Falle Felix Mendesohns theoretisiert und

dramaturgisiert wird. Da es sich ja durchwegs um Neuland handelt, glauben solche

Koryphäen offenkundig, sie könnten sich dort unter dem Deckmäntelchen der Pioniertat

alles erlauben. In der anmaßenden Selbstvergewisserung, das das schon nicht

auffallen, es der Leser nicht bemerken werde.

 

Eine im Januar des Jahres 2012 fabrikneu erworbene Schubert-CD des Labels

„Concerto Royal“ des „Royal Philharmonic Orchestra“, welche im Jahre 2001

herauskam befindet sich anstelle eines Booklets Werbung für weitere CD-

Veröffentlichungen des Labels. Es werden insgesamt 60 CD´s aufgelistet.

 

Auf Johann Sebastian Bach entfallen 7, auf Ludwig van Beethoven ebenfalls 7, auf

Brahms 3, auf Mozart 6, auf Schubert 3 und auf Peter Tschaikowski 4 CD-

Veröffentlichungen. Die Romantiker Robert Schumann und Felix Mendelssohn sind mit

nur jeweils einer CD aufgelistet.

 

Der renommierte hochrangige Musikwissenschaftler und Publizist Martin Geck ist

hinsichtlich überkommenem latentem Antisemitismus wahrhaft über jeden Zweifel

erhaben. Dennoch tappt auch er, wie so zahllos andere, in seinen Schriften über Musik

in die von Tradition und Chauvinismus bereitgehaltene Mendelssohn Falle.

 

In seinem aufschlussreich gehaltvoll aufbereiteten Kompendium „Von Beethoven bis

Mahler – Leben und Werk der grossen Komponisten des 19. Jahrhunderts“ befasst sich

Geck auch mit der Vita Felix Mendelssohns.

 

169

 

 


 

Diesen stellt er Franz Liszt beiseite – beide, Felix Mendelssohn und Franz Liszt, werden

von Geck als Außenseiter und „Kosmopoliten“ angesichts des deutschen Musiklebens

dargestellt Schon in der Einleitung des diesbezüglichen Kapitels 3 „Im Dienst der

Volksbildung: Franz Liszt und Felix Mendelssohn Bartholdy“ verfängt sich Geck selbst

an einem der in diesem Buche von ihm selbst so zahlreich ausgelegten Stolpersteine; er

lässt die Leserschaft an einer Information, einer Einschätzung latent oder offenkundig

fragwürdigen Charakters innehalten – zwingt zum Wiederholen, zum Zweimall lesen, ja

zum Nachdenken. Vielleicht wollte der geehrte Autor ja genau das erreichen: zum

Nachdenken zu provozieren.

 

Martin Geck schreibt also:

„Liszt und Mendelssohn sind auf den ersten Blick ein ungleiches Paar: der eine

skandalumwitterter Allerweltskerl, der andere Musterknabe der Nation. (...) Man

unterschätzt leicht, was beide speziell für das deutsche Musiklebern geleistet haben,

obwohl oder weil sie keine Deutschen im emphatischen Sinne waren und es an Totalität

weder des kompositorischen Ausdrucks noch der narzisstischen Ich-Bezogenheit mit

Schubert, Schumann, Brahms, Wagner oder Bruckner aufnehmen konnten.“ Stopp,

Halt! - bereits an dieser Stelle endet die Lektüre vorerst – zwingt sie zum innehalten, zur

Rückschau.

 

Ja was?! -Mendelssohn war also, Martin Geck zufolge „kein Deutscher im

emphatischen Sinne“: Nun, Frage: Ist ein vom Judentum abstammender, in Deutschland

geborener, in deutschen Sinne (also in diesem falle protestantisch) erzogener und

aufgewachsener Mensch dennoch kein Deutscher, ganz gleich ob im emphatischen

oder nichtemphatischen Sinne?

 

Man würde Martin Geck unrecht tun, wen man angesichts dieser Darstellung die ganz

grosse Moralkeule des Faschismus, der Unterscheidung von „deutschem“ und

„semitischem“ Blute, also die Thesen rassenbiologisch aufbereiteter Unterscheidung

von „arischer“ und „nichtarische“, also „semitischer“, Rasse zu schwingen.

 

Aber es ist zum Haare ausraufen: – warum bringen es die einschlägigen Publizisten

einfach nicht fertig, einen in Deutschland geborenen, deutsch erzogenen und sich

erklärter Massen zum Deutschtum bekennenden Künstler (siehe im Brief an Karl

Friedrich Zelter aus dem Jahre 1832 auf Seite 12) als vollwertiges Mitglied der

deutschen Gesellschaft anzuerkennen.

 

Bezieht sich der vom Martin Geck geäußerte diesbezüglich erhobene Zweifel nicht

vielmehr auf geistvoller als Chauvinistisch zu Werke gehende Kritiker wie Heinrich

Heine oder Hans Mayer?, Die Mendelsohn ja seinen erklärten und gelebten

Protestantismus einfach nicht abkauften?

 

Letztendlich muss jeder einzelne die Frage nach der deutschen Identität selber

beantworten – aber wenn man nun wie Martin Geck zu einer negierenden Auffassung in

dieser Frage gelangte, und man diese Auffassung auch noch publiziert, darf man sich

über Kritik, Bezweifelung und Verwunderung nicht beschweren.

 

Bleibt noch die Nachfrage, ob es Mendelssohn an einer Totalität des Komponierens, an

geschärftem kompositorischen Ausdruck, also an kompositorischen Profil mangelte?

 

170

 

 


 

Ob er genauso ego-autonom im Komponieren veranlagt war, wie die genannten

Kollegen? Ob es überhaupt einen Sinn macht, bekannten und beliebten Komponisten

und Künstlern eine jeweils „narzistische Ich-Bezogenheit“ anzukreiden. Es muss in der

Beantwortung all dieser Thesenstellungen einmal mehr im Sinne des hochverehrten,

leider bereits verstorbenen Wulf Konold energisch darauf hingewiesen werden, dass

das allfällige Gerede über Fragestellungen, wie jener nach einer „narzisstischen Ich-

Bezogenheit“ von Komponisten nicht wirklich weiterbringt. Dass es letztendlich nicht

viel zum Ziel, sich einen Bekannten oder vergessenen Komponisten bewusst zu

machen und vor Augen zu führten, beiträgt; dass es vielmehr im Sinne einer

Bewusstmachung eines verdienten Musikers liegt, denselben schliesslich und endlich so

reichhaltig wie möglich aufzuführen.

 

Immerhin bietet die Lektüre von Gecks Buch eine schöne Möglichkeit, sich einmal

wieder statistisch Mendelssohns Stellung Im Musikbetrieb des Jahres 2000, als das

1993 in einer Erstfassung erschiene Buch wieder aufgelegt wurde, plastisch vor Augen

zu führen. Im Anhang findet sich ein Werkregister, das alle in dem Textkörper

behandelten Kompositionen auflistet. Schauen wir uns einmal den Sachstand von

Komponisten an, welche alle im 19. Jahrhundert gelebt und komponiert haben

 

Brahms bringt es auf 33 Werkauflistungen, von Schumann werden gar 42 Werke im

Text behandelt, gleichfalls 42 Werke Schuberts werden besprochen, Beethoven erringt

die Krone mit 63 genannten Werken. Schauen wir uns nunmehr an, wie viele Werke

Mendelssohns im Register Erwähnung finden. Sage und Schreibe nur 6 Stück: das

„Streichquartett f-moll op. 80“, das „Klaviertrio d-moll op. 49“, die „Lieder ohne Worte“,

Die Oratorien "Paulus" und "Elias" und zuletzt schliesslich der berühmte „Gruss, Lied op.

19“. Also nicht gerade eine repräsentative Übersicht über Mendelssohns Schaffen. Die

Symphonik kommt augenfällig zu kurz angesichts der mehrheitlich genannten

Kammermusikwerke, es fehlen beispielsweise die „Schottische“ und die „Italienische“

Symphony zuzüglich die „Sommernachtstraum“-Ouvertüre und das „Violinkonzert“ als

absolutes Kern-Schaffen von Mendelssohn Oeuvre.

 

Noch mit einem weiteren Werk wendet sich Martin Geck dem Leben und Wirken Felix

Mendelssohns zu. Er verfasste die farbig illustrierte Neuausgabe des Felix Mendelssohn

-Beitrags zur bekannten und beliebten Reihe der rororo-Bildmonographien, welche im

Jahre 2009 das im Jahre 1974 erschienene, noch schwarz-weiss-illustrierte

Vorgängerexemplar von Hans Christoph Worbs ablöste.

 

Wie in der Vorgängerschrift „Von Beethoven bis Mahler“ verheddert sich Geck sogleich

in der Mendelsohn-Falle subtil-latenter Zurücksetzung von Mendelssohns Ansehen

durch deutsche Publizisten. Geck hinterlässt dabei wiederum etliche Stolpersteine

fragwürdiger, zum innehalten und nachdenken verleitender Ansichten und

Suggestionen. Es würde den Rahmen der vorliegenden Schrift erheblich sprengen, alle

diese im Text verteilten Merk.-und Denkwürdigkeiten aufzulisten und zu kommentieren,

aber die schönste, weitestausgreifende, effektivste Stilblüte soll Ihnen nicht vorenthalten

werden. Im Kapitel „zwischen Leipzig und Berlin 1841-1844“ äußert sich Geck in

despektierlichem, herablassenden Ton über Mendelssohns grandiose „Schottische“-

Symphony.

 

Es ist da von „einiger Mühe“ welche „dem Komponisten innerhalb „einer weit über

dreißig Minuten dauernden, nach klassizistischem Vorbild geschaffenen Sinfonie“

angeblich bereitet war, die Rede. Von einer „kleinen, etwa zeitgleich mit Wagners

„Fliegendem Holländer“ komponierte Sturmszene“ sowie von einem „kleinen Hymnus“.

 

171

 

 


 

Dann kommt Geck zügig zur Sache: „Jedoch tut man Mendelssohn Bartholdys Sinfonien

kaum unrecht, wen man sie einem Mittelgebirge zurechnet, das sich zwischen den

Gipfelpaaren Beethoven/ Schubert auf der einen und Brahms/ Bruckner auf der anderen

Seite der Zeitachse des 19. Jahrhunderts abzeichnet“.

 

Noch plastischerer, anschaulicher lässt sich eine Mendelssohn Erniedrigung unserer

Tage kaum darstellen. „Das Gerede vom Templower Hügel bei Berlin, welchen Heinrich

Heine als Maßstab von Mendelssohns „Paulus" dem Apenninen von Rossinis "Stabat

Mater" entgegensetzt hat, kommt einem dabei in den Sinn. Das Ziel, Mendelssohn in

unseren Tagen wieder in den Rang zu erheben, welcher ihm von hause aus als

wahrhaft grossen und bedeutenden Komponisten des 19. Jahrhunderts gebührt, ist

somit unerreichbar. Eine vergebliche Liebesmüh, eine Sysiphusarbeit, solange

namhafte Publizisten wie Geck Mendelssohn in Stumpf und Stiel niederschreiben,

solange derartige demagogischer Unfug wie jener vom „Mittelgebirge der

Mendelsohnschen Symphonik das Publikum ungehindert, ungefiltert, quasi eins zu eins

erreichen kann.

 

Es ist richtig, dass Mendelssohn Symphonik sehr unterschiedlich ausgefallen ist, dass

sich die Werke in hohem Maße stilistisch voneinander unterscheiden. Der klassizistisch

ausgestalteten, orchestral ausgewogenen einhergehenden Jugendsymphony Nr. 1 folgt

eine symphonische Kantate, der „Lobgesang“ welche einen Weg weist zu den schönen,

von Mendelssohn geschriebenen Psalmvertonungen. Es folgt die 3. Symphony, die

„Schottische“, welche klassisch romantisch erscheinend, gleichberechtigt, eine

Verbindung schafft von Beethoven in der Vergangenheit und Brahms in der Zukunft.

Von kammermusikalisch-feinsinniger, hell-erstrahlender Tonsprache geprägt erscheint

uns die 4., die“ „italienische“ Symphony und von „Sturm und Drang“ beseelt ist die

Fünfte als protestantisch durchdrungene Bekenntnismusik. Die unterschiedliche

Vorgehensweise indes lässt vermuten, dass Mendelssohn auf der Suche nach einer

eigenen -symphonischen Tonsprache und Form war und sich in verschiedenen

Stilistiken und thematischen Sujets ausprobierte. Wie die Lektüre eines Otto-Klemperer-

Konzertmitschnitts vom Mai 1969 mit dem Symhonyorchester des Bairischen Rundfunks

im Münchner Herkulessaal aufgenommen, belegt, zeigt die klassisch romantisch

gewichtete „Schottische“ Symphony zumindest Mendelssohn auf der Höhe der

Tonsprache Beethovens, Brahms oder Schuberts. Wie so manches Mal in der Kunst

oder in der Musik fällig, lässt sich nur erahnen was die unmittelbare Zukunft uns noch ,

von der klassisch -romantisch geformten Tonsprache der „Schottischen“ und der fahlen

expressionistischen Zerrissenheit des Streichquartettes op. 80 als Zeugen eines sich

anbahnenden entwickelnden Spätstiles ausgehend betrachtet, an symphonischen

Meisterwerken geschenkt hätte, wenn Mendelssohn nicht mit 38 Jahren gestorben

wäre.

 

Eine letzte Stilblüte, welche uns das führende deutsche Klassikmagazin Fonoforum

zulieferte, sei Ihnen am Schluss noch mit auf den Weg gegeben. In der April-Ausgabe

des Jahres 2012 ist, anlässlich der Rezension einer Tschaikowsky und Mendelssohn

gewidmeten CD-Veröffentlichung des jungen taiwanesischen Geigers Ray Chen, in

lockerer Schreibe anmerkenswertes und belehrendes des Rezensenten Christoph

Vratz zu lesen.

 

Der erste Satz seiner Rezension beginnt gleich mit einem flapsig-stilistischen

Donnerschlag: „Eine Geiger-Karriere, wie gelackt“. Nach dem somit bereits beredt der

Tonfall der Rezension vorgegeben ist, gibt Vratz dem jungen Virtuosen vor allem den

Rat, die Karriere etwas langsamer, umsichtiger anzugehen.

 

172

 

 


 

Dennoch ist Vratz auch voll des Lobes über die bereits ereichte Könnerschaft Chens. Es

heisst also: „Chen kann berauschen, glänzen, faszinieren, staunen machen. Wie leicht

und souverän er alles aus Kopf, Hand und Arm schleudert, etwa in der Kadenz des

Tschaikowski-Konzertes“.

 

Und dann gerät Vratz in die sattsam vertraute, eingedenk der zahlreichen Vorgänger

bereits ziemlich ausgetretene Mendelssohn Falle. In rasantem, beredten Tonfall kommt

er, quasi über Eck, angebraust: „Wie sicher er die Zuckertöpfe bei Mendelsohn umfährt,

um Klebrigkeiten zu vermeiden“. Bumms. Da liegt er...Verheddert sich in der

Mendelssohn-Falle, strauchelt und schlägt der Länge nach hin. Also: Felix....;

Mendelssohn..............Bartholdy?..........................

 

Der Rest ist Schweigen.

 

Copyright:

Rainer Hauptmann/ Die Cavallerotti -das

KulturNetzWerk e. V.

1997/2012

 

 

www.cavallerotti.de

 

 

173

 

 


 

 

 

6313 Besuche seit 1. September 2016